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KAPITEL XVIII



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Halb elf Uhr nachts. Flühmann stand im halbhohen Gras.

Er wartete gespannt. Seine Schuhe waren nass geworden. Nur

vom Haus her fiel ein wenig Licht zwischen den Bäumen

hindurch. Nein, es war nicht der geeignete Zeitpunkt, hier unten

am Teich oder sonstwo im Garten etwas finden zu wollen.

Und das wusste natürlich auch Detektiv-Wachtmeister Keller,

der unschlüssig stehen geblieben war.

      „Hübsch”, sagte Keller. „Und still haben Sie’s hier.”

      Flühmann fröstelte leicht. „Ja.”

      „Ich bin mich das –” Keller rutschte aus. Er musste lachen.

Er hatte den Oberkörper und mehr noch sein Gesicht herabgebeugt

und zündete mit der Taschenlampe in den Schilf hinein.

      „Ich bin mich das nicht mehr gewohnt, wissen Sie.

Im Seefeld, wo wir wohnen, geht das Tag und Nacht. Das letzte

Tram, der Freierverkehr.”

      Im Wasser eine glucksende Bewegung, die aber sogleich

erstarb. Wo sind die Frösche? dachte Flühmann. Es hatte

mehrere am Teich gehabt. Ohne ihr Gequake war es wirklich

still hier unten.

      „Ja”, sagte Flühmann.

      Keller hielt den Lichtstrahl der Taschenlampe zum Wasser

hin. Er hatte sich aufgerichtet. Im Teich rührte sich nichts.

      „Das ist also der Biotop?”, fragte Keller skeptisch.

      „Ja”, sagte Flühmann. „Meine Frau hat ihn angelegt.”

      „Warum haben Sie umgepflanzt?”

      „Meine Frau –” Flühmann machte eine verlorene

Geste. „Ich konnte ihr das nicht antun. Sie kommt morgen aus

den Ferien zurück. Ziemlich scheusslich, wie das hier

ausgesehen hat.”

      „Sie meinen das mit der roten Farbe?”

      „Genau.”

      „Sie hätten Anzeige erstatten können –”

      „Wozu das! Vergessen wir’s...”

      „Ich weiss nicht.”

      „Es war ein dummer Studentenstreich.”

      „Haben Sie einen Verdacht?”

      „Ich glaube schon, aber wissen Sie – Erstens bin ich nicht

ganz sicher, und zweitens –”

      „Und zweitens –?”

      „Es würde die Sache nur verschlimmern.”

      „Können Sie mir einen Namen nennen?”

      Flühmann schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.”

      „Sie sagen, der Teich – Sie sagen, es hat scheusslich

ausgesehen. Und trotzdem – Sie wollen den Verdacht

nicht preisgeben.”

      „Ich bleibe dabei.”

      „Die Sache mit der Farbe, Herr Flühmann –”

      „Ja?” fragte er.

      „– was wäre, wenn das mit Mr. Palmieri zu tun hätte?

Sein Besuch bei Ihnen und die Farbe hier? Sie können sich das

nicht vorstellen?”

      „Wie meinen Sie das?”

      „Ich überlege nur –” Keller schwenkte die Taschenlampe.

Er liess ihren Strahl auf Flühmanns Schuhe fallen. „Mr. Palmieri

hat etwas von Ihnen gewollt. Er ist abgewiesen worden.”

      „Damit hat er rechnen müssen.”

      „Sie sagten, Sie haben Mr. Palmieri am Dienstag hier

empfangen. Und danach? Sie haben ihn nicht mehr gesehen?”

      „Nein.”

      „Es war doch am selben Dienstag, als der – der Biotop hier

verwüstet wurde?”

      „Ich weiss, wo Sie hinauswollen, aber –”

      „Das war also am Dienstag! Und am Mittwoch, als Mr.

Palmieri – Was haben Sie am Mittwoch gemacht, Herr Flühmann?”

      „Am Mittwoch?” Flühmann überlegte. Ruhig bleiben,

sagte er sich. Von einem Baum in der Nähe fiel etwas zu Boden.

„Ich war hier. Ich war den ganzen Vormittag hier, ja,

und dann, am Nachmittag, da war ich kurz weg. Im Tennisklub,

verstehen Sie – das Turnier! Da bin ich rasch hingefahren.”

      „Und abends?”

      „Ich war den ganzen Abend hier. Ich hab auf ein Telefon

gewartet, das nicht gekommen ist.”

      „Gegen 16 Uhr ist Mr. Palmieri zum letzten Mal gesehen

worden.”

      Da war er schon in der Kühltruhe, dachte Flühmann.

      „Und zwar im Hotel. Sie haben am Mittwoch nichts mehr mit

ihm zu tun gehabt?”

      „Nein.”

      „Er hat Ihnen gesagt, er will nach Campione, nicht wahr?”

      Sie gingen zum Haus zurück. Keller hatte die Taschenlampe

ausgemacht. Flühmann ging voraus. Licht kam von der

Terrasse her.

      „Ja”, sagte Flühmann. „Er hat extra einen Wagen gemietet,

hat er gesagt.”

      „Den Wagen haben sie nicht gesehen?”

      „Nein.”

      Keller stieg die Böschung hinan, vorbei an der Birke.

Sie kamen zur Terrasse.

      „Nach Ihnen”, sagte Flühmann, aber Keller liess ihn

vorangehen. Er lachte. Er sagte:

      „lch hab’s nicht pressant. Es ist sowieso spät geworden.”

      „Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen kann,

aber –” Flühmann klopfte sich die Schuhe ab. „– ich wüsste nicht,

warum ich ihn nochmals hätte treffen sollen. Wie gesagt,

ich will nichts Schlechtes über einen Toten sagen, ich kenne

den Mann wirklich nicht, nur so, auf den ersten Blick –”

      Sie hatten die Terrassentür nur angelehnt.

      „– naja, mir war er nicht besonders sympathisch”, fügte

Flühmann hinzu und trat ein.

      Im Wohnzimmer blieb Keller stehen. Er schwieg und

blickte das Bild über dem Sofa an. Oder er tat mindestens so.

      „Haben Sie von Bob Franey etwas gehört?», fragte Keller.

      Flühmann schloss die Haustüre auf. „Nein. Allerdings –

ich bin auch nicht mehr im Klub gewesen die letzten Tage.”

      „Dort ist er nicht”, sagte Keller. Er gab Flühmann die

Taschenlampe zurück. „Er hatte sich auf der Stadtpolizei gemeldet.

Hat angegeben, er wohnt bei seiner Tante, aber – seither

ist er verschwunden.”

      Im Vestibül läutete das Telefon.

      „Erwarten Sie einen Anruf?», fragte Flühmann.

      „Nicht, dass ich wüsste.”

      Wer ist das? Bob Franey? Flühmann nahm ab. „Ist

dort nicht Carrosserie Lüthy?» erkundigte sich eine Frau, leicht

beschwipst. Flühmann musste sie enttäuschen.

      Keller hatte unter der Haustür gewartet.

      „Also, wie gesagt –”, sagte Flühmann. Er sah, wie die

schwarze Katze quer über die Strasse lief. Er hatte sie im Garten

gesehen, gestern Nacht unter dem Holunderstrauch, zwei

leuchtende grüne Augen. Und dann, am Morgen, auf einer der

Steinplatten den Rumpf einer Maus gefunden. Hatte sie

den Kopf abgebissen und gefressen?

      „Ich werde mich melden, sobald ich von Bob Franey höre»,

sagte Flühmann.

      „Nichts für ungut –” Keller stand auf der Treppe. Er reichte

Flühmann die Hand.

      „Herr Keller, wenn ich etwas für Sie tun kann –”

      „Sie sagten, ihre Frau kommt morgen zurück?”

      „Ja.”

      „Hat sie Mr. Palmieri gesehen, als er hier war?”

      Flühmann schüttelte den Kopf. „Sie kommt aus den Ferien

zurück.”

      „Ich würde gern einmal mit ihr sprechen.”

      „Jederzeit.”

      Ob er Jeff von hier aus anrufen konnte? Nein, das war

entschieden zu riskant, dachte Flühmann. Er hatte eine ldee. Er

musste Jeff bitten, ihm ein paar Details zu Palmieris Bruder

durchzugeben. Vorname, Alter, Grösse, falls möglich. Warum

hatte er nicht früher daran gedacht? Andererseits:

ausgerechnet Hilfe von Jeff? Das war nur, weil er sich allein

und deprimiert fühlte, dachte Flühmann. Er wartete, bis

er Keller davonfahren hörte. Dann steckte er die Taschenlampe

weg und schloss sorgfältig die Haustür ab. Einmal, zweimal.

Auch das untere Schloss. Sogar die Kette legte Flühmann vor.


„Das geht nicht!”, sagte Flühmann. Niemand hörte ihn.

Er stand schweissgebadet in der Boeing 747. Die Stewardess

starrte ihn mit aufgerissenen entsetzten Augen an.

Die Passagiere rundum reckten die Köpfe. Flühmann sah,

wie sie tuschelten. Während des Frühstücks hätte

er Palmieri einen Teil der Dollarnoten übergeben sollen.

In einer der Toiletten, jener rechts. Er hatte das Geld

wie verlangt zwischen die Handtücher gelegt. Und dann?

Flühmann war stehen geblieben. Er sah, wie Palmieri

die Kabine betrat. Dieser Erpresser! Er warf sich auf Palmieri,

packte ihn, krallte ihm die Gurgel zusammen, bis

Palmieri mit dem Kopf ans Lavabo klatschte. Flühmann ergriff

das Geld, kletterte über den Liegenden hinweg und –

      „Das geht nicht!”, sagte Flühmann noch einmal. Zwei

Dutzend Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Die Passagiere

standen zusammengedrängt im Korridor der First Class.

      Eine Glocke läutete schrill.

      Alle starrten sie Flühmann an. Fassungslos.

      Flühmann fuhr auf. Sie sind da! Er griff nach der Smith &

Wesson. Er war auf dem Sofa eingenickt, den Revolver neben sich.

      Es war die Türglocke, die läutete.

      „Wer ist da?”, rief Flühmann.

      Es war mitten in der Nacht. Halb drei.

      Vor dem Haus brannte kein Licht. Ein Schlurfen.

Sekundenlang Stille. Ein müdes kratzendes Geräusch. Auf

dem Asphalt waren Schritte zu hören. Eine Stimme,

direkt an der Tür. Sie brach ab. Sie lispelte.

      „Wer?” Flühmann hatte Licht gemacht.

      „Ich bin’s.”

      „Bob?” Flühmann machte auf.

      Bob zitterte am ganzen Leib. Er hielt etwas in der Hand.

Er schwankte leicht. War er betrunken? Oder erschöpft? Er hatte

dunkel geränderte Augen. Und mit seiner Unterlippe war

etwas nicht in Ordnung.

      „Willst du nicht hereinkommen?”

      „Nein.”

      „Mein Gott, was hast du?” Flühmann machte einen

Schritt hinaus, aber Bob wich zurück. Fast stürzte er rückwärts

die Treppenstufen herunter.

      „Ich –” Bob schluckte. Er würgte. Sein Blick war voller

Angst. Er atmete schwer. Die Hand hielt er geschlossen. Er

streckte sie aus.

      „Ich muss etwas abgeben”, sagte er.

      Flühmann fragte besorgt: „Weisst du, wie spät es ist?”

      Bob lachte entgeistert. Er blickte Flühmann an. Er hatte sich

aufgerichtet, als müsste er eine eingeübte Nummer

loswerden. Er sagte:

      „Der Lack von der Eastside. Hier hast du ihn zurück.”

      „Du frierst, Bob. Willst du nicht hereinkommen?”

      Bob schlotterte. Er schlug mit den Zähnen aufeinander.

Seine Hand umklammerte die Art-Deco-Brosche, die Flühmann

ihm geschenkt hatte. „Es klebt Blut dran.”

      „Aber warum?”

      „Ich brauch’s nicht mehr. Fränzi ist –”

      Wie war Bob überhaupt hergekommen? Mitten in der

Nacht. Zu Fuss, den ganzen Weg? Mein Gott. Und in diesem

Zustand. Bob könnte auspacken, dachte Flühmann.

Jederzeit. Hatte nicht Keller gesagt, Bob hätte sich auf der

Polizei gemeldet? Wozu?

      Bob trat näher. „Erwartest du Besuch?”

      Flühmann wusste, warum er sich auf dem Sofa

niedergelegt hatte, die Smith & Wesson neben sich, die Kleider

an. Er sagte:

      „Nein.”

      „Und das da?”, fragte Bob.

      „Was?”

      Bob zeigte mit dem Finger auf die Hand, in der Flühmann

die Smith & Wesson hielt. Er sagte:

      „Mach es doch. Erschiess mich!”

      Was? dachte Flühmann beschämt. Er hatte ganz

vergessen, dass er das Ding noch immer in der Hand hielt.

So ein Theater. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Er zuckte die Schultern. Und wenn sie kommen? In der Morgendämmerung? Er ging zurück ins Vestibül.

Er wunderte sich, dass die Schublade der Eichentruhe

halboffen war. Er legte die Smith & Wesson hinein

und liess die Schublade, wie sie gewesen war. Bob war

ihm wortlos gefolgt.

      „Willst du hier schlafen?”, fragte Flühmann.

      „Ja.”

      Das ist gut, dachte Flühmann. Er riegelte die Haustür ab.

„Ich zeige dir dein Zimmer.”

      Bob schien todmüde. „Und du?” Er lag plötzlich auf der

Treppe. Er war ausgerutscht und gestürzt.

      „Gehst du nicht ins Bett?”

      „Ich lege mich unten hin.”

      Im Gästezimmer liess Bob sich sogleich aufs Bett fallen.

      „Soll ich das Licht ausmachen?”

      Bob reagierte nicht. Er lag ausgestreckt auf dem Bett,

den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht in die Kissen vergraben,

die Brosche neben der Hand. Er hat sie behalten, dachte

Flühmann. Die abgetragene Hose, die Bob trug. Ob er ihm eine

von seinen bereitlegen sollte? Oder war das zu aufdringlich?

Flühmann löschte das Licht. Er zog die Zimmertür zu, ging

hinunter und legte sich aufs Sofa. Was mache ich mit Bob, wenn

Vilma zurückkommt?

      Es war halb sieben, als Flühmann aufwachte. Was

war geschehen? Eine Sekunde lang verharrte er unsicher. Bob,

ach ja – Flühmann rieb die Augen. Er ging hinauf, horchte

an der Tür, aber es regte sich nichts. Lass ihn schlafen, dachte

Flühmann.

      Er trat auf die Terrasse. Das linke Knie tat ihm weh.

Er machte einen Rundgang. Das Gras war feucht. Die Birke.

Der Teich. Er blickte zum Haus zurück. Am Horizont

ging die Sonne auf. Eine rote glühende Kugel. Nichts war

geschehen.

      Flühmann stieg hinab bis zur kleinen Mauer, die er

kürzlich ausgebessert hatte. Er sprang hinab auf die Strasse.

Er verharrte Sekunden. Er duckte sich. Er schlich der

Mauer entlang. Nein, unten an der Strasse stand kein Wagen. Niemand, der das Haus beobachtete. In den Bäumen das

Gezwitscher der Vögel. Flühmann sah nichts Ungewöhnliches,

nicht unten an der Strasse. Ein erwachender Tag.

      Flühmann machte sich über die Mauer davon,

durch das halbhohe Gras den Garten hinauf und über die

Terrasse ins Haus. Die Eichentruhe im Vestibül.

Flühmann musste leise lachen. Er machte die Schublade zu,

nachdem er einige der Foulards über die Smith & Wesson

gelegt hatte. Die Frage blieb: Hatten sie Leute herübergeschickt?

Flühmann trat in die Garage. Er holte eine Wolldecke aus

dem Rücksitz des BMW. Er wusste nicht warum. Er deckte das

Nummernschild seines Wagens zu.

      Flühmann ging in die Küche. Es war frisch gewesen

draussen. Er machte Kaffee. Heute kommt Maria, dachte er. Bob

hat Glück. Maria kann ihm Tee und Rühreier bringen.

Bob hatte nicht gut ausgesehen. Ob er krank war? Flühmann

machte sich Sorgen. Er hatte Mühe, Bob zu begreifen.

Er mochte ihn irgendwie. Nur diese Wut nicht, dachte er. Sie ist

gegen mich gerichtet. Der Kaffee war fertig. Ein langer

Tag stand bevor. Er musste Vilma am Hauptbahnhof abholen.

Er musste überlegen, wie er ihr –

      Bob stand in der Tür.

      Flühmann hatte Kaffee eingeschenkt. Er hob die Tasse

zum Mund.

      „Well. Good Morning”, sagte er.

      Bob blieb in der Türe stehen. Er hatte seine Haare

angefeuchtet und nach hinten gebürstet. Sein Blick war ernst.

Er sagte:

      „Sie stinkt, die Stadt.”

      Der Kaffee war zu heiss. Flühmann blies über den

Tassenrand. Es geht gleich weiter, dachte er. Im selben Stil.

      Bob sagte: „Das kommt, weil sie ihren Dreck unter

die Decke kehren.”

      Flühmann zögerte. Er sah Bob an. Er nahm einen kleinen

Schluck. Dann stellte er die Tasse ab.

      „Willst du Kaffee?”, fragte er.

      Bob reagierte nicht.

      Flühmann sah zu Boden. Er war einen Augenblick ratlos.

      „Und dann glauben sie, es ist alles gut”, sagte Bob.

      Flühmann blickte auf. Er trank einen Schluck.

      „Und ich? Ich bin genau wie sie.”

      „Bob, du solltest dich ausruhen.”

      „Es ist verdammt ungemütlich, wenn sie dir auf die Spur

kommen.” Bob atmete schwer. „Aber warum sollten sie das?”

      Ja, warum sollten sie das, dachte Flühmann. Er stellte

hastig die Tasse ab. „Es ist etwas passiert” , sagte er. „Erinnerst

du dich? Du kennst sie doch. Sandy Winter.”

      „Ich?”

      „Sandy! Sandy Winter! Sie ist aus dem College

abgehauen. Und ich dachte, du könntest – Sie wird vermisst,

verstehst du? Willst du nicht zurückfliegen? Sie

suchen helfen?»

      „Sie haben mir die Fingerabdrücke genommen. Es wird

alles auskommen.”

      Flühmann schüttelte den Kopf. „Tatsache ist,

dass wir auf freiem Fuss sind. Dabei soll es auch bleiben.”

      „Du willst, dass ich das glaube?”

      „Ja.”


Ich? ärgerte sich Flühmann. Was kann ich dafür? Er liess

das Steuer durch die Hand gleiten, den Blick in die

Nacht hinausgerichtet. Die Quartierstrasse. Das Strassenlicht

in den Bäumen. Die Nachbarhäuser. La Gioconda.

      Vilma sass neben ihm.

      „Dann ist Bernard gekommen”, erzählte sie. „Er flirtet

herum. Der eklige Typ. Er schläft mit jeder. Du, mir war es verleidet.”

      „Und Annie?”

      Unwillig sagte Vilma: „Ach, sie ist verknallt.”

      „ln Bernard?”

      „H–hm.”

      „Aber Bernard – ist Bernard nicht der Freund von Jacqueline?”

      „Du, mir ist das egal.”

      Flühmann hatte Vilma um 22.57 Uhr am Hauptbahnhof

abgeholt, aber ihm wäre es lieber gewesen, wenn er nicht sofort

hätte nach Hause fahren müssen. Er hatte Vilma gefragt:

      „Willst du noch ein Glas trinken? Irgendwo in der Stadt,

wo man draussen sitzen kann? Vielleicht ist es eine der letzten

warmen Sommernächte.”

      „Ich hab genug vom Sommer.”

      „Im Radio haben sie gesagt, das Wetter soll ändern.”

      Er hatte Vilma schonend nahebringen wollen, dass

der Biotop nicht mehr ganz so aussah, wie sie ihn angelegt hatte.

Warum sie Bob bei sich zu Gast hatten. Dass morgen

vielleicht ein Detektiv kommen und ihr ein paar Fragen stellen

wollte, die mit einem gewissen, leider tödlich verunfallten

Mr. Palmieri zu tun hatten, der Flühmann auch nicht näher

bekannt war.

      Aber Vilma hatte nur gesagt: „Mir ist schlecht.”

      Sie ist gereizt, dachte Flühmann. Er hatte sogar Verständnis.

Sie war müde. Die Bahnfahrt. Flühmann hatte den Fuss

vom Gaspedal genommen und schaltete, um auf den Vorplatz

einzubiegen. Die Hecke. Der Goldregen. Der Hauseingang.

Er verlangsamte, drehte den Wagen und brachte ihn

zum Stillstand. Die Garageneinfahrt. Es war alles wie immer.

Der Tanz der Mücken im Licht der Bodenbeleuchtung.

Flühmann wollte sagen: Welcome home! Er blickte Vilma von

der Seite an. Ihr langes braunes Haar. Ihr grosser Mund.

Er schwieg.

      „Was ist denn hier los?”, rief sie entsetzt. Sie hatte die

Türfalle gedrückt, war aber sitzen geblieben.

      „Wir haben einen Gast.”

      Vilma lachte sarkastisch. „Ja, das seh ich.”

      Was war das? Flühmann riss erstaunt die Augen auf.

Ein Grasfrosch? Etwas schwang sich blitzartig hoch, wirbelte in

der Luft herum, schnappte im Licht der Bodenbeleuchtung

nach irgend etwas und klatschte zu Boden. Und hier, direkt vor

ihnen? Noch ein Grasfrosch. Er bewegte sich im Lichtkegel

der Scheinwerfer. Jetzt sah Flühmann drei Frösche. Vier. Was

machen sie hier?

      „Die Frösche? Die meine ich nicht”, sagte er.

      „Was machen sie hier?”

      „Mücken jagen. Ich weiss nicht. Sie seckeln halt herum.”

      „Findest du das normal?“

      Flühmann atmete aus. „Normal?” Er zuckte mit den

Schultern. „Was heisst normal?”

      „Immer seckeln sie hier nicht herum.”

      „Aber jetzt.”

      „Das ist nicht normal.”

      Flühmann sah, wie zwei der Frösche im Scheinwerferlicht

ausharrten. Einer schlug einen Salto. Und lag gleich wieder

am Boden, wie erstarrt.

      „Was ich sagen will”, begann Flühmann nochmals.

„Wir haben wirklich einen Gast.”

      „Was? Wer?”

      Flühmann hatte den Motor abgestellt. „Bob Franey.”

Er hielt den Zündschlüssel in der Hand. „Erinnerst du dich?”

Vilma schüttelte den Kopf

      „Ich hab Bob gesagt, er kann bei uns schlafen.”

      „Bob? Und wer soll das sein?”

      „Bob Franey.” Verdammter Frosch, dachte Flühmann.

„Er war mit Sandy befreundet.”

      „Sandy?”

      „Jeffs Tochter, du weisst.”

      Vilma griff nach der Handtasche. Sie riss die

Wagentüre auf, liess sie aber nach einigem Zögern zufallen

ohne auszusteigen.

      „Ich glaube, ich komme zu früh nach Hause”, sagte sie.

      „Aber nein, Vilma. Es ist nur für ein, zwei Tage.

Bob hat mich gefragt. Ich konnte nicht nein sagen. Es geht

ihm nicht gut.”

      „Ich sehe nicht, was das mit uns zu tun hat.”

      „Bob ist hier geboren, aber aufgewachsen ist er in den

Staaten. Seine Mutter hat wieder geheiratet. Sie lebt

in Newark, New Jersey. Bob hat geglaubt, sein Vater sei tot –

bis er jetzt auf einer Europareise hierher gekommen ist.”

      „Ich will jetzt keine Geschichten hören, Max. Ich bin müde.”

      „Ich erzähl keine Geschichten. Bob hat entdeckt, dass

sein Vater nicht sein Vater ist. Das ist alles.”

      „Aber du bist doch daran nicht schuld.”

      „Ich weiss.”

      „Ist er jetzt hier?”

      „Ja. Er ist im Zimmer. Er schreibt.”

      „Oben?”

      Flühmann nickte. „Er wird dich nicht stören. Er hat den

ganzen Tag geschrieben.”

      „Das sind ja Überraschungen. Hier die Frösche,

die durchdrehen. Oben haben wir einen Gast. Sag einmal –”

      Flühmann nestelte im Handschuhfach. Vilma

schien nicht begreifen zu wollen. Sie war sonst nicht so.

      „– suchst du etwas?”

      „Nein, ich hab nur nachgeschaut, ob ich –”

      „Und er heisst Bob, dein Freund?”

      „Bob Franey.” Flühmann zögerte. Dann fügte er hinzu:

„Der Junge im Klub, der hinter der Bartheke stand.”

      Das schien Vilma nichts auszumachen, konstatierte

Flühmann mit Überraschung. Vilma lachte ihr offenes Lachen.

Sie hatte die Handtasche geöffnet, nahm ihre Schlüssel

heraus und stieg aus.

      „Also gut”, sagte Vilma. „Ich bin im Bad.”

      Flühmann sah, wie sie zum Hauseingang ging.

Er zog die Wagentüre zu. Gut, dass er vom Biotop nicht auch

noch angefangen hatte. Jetzt war Nacht und ohnehin

nichts zu sehen. Und morgen war Vilma ausgeschlafen und

sicher besser ansprechbar.

      Ob heute Nacht etwas passiert?

      Flühmann fuhr den Wagen in die Garage, in der sich

zwei der verdammten Frösche herumtrieben. Er holte Vilmas

schwarzen Lederkoffer heraus und stellte ihn auf

den Boden. Ich habe das nicht gewollt. Hat Palmieri mir

eine Chance gegeben? Flühmann schlug die Deckel

zu, nahm den Koffer und stellte ihn wieder ab. Er hatte am Hauptbahnhof Vilma abgeholt, aber vorher noch von

einer Telefonzelle aus im Hotel Zürich angerufen und nach

einem Mr. Bonato gefragt. Das war einer der zwei

falschen Namen, die Jeff ihm durchgegeben hatte – Namen,

die Palmieris Bruder bei Gelegenheit benutzte, wie Bill

Whitney im Police Department in Erfahrung hatte bringen können.

      „Mr. Bonato?” hatte die Telefonistin gefragt. „Sie meinen

Mr. Bonato aus New York?”

      „Ich –”

      „Oder Signore Bonato aus Genova?”

      „– weiss nicht. Er heisst Gian-Franco.”

      „Mr. Bonato?“

      „Ich bin nicht sicher, ob er bei Ihnen –”

      „Ja, er ist hier. Einen Augenblick –”

      Die Verbindung war tot. Flühmann hatte weiche Knie

bekommen.

      „Und wie ist Ihr Name bitte?” fragte jetzt die Telefonistin.

„Hallo! Sind Sie noch dran?”

      Flühmann hatte aufgehängt. Sie sind hier! Er hatte

überstürzt die Zelle verlassen. Ob sie heute Nacht –? Er liess

den Koffer stehen, ging um den Wagen herum und löschte

das Licht, um einen Blick durch die Garagenluke zu werfen. Ob es

Regen gibt? Flühmann war in den Garten hinausgetreten.

Er blickte in den Nachthimmel hinauf, wo dunkles wattiges Gewölk

sich zusammenzog. Er ging zum Teich hinunter, dann der

Mauer entlang. Aus der Kräuterecke kam ihm ein verwirrendes

Gemisch von Gerüchen entgegen. Was mache ich mit Vilma,

wenn sie heute Nacht kommen? Flühmann war stehen geblieben.

Er spähte zur unteren Strasse hinüber. Nichts. Kein

schlechter Platz, das Haus zu beobachten, dachte er. Die

Fenster im oberen Stock waren hell erleuchtet.


Nichts war geschehen, dachte Flühmann. Nichts. Palmieris

Bruder war nicht gekommen. Bob sass oben im

Gästezimmer. Und Keller, der rührige Detektiv-Wachtmeister,

hatte im Kripo-Neubau neben der Polizeikaserne

offenbar anderes zu tun, als schon wieder nach Kilchberg

zu fahren und Vilma mit Fragen über Palmieri zu

langweilen. Flühmann stand im Hemd auf der Terrasse.

Blauer, leicht gekräuselter Himmel. Die Mittagssonne

stand hoch. Nicht einmal schlecht geträumt hatte Flühmann.

Er hatte überhaupt nicht geträumt. Er hörte Vilma

in der Küche lachen. Er hörte, wie Maria mit den Pfannen

klapperte. Nichts war geschehen, dachte Flühmann.

Bratenduft stieg ihm in die Nase. Er war gerührt. Er hatte soeben

den Rundgang beendet. Quer durch den Garten, hinab

an die Strasse und zurück. Der Basilikum! Die Salbei! hatte

er zu sich selbst gesagt. Schau, wie sie gedeihen!

Die Insekten, die Vögel, die Würmer. Was scherten sie sich?

Das Leben ging weiter. Nichts war geschehen.

      „Hast du das gemacht?” hatte Vilma erstaunt gefragt.

      Flühmann war leicht erschrocken. Er hatte Vilma

am Balkonfenster stehen gesehen, wie sie zum Teich hinabsah,

ihre langen, hübschen Beine vom Morgenlicht unter dem

Negligé abgebildet. Sie sagte:

      „Du, ehrlich, das Schilfrohr – mir gefällt’s!”

      Das wäre also überstanden, dachte Flühmann und atmete auf.

      Flühmann war ins Haus getreten.

      Er holte im Vestibül die Neue Zürcher Zeitung, nahm

sie ins Wohnzimmer mit und setzte sich, nachdem er die zwei

Bücher, die auf dem Sofa lagen, in die Hand genommen

hatte. Das eine war ein Roman – Christa Wolf, Kassandra.

Flühmann wog das Buch respektvoll in der Hand und

legte es ungeöffnet beiseite. Das andere, Grundlagen der Terrarienhaltung, war ein Sachbuch, von zwei Holländern

verfasst. Flühmann begann darin zu blättern, bis er auf eine Stelle

stiess, die Vilma mit Bleistift markiert hatte. Die auffälligste

Beziehung zwischen Tierarten, las Flühmann – und

er las es mit einem kurzen kleinen amüsierten Staunen

über seine Frau, ist sicher die Beziehung zwischen einem

Räuber und seiner Beute oder Konsument und

Konsumierten. Eine Art dient der anderen als Nahrung. Werden

Artgenossen gefressen, spricht man von Kannibalismus.

Keine schlechte Beschreibung der Komplikationen, die mir Palmieri

bereitet, dachte Flühmann. Im oberen Stock hörte er jetzt

Bob herumgehen. Dann war es auf einmal still. Flühmann blätterte

um. Er fand noch eine Stelle, die Vilma angestrichen hatte.

Verteidigt wird ein Territorium häufig mit ritualisierten

Kampfhandlungen, etwa dass sich die betroffenen Tiere

gegenseitig androhnen. Bei Echsen bedeutet dies:

sich seitlich abplatten, die Kehle hervorwölben, mit dem

Kopf nicken und vielleicht eine intensivere Färbung

annehmen; in jedem Fall aber, möglichst gross zu erscheinen,

um den Kontrahenten einzuschüchtern. Meistens

ergreift eines der beidenTiere die Flucht. Nur selten kommt

es zu echten Kämpfen, wenn keiner der Kontrahenten

sich zurückziehen will oder kann. Dabei können sich die Tiere

dann ernsthaft verletzen. Was Vilma für komisches

Zeug liest, dachte Flühmann. Irgendwie hatte Verhaltensforschung

ihn immer schon angesprochen. Nachdenklich klappte

er das Buch zu und hielt es einen Augenblick noch in der Hand,

ehe er es zum anderen legte und sich der Neuen Zürcher

Zeitung zuwandte. In New York stand wieder einmal ein Mafioso

vor Gericht, wurde auf Seite sieben berichtet, was

Flühmann ein Lächeln abnötigte.

      „In einer halben Stunde gibt’s Mittagessen”, rief Vilma.

Sie lachte. Sie war ins Wohnzimmer getreten. Sie fragte. „Kannst

du einmal oben nachsehen und dich erkundigen, ob unser

Gast sich wohl genug fühlt um herunterzukommen?”

      Flühmann nickte. „Gern.”

      Er nahm die Zeitung, sah Vilma an und küsste sie im

Vorbeigehen. Sie ist bester Laune, dachte er.

      „Bob?” Flühmann klopfte oben an die Tür. Bob lag

unbewegt auf dem Bett, vollständig angekleidet, seine Beine

gestreckt, die Schuhe angezogen, die Maria ihm geputzt

hatte. Die Schreibmaschine stand auf der antiken Schreibkommode

aus Nussbaum, ein Stapel Papier daneben.

      „Das Mittagessen”, begann Flühmann. Er wollte

vorsichtig sein. „Meinst du, du kannst herunterkommen? In einer

halben Stunde?”

      Bobs Lippen bewegten sich.

      „Was sagst du?”

      „Ich frage: Muss das sein?”

      „Bob, du verpasst etwas. In der Küche riecht es nach Braten,

wirklich exzellent.”

      „Ich habe keinen Hunger.”

      „Es ist Vilma, die fragen lässt.”

      „Okay.”

      Flühmann wollte sich im Zimmer umsehen, aber

seine Augen blieben am Papierstapel auf der Kommode hängen.

      „Hast du geschrieben?”, fragte er.

      „Es geht nicht.”

      Bob sah ziemlich deprimiert aus, fand Flühmann.

Was willst du? wollte er sagen. Palmieri hat es nicht anders

gewollt, und hätten wir es nicht getan, es wären andere

gekommen.

      „Das kommt schon wieder”, sagte er. „Du musst dir

Zeit lassen.”

      Bob gab darauf keine Antwort.

      „Ist das nicht das Manuskript? Ich dachte, du hast dein

Manuskript vernichtet?”

      „Ich hab eine Kopie.”

      Flühmann hatte nicht vergessen, wie er Bob im

Mansardenzimmer bei Fränzi angetroffen hatte – voller

Selbstmitleid, voller Anklage.

      „Eine Kopie? Du bist gut”, sagte Flühmann.

      „Ist der Detektiv-Wachtmeister hier gewesen?”

      „Keller? Ich glaub, er kommt nicht mehr.”

      „Was will er denn?”

      „Ich weiss nicht. Vilma ein paar Fragen stellen.”

      „Wirst du ihm sagen, dass ich hier oben bin?”

      „Nein.”

      Bob lachte heiser. „Warum nicht? Darauf wartet er doch.”

      „Wir wollen die Dinge nicht unnötig komplizieren,

Bob, hm? Übrigens –” Flühmann drehte sich in der Tür. „Wie

siehst du das mit dem Rückflug? Du hast gesagt, du

musst dir’s überlegen.”

      „I know.”

      „Wir wollen dich nicht drängen, Bob, aber – Die

Sache mit Sandy, du weisst. Soll ich einmal fragen, ob’s morgen

noch Platz hat?”

      „Ich kann nicht.”

      „Warum?”

      „Ich muss etwas noch in Ordnung bringen.”

      „Helen?”

      „Ja”, sagte Bob gefasst. Er hatte sich aufgesetzt.

Er kramte die Art-Deco-Brosche hervor. „Hier hast du das Ding

zurück. Du kannst es Vilma schenken.”


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