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KAPITEL XVII



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


„Auch das noch”, rief Helen irritiert. „Der verlorene Sohn kehrt

zurück!” Sie stand in der Wohnungstür, nur mit dem Morgenmantel

bekleidet.

      Bob sah ihre Beine, ihre Krampfadern. Er blickte zu Boden.

Er war gekommen, um sich mit Helen auszusöhnen.

      Helen liess ihn eintreten.

      „Und was bringt dich zu mir?”, fragte sie.

      Sie sah mager aus, verweint. Eine Haarsträhne hing ihr

ins Gesicht. Ihr Blick war glasig.

      „Ich bin bei der Polizei gewesen”, sagte Bob.

      Helen blickte ihn an. „Und? Hast du mich angezeigt?”

      Sie schien um Jahre gealtert. Im Grütli war sie jünger, war sie

voller Leben gewesen.

      „Aber Helen –”

      „Du hast gesagt, ich hätte ihn umgebracht.”

      Sie waren in die Stube getreten. Helen setzte sich.

      „Sie haben ihn. Engeler. Er hat’s getan.”

      „Ach nein.”

      Helen lachte ein gekränktes verzweifeltes Lachen.

      „Ich weiss, ich habe dich verdächtigt, Helen. Zu Unrecht.”

Eine lange Pause. Bob fragte: „Warum ist das Grütli geschlossen?”

      „Weil geschlossen ist.”

      Sie will nicht, dachte Bob. Sie meint, sie muss mich

bestrafen. Er war erregt. Er spürte die Wut. Ach, was soll’s! Er

liess die Hand fallen.

      „Du musst mir keine Antwort geben. Das Grütli ist geschlossen.

Und jeder hier drinnen sieht warum.”

      „Hör zu, Bob”, sagte Helen schliesslich. „Ich will dir etwas

sagen. Mir spielt’s keine Rolle mehr, verstehst du? Ich bin eine alte

Frau. Und was Hermi angeht –”

      Hermi? dachte Bob. Er spürte die Wunde an seiner Hand.

Die Angst. Er wusste nicht wovor. Er wusste nicht warum. Hatte sie

Hermi gesagt? Sie hatten seine Leiche freigegeben. Gestern

war er beerdigt worden. Schubiger hatte Bob das sagen müssen,

Polizei-Detektiv Schubiger! Bob hielt den Kopf gesenkt.

Scham. Er hatte das Gefühl, der Boden rutsche ihm weg. Die

Füsse. Sie waren so schwer. Und Helen? Sie war plötzlich

verändert. Sie hatte zu reden begonnen. Weil Zimmerli tot, weil

er begraben war? Weil sie sich seiner nicht mehr zu schämen

brauchte? Bob musste sich setzen. Ein zerwühlter Nähkorb stand

auf dem Stuhl in seiner Nähe. Er stellte ihn weg. Hatte Zimmerli

hier gesessen? Bob setzte sich.

      „– ich hatte ihn gewarnt”, sagte Helen. „Umsonst. Er hatte

versprochen zu schweigen. Was willst du? Er hat sich nie an etwas

gehalten, sein Leben lang nicht.”

      „Nein?”

      „Erinnerst du dich an den Tag, als du mit der Kleinen ins

Grütli kamst?”

      „Sicher.”

      „Er war schon am Morgen betrunken. Es war Vollmond,

natürlich. Hätte er euch in Ruhe gelassen, er wäre noch am Leben –

vermutlich. Aber nein – er nicht! Er hat uns nie in Ruhe

gelassen. Mich nicht, als ich jung war – Iris nicht.”

      „Und warum?”

      „Deine Mutter! Hätte er bloss deine Mutter nie gesehen!

Das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, Bob, aber wir

sind zusammen gewesen, Hermi und ich.”

      „Und Mutter?”

      „Iris war mit Kurt verheiratet, aber eines Nachts – das kann

nur mir passieren, so etwas! Eines Nachts kommt Hermi

zu mir und sagt: ,Ich kann nicht mehr.’ Er hatte sich in Iris verliebt.

Kannst du dir das vorstellen, Bob? Kannst du dir vorstellen,

wie mir zumute war? Iris war schwanger. Von ihm.”

      Bob war gerührt. Er war erstaunt. Er hörte, wie Helen

schnupfte. Sie und Zimmerli, überlegte Bob. Und Mutter! Er sah

Helen nicht an. Sie sagte:

      „Und im nächsten Jahr, am Fasnachtsmontag, bist du

gekommen, Bob. Iris hat Kurt, ihren Mann, als Vater genannt.

Sie hat sich von Kurt nie getrennt, nie wirklich. Und Hermi?

Er hat gesagt, Wenn ich einmal – Es ist auch gut gegangen, eine

Zeit lang. Er war zu mir zurückgekehrt. Aber er hat mit Iris

nie richtig Schluss gemacht. Er war wie alle Männer. Er hat sich

nie entscheiden können. Unglaublich. Verstehst du? Was

ich alles mitgemacht habe. Nein, das verstehst du nicht. Hermi

ist damals – er hat gut ausgesehen! Er war so stark, so

voller Ideen, verstehst du? Du warst an jenem Tag krank und

im Bett, an jenem Tag, als das Unglück passiert ist. Mutter

hat angerufen, sie hat – sie war aufgewühlt, sie hat gesagt, es sei

etwas passiert, Kurt sei – er sei verunfallt, mit dem Auto,

auf der Heimfahrt von Genf. ,Ist er -?’, frage ich. ,Ja’, sagt Mutter.

Er war sofort tot.”

      Bob rutschte ungemütlich auf dem Stuhlrand. Er sah Helen

an. Sie schneuzte sich. Bob sagte:

      „Du hast gesagt, ich bin krank gewesen, im Bett, und ich

weiss auch warum. Der Unfall. Es war eine Stille zu Hause, eine

Spannung. ja, die Wohnung – das Zimmer! das war nicht

bei Grossmutter in der Pension. Ein aufgeregtes Hin und Her.

Grossmutter ist gekommen. Und doch – es hat niemand

geschrien, es hat niemand geweint, nicht vor mir. Es war ein

knisterndes Schweigen. Und jeder Satz – die Angst, die

Panik. Das Telefon hat geläutet. Zimmerli? Die Polizei? Und jedes

Mal ist Mutter gerannt. ,Es ist nichts. Es ist alles gut.’ Gegen

Mittag ist Zimmerli gekommen. Mutter hat mit ihm zu reden versucht.

Es ist, als hörte ich Zimmerli. Seine Stimme. Und Mutter.

Unterdrückt. Erregt. Sie stehen in der Küche. Sie sind sich nicht

einig. ,Und der Kleine?’ Sie reden, glaube ich, von mir.

,Er hat ja solche Angst’, sagt Mutter. Ich sehe Zimmerli. Er trägt

Anzug, Krawatte. Er kommt zu mir, sagt einen Satz

oder zwei. ,Es ist alles gut. Dein Vater hat alles überstanden.’

Ich verstehe nicht, was er meint. Ich höre seine Stimme.

Er spricht ruhig, beschwichtigend.”

      Helen starrte Bob an. „An jenem Mittag ist Hermi zu mir

gekommen, zu mir in die Wohnung. Er hat geweint. Er hat gesagt –

er hat sich über Iris beklagt. Dass er nur mich liebt, hat

er gesagt. Dass er mit Iris Schluss machen will. Ich habe ihm

nicht geglaubt. Und ich habe Recht behalten.”

      „Und der Unfall?”

      „Die Beerdigung von Kurt war grauenhaft. Iris hat nichts

gegessen, tagelang. Und irgendwie – irgendwie hat sie’s

mit Hermi nicht mehr gekonnt. Es ist Iris gewesen. Sie hat Schluss

gemacht. Nein, nicht sofort. Irgendwann, im Jahr darauf.

Da ist sie nach Amerika.”

      „Nach Amerika”, wiederholte Bob.

      „Du bist wie Iris, wie deine Mutter. Eigensinnig. Unnachgiebig.

Sie war jünger als ich. Sie war schöner. Sie hat Erfolg gehabt.

Und immer hat sie alles dürfen. Und dann ist sie – sie hat mich

einfach sitzen lassen. Mit Hermi.”

      „Aber Helen –” Eine groteske Anschuldigung, dachte Bob.

      „Sie hat dich hergeschickt, um alles zu zerstören.”

      „Das ist ja grotesk.”

      Helen schloss die Augen und öffnete sie. „Du hast gesagt,

ich hätte Hermi –”

      „Ich habe mich entschuldigt.”

      „Nein. Das hast du nicht.”

      „Es tut mir leid.”

      „Nein.”

      „Was nein?”

      „Es tut dir nicht leid. Du glaubst, ich hätte Hermi – Das

glaubst du doch?”

      „Ich habe gesagt –”

      „Du bist wie deine Mutter, ich hätte es wissen müssen.”

Helens Stimme war bitter geworden, voller Triumph,

voller Verachtung. „Du kommst hierher, du rührst Dinge auf,

die ein halbes Leben oder mehr zurückliegen. Was gibt

dir das Recht –?”

      Weg, dachte Bob. Nur weg hier. Er wusste nicht wohin,

er wusste nur, dass er hier weg wollte.

      „Du willst die Wahrheit erfahren?”, rief Helen. „Was ist das?

Die Wahrheit? Gibt’s das überhaupt?”

      „Ich? Ich –”

      „Du bist –” Helen war den Tränen nahe. „Du bist ungerecht.

Das bist du. Und verletzend. Du hast kein Recht –”

      „Ich habe kein Recht, ich weiss. Das hast du bereits gesagt.”

      „Eine solche Beschuldigung. Ungeheuerlich. Aus der

eigenen Familie. Was glaubst du, wer du bist? Glaubst du, du

bist Gott?”

      „Helen! Das hat doch keinen Sinn.”

      „Weisst du, was du bist?”

      Bob zuckte die Schultern. „Ich gehe jetzt lieber.”

      „Ein Spion bist du, ein Moralist! Ein Besserwisser, ein

Moralist! Kommst du im Auftrag von Iris?”

      Genug, dachte Bob. Es war genug. Er konnte – er

wollte nicht mehr. Er musste weg hier. Er war aufgesprungen.

Der Nähkorb lag ausgekippt am Boden.

      Helen schluchzte. „Geh nicht! Geh nicht!”

      „Du bist krank. Weisst du das?”

      „Geh nicht!”, flehte Helen.

      Krank, dachte Bob. Er hörte die eigenen Worte. Wütend

stürzte er davon. Was mache ich?

      „Und das ist jetzt der Dank”, rief Helen.

      Bob hatte die Wohnungstüre zugeschmettert. Einen

Augenblick lang blieb er im Treppenhaus stehen, über sich selbst

entsetzt, sprachlos.


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