Delphi, Berlin Location Bild & Clip weiter zurück
MOTZSTRASSE
In Schöneberg, an der Motzstrasse, wohnt
Teddy Stauffer in den 1930ern. Hier tragen sie
Tamara, seine Geliebte, aus der Wohnung.
Sie hat sich umgebracht. Sie hat zuvor einen
SS-Offizier erschossen.
Fritz Hirzel, Delphi, Berlin.Teddy Stauffer 1936–1939.
282 Seiten, bebildert. Kaleidoskop. Paperback.
Zürich 2001.
Noch ist olympischer Sommer, noch ist August 1936.
Im Delphi treten die Original Teddies auf. Teddy Stauffer sieht,
wie die Menge tobt. Er hat eine Platte fertig, seine erste.
Goody Goody, auf der Rückseite
Alone.
Er gibt Billy Toffel das Zeichen zum Einsatz:
„...I’m not alone as long
As I find you in every dream...“
Hat Teddy Stauffer, was er gewollt hat im Leben?
Ist er nicht betrunken vor Glück, ein Überflieger,
oben, hoch oben? Schwindelt ihm, wenn er die Fallhöhe sieht?
Muss das Herz ihm nicht zerreissen, sobald er an die
Motzstrasse denkt? Sie haben sie aus der Wohnung getragen.
Tamara, seine Geliebte. Erschossen. Ein SS-Offizier
soll bei ihr gewesen sein. Das ist erst ein paar Monate her.
Paul Stenzel hat Teddy Stauffer einen Brief geschrieben:
„Tamara lebt nicht mehr. Seit der Schliessung
des Anti wurde sie ständig verfolgt und bewacht von einem
SS-Offizier und dessen Adjudanten. Der Offizier verliebte
sich in Tamara. Als er aber sah, dass mit ihr nichts zu machen
war, versuchte er es mit Gewalt.“
„Eines Nachts hörte die Hausmeistersfrau in Deiner
Wohnung vier Schüsse. Ein paar SS-Leute rannten die Treppe
hinauf und schlugen die Tür ein. Sie fanden den SS-Offizier
von drei Schüssen getroffen tot auf dem Boden. Tamara muss
ihm die Waffe entwendet und ihn erschossen haben. Den
vierten Schuss hat sie gegen sich abgefeuert, in die Schläfe.“
24jährig.
Tamara Todorovna, 1912-1936.
Geboren in Petrograd, gestorben in Berlin.
Vater Russe, Mutter deutsche Jüdin.
Teddy Stauffer (in Es war und ist ein herrliches
Leben, Berlin 1968) erinnert sich:
„In Berlin fuhr ich direkt zu unserer früheren Wohnung.
Die Hausmeistersfrau zog mich gleich in ihren Kellerraum und
zeigte mit dem Finger durch das dicht über der Strasse
liegende Fenster auf einen Mann.“
„,Sehen Sie den Mann auf der anderen Strassenseite?
Seit dem Unglück wird das Haus Tag und Nacht bewacht, und
jeder, der nach Tamara fragt, wird verhaftet! Bleiben Sie
hier, bis es dunkel ist, dann lasse ich Sie zur Hintertüre raus.´“
Tamara Todorovna hat selbst noch einen Brief
geschrieben. Er erreicht Teddy Stauffer, der mit elf Teddies
als Bordkapelle auf dem Luxusliner S. S. Reliance
angeheuert hat, in New York:
„Ted,
ob Du diesen Brief je erhälst, ist ungewiss. Ich bin
sicher, dass man meine Briefe zensiert. Sonst ist man nicht
gerade übermässig freundlich zu mir, aber wenigstens
zurückhaltend.“
„Hier hat sich vieles verändert.
Das Anti haben sie geschlossen. Vorher haben
organisierte Rabauken alles zusammengeschlagen. Man macht
das alles mit System. Sie können glatt sagen, sie hätten
es zum Schutz der Künstler schliessen müssen. Aber ein paar
haben sie verhaftet. Auch zu ihrem Schutz? S. ist
entkommen, wenigstens aus Berlin. Er will in die Schweiz.“
„Was sie gegen ihn haben? Sein neuester Film ist
eine versteckte, aber unübersehbare Parodie auf Mussolini
und Hitler. Bei der Aufführung im Gloria-Palast war die
halbe Reichsregierung dabei. Die Berliner lachen heute noch.
Aber die Herren von der Regierung haben finstere
Gesichter gemacht und den Film beschlagnahmen lassen.
Daraufhin hat S. ein paar Sachen zusammengepackt
und ist verschwunden.“
„Im Anti ging es mit den Göring-Witzen los. Ein
Riesenerfolg, kann ich Dir sagen. Zuviel Erfolg. Eines Nachts
haben sie dann aufgeräumt. Es war ein junger SS-Offizier
dabei. Er hat sich in mich verliebt und mir sogar einen
Heiratsantrag gemacht. Stell Dir vor, der wüsste, wer ich bin?
Ich gehe ihm jetzt aus dem Weg.“
„Berlin ist fast ununterbrochen ein Fahnenmeer.
Sie feiern dauernd etwas anderes. Überall Hakenkreuze.
Morgens, mittags und abends Horst-Wessel-Lied.
Heil! Heil! Heil! Die Bilder des Führers überall. Er ist populärer
als Charlie Chaplin. Nur leider nicht annähernd so gut.“
„Das Leben ohne Dich ist elend.
Mach Dir keine Gedanken um mich. Nach der Arbeit
im Anti kann ich zwar nirgends Theater spielen,
an den Rundfunk überhaupt nicht zu denken. Wir sind alle auf
der schwarzen Liste. Aber ich arbeite als Fotomodell.
Es gibt ja eine Menge Leute unter den Fotographen, die
dagegen sind.“
„Sei nicht traurig, Ted. Ich liebe Dich. Ich brauche Dich.
Dich und unsere Zukunft. Komme bald zurück.
Für immer Deine Tamara.“
Als Teddy Stauffer sie kennenlernt, schreibt er eine
Ballade. Tamara Todorovna trägt sie „mit ihrer tiefen,
melancholischen, samtweichen und faszinierenden Stimme“
auf der Bühne vor. Die Ballade der Schaufensterpuppe
120b im KaDeWe, die um Mitternacht vom Dekorateur neu
bekleidet wird.
„Mein Liebster ist Dekorateur und macht die Runde.
Erst fällt der Vorhang, trennt mich von der Strasse, dann fällt
mein Kleid. Des Liebsten Haar berührt nur meine Nase.
Ich liebe ihn und kann’s nicht sagen. Ich bin ja nur die Nummer
120b im KaDeWe. Er liebt mich auch. Ich spüre seine
Hände und den Samt des neuen Kleides. Er macht mich
schön. Für wen?“
Die Spiele sind beendet.
(Teddy Stauffers Memoiren, Es war und ist ein herrliches
Leben, hat Fritz Langour verfasst, der verschiedenste
Bücher veröffentlicht, unter anderem auch einen Titel wie Naturheilkunde – Langour ist kein Swing-Fan, er ist
ein Hitlerjunge gewesen, bei der Reichspogromnacht 1938
ist er elfjährig.)
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