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KAPITEL XX



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Im ersten Stock, in ihrer Wohnung oben die alte Frau. Es war

zu deprimierend. Bob brachte das Bild nicht aus dem Sinn.

Helen. Sie hatte am Fenster gesessen. Sie hatte hinausgeschaut,

endlos scheinbar, als hätte sie nichts anderes mehr zu tun.

      Bob stand bei Helen am Fenster, wie festgenagelt.

Er wusste nicht. was er noch sagen konnte. Es hatte zu regnen

begonnen. Und empfindlich kälter war es auch geworden.

Zu kalt für diese Jahreszeit. Bob rieb den Oberarm und trat von

einem Fuss auf den anderen.

      War der Sommer schon vorbei?

      Bob sagte: „Es regnet.”

      „Was?” Helens Stimme war fast tonlos.

      „Es regnet.”

      „Ja und?” Helen rührte sich nicht. Sie sah Bob nicht an.

      „Es regnet seit zwei Stunden.”

      „Und? Soll es das nicht?”

      Bob blieb am Fenster stehen. Betrübt. Er schwieg.

Er sah hinab auf die Neufrankengasse. Rauschend im Lärm

die Autos auf der nassen Fahrbahn. Etwas war anders,

glaubte Bob. Er wusste nicht was. Die Tierhandlung gegenüber

hatte liquidiert. Der Laden war leer. Über das

Schaufensterglas war noch immer mit Farbe geschrieben:

Wir räumen, aber jemand hatte – ebenfalls in Weiss,

aber von aussen – einen Buchstaben hinzugefügt: Wir träumen.

Bob sagte:

      „Es ist kalt.”

      Unten auf der Strasse kam ein Kranfahrzeug näher,

das Blinklicht kreisend. Ein Schulbub hastete vorbei. Es ist Zeit

zu gehen. Bob wusste, er konnte nicht. Er hatte Helen gefragt:

      „Warum hast du das Grütli zugemacht?”

      Helen hatte nur einfach geschwiegen.

      „Ist es wegen Zimmerli? Weil ich die Vergangenheit

ausgegraben habe? Ist das der Grund?”

      „Nein”, hatte Helen gesagt.

      „Hat es mit mir zu tun?”

      Helen hatte den Kopf geschüttelt. Sie hatte lange

geschwiegen. Dann hatte sie gesagt:

      „Du glaubst, die Welt dreht sich um dich.”

      „Ich? Warum?”

      „Wenn ich sage, es hat nichts mit dir zu tun.”

      Eine Täuschung mehr. „Also gut”, hatte Bob gesagt.

„Dann eben nicht. Ich finde es einfach nicht gut.”

      Ein verbittertes Lachen. „Gut.”

      „Wieso wirtest du nicht?”

      Helen hob den Kopf. „Sie reissen das Grütli ab. Sie haben

die Abbruchbewilligung bekommen.”

      „Nein –”

      „Das ist die Bestrafung.”

      „Ich glaube, ich verstehe nicht.”

      „Ich habe Hermi umgebracht.”

      „Das hast du nicht.”

      „Doch.”

      Bob war schockiert. Er kratzte an der rechten Hand.

Eine Narbe hatte sich über der Wunde gebildet.

      „Nein. Engeler hat’s getan.”

      „Der sich erhängt hat in der Zelle?”

      Das weiss Helen also auch schon. Bob hielt die Arme

verschränkt. Polizei-Detektiv Schubiger! Er hatte es Bob gesagt.

„Sieht aus wie ein Geständnis”, hatte Schubiger gesagt.

„Obwohl – so genau weiss man das in solchen Fällen nie...” In

U-Haft erhängt. Bob streckte den Rücken. Fürchterlich.

Er sagte:

      „Es war Engeler. Er hat Zimmerli umgebracht.”

      Helen schüttelte den Kopf. „Ich wollte nicht, dass Hermi

noch einmal ins Grütli kommt.”

      „Aber Helen –”

      „Das hat ihn umgebracht.”

      Helen riss die Hände vor das Gesicht. Sie schluchzte.

Sie brach in Tränen aus. Ihr Körper schüttelte sich. Es ist nicht

nur, dass ich Helen gekränkt habe, dachte Bob. Sie ist

mit Zimmerli nicht fertiggeworden. Wer wäre das schon? Er legte

Helen die Hand auf die Schulter.

      Helen beruhigte sich langsam.

      „Es war nicht recht.” Sie lachte plötzlich und wischte

die Tränen ab. Bob hatte die Hand von ihrer Schulter genommen.

Er sagte:

      „Ich bin zu hart gewesen.”

      Helen hielt das Taschentuch in der Hand. „Iris und ich –.”

Sie schnupfte, aber ihr Blick war irgendwie gefasst. „– wir haben

gemeint, wir tun es für dich. Du solltest nie erfahren, dass

Hermi dein Vater ist.”

      „Ich hab alles getan, um es zu erfahren.”

      „Und? Schämst du dich unsretwegen?”

      „Nein.”

      „Aber ich”, sagte Helen scharf. „Iris hat recht gehabt. Sie

hat dich herausgeholt und ist gegangen. Soviel Negatives, wie wir

haben erleben müssen. Und die letzten Tage –”

      „Ich kann damit leben, Helen. Du auch.”

      „Warum hast du zurückkommen müssen?”

      „Darum. Gerade darum, glaube ich.”

      „Weil Iris dich herausgeholt hat?”

      „Ja.”

      „Eines Tages verstehe ich das vielleicht.”

      Noch immer der Regen. Es hatte nicht aufgehellt. Bob

stand nachdenklich am Fenster. Das Kranfahrzeug war am anderen

Ende beim Engpass angelangt, wo die Neufrankengasse

direkt bei den Geleisen eine scharfe Biegung machte. Eine stehende

brummende Autokolonne hatte sich gebildet. Am Eckhaus

rotierte der Widerschein des Blinklichts über die alte Fassade.

      „Ich bin an Hermis Tod nicht schuld, sagst du?” fragte

Helen scheu, fast ängstlich, die Hände in ihrem Schoss. Sie hatte

sich an den Stubentisch gesetzt.

      „Möglich, dass alles genauso gelaufen wäre, auch wenn

du ihn nicht hinausgestellt hättest.”

      „Dabei hatte Herrni so grosse Pläne.”

      „Er hat im Abbruchhaus übernachtet. Er hat keine Adresse

mehr gehabt.”

      „Ich habe versagt.”

      „Er ist gescheitert. Das ist nicht dasselbe. Er ist seinen Weg

gegangen. Bis zuletzt. Er hat sich von dir getrennt.”

      Helen blickte ins Leere. „Ich weiss nicht.”

      „Du hast ihn geliebt.”

      „Nein, mit Hermi – ich habe es versucht. Es war unmöglich,

von Anfang an. Ich bin mit ihm nie fertiggeworden.”

      „Mein Vater –” Bob musste lächeln. Vater. Er hatte das

Wort nie ausgesprochen. Nicht im Zusammenhang mit Zimmerli.

„– ich kenne ihn schlecht, aber ich glaube: Er ist zuletzt –

er ist bis zu seiner Grenze gegangen.”

      Helen schüttelte den Kopf. „Hermi hat sein Leben lang nichts

anderes gemacht.”

      „Zuerst hab ich gedacht, ich bin wie er.”

      „Du?”

      „Ich hab ihn bei dir im Grütli erlebt, verstört, im

Überschwang, beides zugleich. Er war völlig von sich eingenommen,

dabei so verwundbar.”

      Helen hielt das Taschentuch unter die Nase. „Ich habe

immer gewusst, eines Tages kommt Hermi zurück. Ich glaube,

ich habe nur deshalb weitergewirtet.”

      „Aber er ist doch gekommen –”

      Helens Mund formte sich zu einem Lächeln. „Ja, aber kaum

war er hier, hab ich ihn weggeschickt.”


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