Komplize Leserbrief Roman lesen weiter zurück
KAPITEL XiX
Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen
unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,
Zürich 1988.
Das Fenster stand halboffen, der Lärm der Bauarbeiten
oberhalb der Strasse war verstummt. Das Radio
brachte Mittagsnachrichten. In der Bundesrepublik Deutschland
hatten die Amerikaner mit der Stationierung der
Pershing-II-Raketen begonnen, sagte der Sprecher. Mit einem
dreitägigen Sitzstreik vor den Toren des amerikanischen Militärstützpunktes Mutlangen bei Schwäbisch-Gmünd wollten
Mitglieder der Friedensbewegung –
Flühmann stellte ab. Er starrte auf die Foto, die am
Morgen mit der Post gekommen war. Jeff hat sie schicken lassen.
Sie kommt gerade zur rechten Zeit, dachte Flühmann. Er
stiess die Luft aus. Er hielt eine Lupe in der Hand.
Unbestreitbar, dachte Flühmann. Das ist der Kerl. Auf der
Foto war er nicht einmal ohne Charme. Nur dass er hier
noch jünger aussah. Das ernste rundliche Gesicht, die kleinen
scheuen Augen. Links im Haar eine Scheitel, der Blick
eher vorsichtig.
Flühmann spürte ein Würgen im Hals.
Fabio hatte angerufen. Fabio Rezzonico, der gegenüber
der reformierten Kirche einen Laden betrieb. Er
hätte einen Interessenten für die Ikone, hatte Fabio gesagt.
Falls Flühmann sie noch immer verkaufen wollte –
Die Ikone? überlegte Flühmann. Er hatte im Augenblick
andere Sorgen. Und doch, er wollte Fabio nicht enttäuschen. Er
erinnerte sich. Es war ein paar Monate her. Er hatte bei
Fabio ein Glas getrunken. Sie hatten über die Ikone gesprochen.
Fabio war Tessiner. Er restaurierte und handelte
mit Antiquitäten und besuchte auf dem Bürkliplatz regelmässig
den Flohmarkt. Er war mit Astrid verheiratet, einer
wirklich lustigen, bemerkenswerten Frau, die als Sekretärin
auf dem Österreichischen Konsulat arbeitete. Vor zwei
Jahren hatte Fabio sich selbstständig gemacht. Kurz nachdem
er an der Dorfstrasse oben seinen Laden eröffnet hatte,
war Vilma in den Besitz der antiken Nussbaum-Schreibkommode gekommen und hatte sie Fabio zum Restaurieren gegeben.
Es war Viertel vor zwölf geworden, als Flühmann
die Ikone endlich hingebracht hatte. Er wollte die Dorfstrasse zurückgehen, er hatte vor dem Laden nicht parkieren
können. Und da, wenige Schritte vor ihm, hatte er gestanden –
Palmieri, eine Cigarette in der Hand! Das heisst Palmieris
Bruder natürlich, aber was ändert das? Er war hier, ganz in der
Nähe. Ist das nicht verrückt?
Du bist dem Mafioso voll ins Messer gelaufen,
dachte Flühmann.
Es war ein kräftiger jüngerer Bursche, den Palmieri bei
sich hatte. Ein Killer? Ein Chauffeur? Sie waren aus
der Wirtshaustür gekommen und hatten plötzlich vor Flühmann
gestanden, oben beim Schlossgarten, der Ristorante
Castello hiess, seit er umgebaut worden war. Palmieri war
stehen geblieben, irritiert, keinerlei Regung im Gesicht.
Er hatte Flühmann nur einfach angesehen.
Du kannst jetzt nicht zum Wagen gehen, überlegte
Flühmann. Das ist unmöglich. Er hatte drüben parkiert, hinter
der Gartenterrasse, auf den öffentlichen Parkplätzen.
Palmieris Begleiter stocherte in den Zähnen.
Flühmann tat, als hätte er etwas vergessen. Er fuhr mit
der Hand durch das Haar, blickte hastig auf die Uhr und kehrte um.
Was hätte ich sonst tun sollen? Erst jetzt, als Flühmann
den Weg zurücklief, entdeckte er – nicht auf den Parkplätzen
des Castello, sondern gegenüber, wo die Wagen der
Schlossberg-Garage abgestellt waren – einen hellgelben
Citroen CX.
Nein, dachte Flühmann. Zu Fabio kannst du nicht zurück.
Das ist zu heiss. Er ging jetzt langsamer. Er erreichte
die Nidelbadstrasse und überquerte sie ohne zurückzuschauen.
Es ist lächerlich, dachte er. Ein Brunnen, der leise
plätscherte. Treppenstufen. Die reformierte Kirche. Orgelmusik.
Flühmann war noch nie hier gewesen. Das Eingangsportal
schien geschlossen.
Und wenn die zwei mir folgen?
Flühmann atmete heftig. Er trat in die Galerie mit den
Säulen. Er gelangte in einen kleinen Park, der zur
Friedhofskapelle führte. Du hast dich bemüht, nicht fluchtartig wegzulaufen, aber eben nur bemüht.
Ausgerechnet auf dem Friedhof musst du landen, dachte
Flühmann. Im Eingang zur Kapelle blieb er stehen.
Hoffentlich sieht dich niemand aus dem Dorf. Er blickte zurück.
Die zwei Mafiosi waren ihm offenbar nicht gefolgt.
Du bist noch nie hier gewesen, dachte Flühmann.
Der Kirchturm mit der Wetterfahne. Eher schäbig eigentlich.
Das Ziegeldach. Der Kamin. Die Orgelmusik hatte
aufgehört. Flühmann klebte das Hemd. Eine Sekunde lang
hatte er tatsächlich geglaubt, er sehe Palmieri.
Warum das? Warum? Der verdammte Bruder sah Palmieri
weiss Gott nicht ähnlich. Flühmann versuchte, die
Inschrift an der Wand zu lesen. Wir Toten, wir Toten sind
grössere Heere als ihr auf der Erde, als ihr auf dem
Meere. Tote auferstehen nicht, dachte Flühmann. Er las nicht
weiter. Von C. F. Meyer soll die Inschrift sein?
Der Friedhof. Die Reihen der Grabsteine. Es war eher
klein hier, aber der Ort hatte Weite. Das Land war unverbaut.
Man sah die Albiskette. Wiesen und Wälder. Vom
Kirchturm schlug die Uhr. Zwölf Uhr Mittag. Es war sehr still.
Was machst du hier? fragte sich Flühmann. Nicht
einmal ein Gärtner war mehr hier. Flühmann wandte sich zum
Ausgang. Er war vor Palmieri davongelaufen, verrückt,
wie von Sinnen. Er atmete tief aus und kehrte zum Parkplatz
zurück, ein Gefühl seltsamer Sensation verspürend, als
er mit den Augen die Wagen der Schlossberg-Garage absuchte.
Sie waren weg.
Flühmann erreichte seinen BMW. Kopfschüttelnd stieg
er ein und fuhr los, nachdem er zuerst einen Blick unter
das Chassis geworfen hatte. Er blickte angestrengt auf die Häuser
entlang der Strasse. Wo die Mafiosi jetzt wohl sind,
dachte Flühmann. Im Bogen unter dem Schulpavillon, beim
Tennisplatz der American International School of Zurich,
musste er wenden. Unvorstellbar. Er hatte sich verfahren. In
Kilchberg verfahren!
Das Telefon läutete.
Palmieri? Der Kerl, den er mitgebracht hatte? Flühmann
hörte, wie Vilma an den Apparat ging. Zwei Mafiosi in Kilchberg,
dachte Flühmann. Und wenn sie das sind?
Flühmann erschrak. Er nahm rasch die Foto und legte
sie mit der Lupe zusammen in die unterste Schublade. Ein Anruf
für Vilma? Flühmann verschloss sein Schreibpult. Jeff?
Detektiv-Wachtmeister Keller von der Kantonspolizei? Flühmann
war aufgestanden. Leise trat er in den Gang hinaus.
Keller war gestern Nachmittag hier gewesen. Er hatte eine
Stunde lang mit Vilma gesprochen.
Flühmann horchte.
Vilmas Stimme im Vestibül, dachte er. Sie tönt recht
vergnügt. Ein Anruf für sie. Jedenfalls war es jemand Vertrauter,
mit dem Vilma sprach. Wieso sollte Palmieri auch anrufen?
Flühmann sah auf die Uhr. Halb eins vorbei. Ob Bob
in seinem Zimmer ist? Flühmann hatte plötzlich Lust mit ihm
zu reden. Eigentlich war er ganz froh, Bob hier zu haben.
Es gab gewisse Dinge, die Flühmann nur ihm sagen konnte.
Dass Palmieris Bruder hier war, hier in Kilchberg,
nicht mehr nur als „Mr. Bonato aus New York” im Hotel Zürich
abgestiegen. Nur einer konnte verstehen, was das
bedeutete. Bob. Flühmann zögerte.
„Zwei Mafiosi?” Bob hatte gelacht.
„Was hältst du davon?”
„I don’t know.” Bob hatte sein Manuskript beiseite
geschoben, um die Füsse auf die Schreibkommode zu legen. „Entweder du spinnst. Oder wir hören bald eine
Zeitbombe ticken.”
„Einmal angenommen, es stimmt – was haben sie vor?
Sie observieren das Haus. Sollen wir ausziehen?” Bob kratzte
sich im Haar. Er schien nicht besonders beunruhigt.
„Damit sie uns niedermachen, wenn wir – nein, nein.”
„Sie observieren das Haus. Wozu?”
„Sie sind am Ende der Spur.”
„Wozu das Haus? Was wollen sie?”
„Die Bewohner”, hatte Bob mit ruhiger Stimme gesagt.
Flühmann kannte ihn gar nicht so. Bob nahm die Füsse von der
Schreibkommode. „Gut, dass ich noch nicht abgeflogen bin.”
„Meinst du, sie machen uns fertig?”
Bob hatte die Schultern gezuckt. „Wir sie. Oder sie uns.”
Bob war ganz ruhig geblieben, erinnerte sich Flühmann. Er
hatte keine Angst gezeigt. Flühmann klopfte an, aber
es reagierte niemand. Hatte Bob nicht gesagt, er wolle heute
hier bleiben?
Flühmann öffnete zögernd die Tür.
Das Zimmer war leer. Alles sah aus, als hätte Bob
zusammengepackt. Und sein Manuskript? Es war von der Schreibkommode verschwunden. Bob hatte das Bett
abgezogen. Die Leintücher hingen über der Stuhllehne, sorgfältig
zusammengelegt. Der Schlafsack, noch halb verdreckt,
lag vor dem Kleiderschrank. Neben der Reisetasche waren
persönliche Sachen aufgeschichtet. Turnschuhe. Die
blaue Windjacke. Ein halbes Dutzend Taschenbücher, H. D.
Thoreaus Walden obenauf. Es sieht nach Aufbruch aus.
Ein geordneter Rückzug. Flühmann schloss die Tür. Er ging die
Treppe hinab. Vilma war noch immer am Telefon. „Nein!
Ehrlich?”, sagte sie. Ihre Stimme hatte etwas Triumphierendes.
„Und dann – Hast du ihm –?”
Flühman blieb stehen. Ob Bob in der Stadt ist? Oder
draussen im Garten? Flühmann trat ins Vestibül, berührte Vilmas
Schulter und nahm die Neue Zürcher Zeitung mit, die
auf der Eichentruhe lag. Vilma hielt den Hörer am Ohr. Sie
drückte Flühmanns Arm. Sie wirkt vergnügt, dachte
Flühmann. Vilma wippte mit dem Fuss. Sie lächelte. Es besteht
kein Anlass zur Panik, sagte sich Flühmann. Er hatte
sich ins Wohnzimmer gesetzt. Sie stehen zwar draussen, aber –
Flühmann hatte sich zurückgelehnt. Er blickte vom Sofa
auf. Ist es denn klar, was die Mafiosi wollen?
Im Vestibül lachte Vilma. „Du, ich find es einfach mies, wie
er mich –”, sagte sie und brach ab. Es tönte irgendwie resigniert und
doch erregt. Vilma, verstummt, schien eine Weile zuzuhören.
„Das hast du ihm gesagt?”, rief sie plötzlich, angetan und doch erstaunt, unüberhörbar erfreut. Entschlossen sagte sie:
„Er ist ein arrogantes Schwein. Er meint, er kann uns um
den Finger wickeln, aber in diesem Fall hat er sich – Und
Jacqueline, sagst du –? Sie ist auch – einfach gegangen? Spitze!”
Flühmann hatte die Zeitung aufgeschlagen.
Auch die Neue Zürcher Zeitung war auf Palmieris Ende
nicht mehr zurückgekommen. Sie hatte am gleichen Tag wie der
Tages-Anzeiger eine Kurzmeldung gebracht. Was hätten
sie sonst auch schreiben wollen? Flühmann hatte bis zum Lokalteil
durchgeblättert, war schliesslich aber doch auf der Frontseite
hängen geblieben, beim Leitartikel. Mutlangen? Pershing II? Ein
gesundes Mass, was auch sonst, wurde den hysterischen
Deutschen entgegengehalten. Wenn nukleare Nachrüstungswaffen ganz und gar unannehmbar, ja des Teufels sind und den
Untergang Deutschlands und Europas in sich enthalten, wie eine
in Hitze geratene Rhetorik jetzt predigt –
„Annie ist zurück”, sagte Vilma lachelnd. Sie hatte aufgehängt.
Sie war ins Wohnzimmer getreten.
Flühmann sah auf. Er liess die Zeitung sinken.
„Annie? Ach ja?” Sie haben sich aber schnell wieder versöhnt,
dachte Flühmann.
„Wir gehen zu Pablo. Du weisst, der Galerist.”
„Der im Bahnhof Enge?”
„M–hm. Er gibt ein Fest heute.” Sie legte sich zu Flühmann
aufs Sofa, Kopf in seinen Schoss. Er streichelte ihr Haar.
„Schön. Dann geht die Geschichte also weiter.”
„Welche Geschichte?”, fragte Vilma.
„Eure Geschichte. Die von dir und Annie.”
„Alle Geschichten gehen weiter.”
„Nicht alle, Vilma. Manche sind irgendwann zuende.”
„Du meinst, wie die Geschichte von Palmieri?”
Flühmann zuckte die Schultern. „Weisst du, wo Bob
hingegangen ist?”
„Ich glaube, er hat Fabio die lkone gebracht.”
„Nein, das hab ich selbst getan.”
„Also das ist, was Bob mir gesagt hat. Max, ich glaube,
deine Gäste werden immer seltsamer. Wann will er zurückfliegen?”
„Morgen.”
„Und weisst du, wo er geschlafen hat letzte Nacht?”
„Bob?” fragte Flühmann. „Im Gästezimmer, nehm ich an.”
„Im Schlafsack hat er geschlafen. Unten am Teich.
Als ob er Nachtwache halten würde. Also so eine Pfadfinderei!
Braucht Bob das auch zum Schreiben?”
„Ich weiss nicht, was Bob zum Schreiben braucht, Liebling.”
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