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KAPITEL XIV



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Und es trägt. Bob lag rücklings im Wasser, flach, und trieb den

Kanal hinab. Dunst hing über der Innenstadt, schwach

waren die Kuppeldächer der Hochschulen zu sehen. Bob trieb

in der Kanalmitte. Häuser zogen vorbei,  auf halber Höhe

eine Betonrampe mit Autoverkehr, am Wasser der Spazierweg,

die Bahngeleise. Die Silhouette der Innenstadt entschwand,

an der Flussbiegung ragte übergross das Hotel Zürich auf, aber

das Wasser trug Bob fort. Er schloss die Augen, machte

sich lang und tauchte das Kinn unter. Es war schön, sich forttragen

zu lassen – die Geschichte mit Palmieri verlor an

Bedrohlichkeit. Bob warf den Kopf in den Nacken. Er suchte

den Himmel ab, die Arme zurückgelegt. Es war ihm,

als sei er dabei, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Welch

enormer Himmel! Eine Möwe kreiste und schrie. Das

Wasser war tief und warm und in der Umarmung zärtlich.

Ruhig und stark zog es mit Bob dahin. Wie leicht sich

Bob fühlte! Entferntes Entengeschnatter, vom Wind über das

Wasser getragen. Gelb-violett, mit gleitendem Fahrgeräusch

rollte ein S-Bahn-Zug in den Tunnel.

      Bob wand sich, wirbelte mit Rumpf und Beinen herum.

Wie gut das tat, diese Drehung in der Spirale! Unten

war ein Schwan zu sehen. Bob begann, mit dem Arm zu rudern,

bis er gewendet hatte. Die Liegeplanken rückten ins

Blickfeld; nur ein Geländer trennte sie von Spazierweg und

Bahngeleisen. Die Planken waren fast leer, sie sahen

nackt aus, unbenutzt. Zuoberst sonnte sich die kleine schlanke

Dunkelhaarige, die Bob bereits bemerkt hatte, als er

unterwegs zum Schwimmen an ihrem Platz vorbeigekommen

war. Noch immer war sie in ihr Buch vertieft, aber sie hob

den Kopf, als Bob mit der Strömung vorbeizog. Sie hatte einen

langgezogenen breitlippigen Mund, der etwas wie Schalk

oder Unabhängigkeit verriet. Es war aber nicht nur das. Bob hatte

beim Vorbeigehen gesehen, was für ein Buch es war,

das sie las. Gabriel Garcia Marquez, Hundert Jahre Einsamkeit.

Die barbusige hübsche Kleine beirn Sonnenbaden, ein

reizvolles Mädchen wie sie – in ihren Händen dieser Titel, der

wie ein Bannfluch war: Hundert Jahre Einsamkeit. Ein

paar Planken unterhalb von ihr kauerte ein rothaariger Schlaks,

das Gesicht mit Pickeln übersäht, und baumelte mit

den Beinen im Wasser

      Für Sekunden tauchte Bob unter. Als er wieder hochkam,

rang er nach Luft. In der Entfernung heulte ein Krankenwagen. Bob

sah die eigenen verlassenen Kleider. Sie lagen als Bündel

auf den Planken, als würde er nicht wiederkommen. Und doch.

Es war alles noch da.

      In kräftigen Zügen schwamm Bob auf das Ufer zu, mit Blick

zum Wehr hinauf. Die Kanalmauer war zu sehen, die

Baumallee in der Mittagssonne, die Badeanstalt – Haselnüsse,

sogar Kirschen gab es hier! Liegeterrassen zogen

vorbei, das Sprungbrett, ein Dutzend Sonnenbadende, die

Garderobentrakte. Über den Bäumen Hausdächer,

das Industriequartier überragt vom Hochhaus der Migros

am Limmatplatz.

      Ehe Bob sich’s versah, war die Landetreppe da. Man

musste sich festkrallen, sosehr riss die Strömung. Das Schwimmen

im Wasserwerkkanal, dachte Bob. Eine Wohltat. Er fühlte

sich wie neugeboren.


Und jetzt? Bob stand im Treppenhaus, unter dem Arm das

Badezeug. Er drehte den Schlüssel, öffnete die Tür und

trat ins Zimmer. War es die Einsamkeit, die ihn traurig machte?

Durch das verstaubte Mansardenfenster drang die

Nachmittagssonne. Bob streichelte seinen Unterarm, auf dem

die Härchen hellblond schimmerten. Er spürte Sonne

und Wasser auf seiner Haut, als hätten sie eine verlangende

unbestimmte Lust in ihm zurückgelassen. Wie schön

es wäre, jetzt mit Fränzi zu schlafen, dachte Bob. Ihren Mund

zu küssen, ihre Brüste zu streicheln, ihre Schenkel.

Er spürte die eigene plötzliche Begierde und stellte sich vor,

ihre zarte behaarte Öffnung zu berühren und Fränzi

zu spüren, Warm, offen, überfliessend.

      Ob sie noch einmal mit ihm schlief?

      Er hätte es so nötig, dachte Bob. Er spürte den Schwanz

stehen, wandte sich vor dem Bett um und rieb sich –

einsam, unendlich verlassen. Sich einen herunterholen, das war

wohl das Beste. Bob liess die Hose fallen, begann sich

innen an den Schenkeln zu streicheln und legte sich rücklings

aufs Bett. Er rieb sich verzweifelt, aber es kam nicht.

Irgend etwas schien ihn zu blockieren.

      Nebenan waren Schritte zu hören, ihre Schritte.

      Fränzi! Bob liess von sich ab. Er stand vom Bett auf, knüpfte

die Hose zu und trat horchend an die Tür. Fränzi!

dachte Bob. Sie war also nicht arbeiten gegangen. Bob hatte

ein ungutes Gefühl. Und wenn er zu Fränzi hinüberging?

Bereits stand Bob im Treppenhaus, hatte die Schritte zu ihrer

Wohnung zurückgelegt. Mein Gott! Bob zitterte. Konnte

Fränzi ihm nicht verzeihen, wenn er alles gestand? Ängstlich

klopfte Bob an ihre Tür.

      Es rührte sich nichts.

      Wieder hörte Bob Schritte. Sie kamen aus einem der

hinteren Zimmer. Fränzi! Nein, sie trat nicht an die Tür, machte

nicht auf und nahm Bob nicht in die Arme. Nichts geschah.

Es ist wie ein schwerer Klumpen, dachte Bob. Diese Angst, diese

Hoffnung! Er hörte Fränzis Schritte. Er schluckte. Alles

zieht sich in dir zusammen. Bob wollte, dass es mit Fränzi

weiterginge. Er stand verloren da, voller Hoffnung – ihr

Daunenkissen, ihr Leintuchzipfel, ihr Haarbüschel: ist es nicht

möglich, irgend etwas von Fränzi festzuhalten? Sie kann

mich nicht einfach fallen lassen. Sie ist es, die mich gerufen hat.

Wieder klopfte Bob. Diesmal kräftiger.

      Nichts.

      Vorsichtig öffnete Bob die Tür. Es knarrte. Fränzi stand

direkt vor ihm. Sie starrte Bob an. Bob sagte:

      „Du bist nicht arbeiten gegangen?“

      Eine Frage wie ein Vorwurf, dachte Bob. Die eigene Stimme,

nicht schwingend, nicht hell, sondern vor Übermüdung

rauh. Noch immer stand Fränzi vor Bob, wie entgeistert, reglos.

      „Ich gehe gleich”, sagte sie. „Du brauchst dich um mich

nicht zu kümmern.”

      „Kannst du mich brauchen? Heute im Klub?” Dieses eine

Mal noch, hoffte Bob. Gib mir eine Chance!

      „Lieber nicht”, antwortete Fränzi. „Ich hab einen Studenten,

der mir hilft.”

      „Einen Studenten?” Bob hielt die Luft an. Was für ein

Gespräch, das er mit Fränzi führte! Sie wies ihn ab – im Klub, im

Bett. Er hatte sie verloren. Und doch hatte er insgeheim

gehofft, Fränzi könnte ihn im Klub gebrauchen. Warum wäre

er bei dieser Sonne sonst vom Baden schon

zurückgekommen?

      „Hast du etwas dagegen?”

      „Ich? Nein”, erwiderte Bob. Er sah Fränzi an, halb fragend,

halb bittend. Ihr Gesicht sah blass aus, die Augen feucht,

vom Wind vielleicht, der durch das Küchenfenster wehte, von

der grellen Sonne... Fränzi! Bob war erschrocken. Es war

nicht gut, wie es war – nein! Bob hatte das Gefühl, er müsste

Fränzi anfassen. Er konnte nicht anders. Er nahm ihre

Hand, hielt sie in der seinen. Und Fränzi verweigerte sich nicht.

      Fränzi schwieg. Sie stiess Bob nicht zurück. Sie liess

seine Hand gewähren. Sie sagte:

      „Ich kann nicht.”

      Langsam löste sie ihre Finger, liess die Hand von Bob los,

nicht grob, nicht wütend, eher gefasst, nachdenklich.

      „Ich dachte, du –” Noch immer ihr Blick, dachte Bob. Er spürte,

wie Fränzi an ihm vorbeisah, versteinert, entschlossen.

      „Nein”, sagte sie. „Ich muss gehen.”

      Das war bitter, im Tonfall kalt. Eine Ewigkeit schien

verstrichen, und noch immer stand Bob da, ausdruckslos, verwirrt,

stand da, ein Verlierer, wie gelähmt.

      „Es ist aus”, sagte Bob rasch, wie zu sich selbst. Ohne

Fränzi war er nichts. Ein erbärmlicher lächerlicher Wixer, dachte

Bob. „Ich dachte bloss”, sagte er stockend. „Ich dachte

bloss, weil du nicht arbeiten gegangen bist –”

      „Genau.” Fränzi hob den Kopf. „Ich bin hier, wie du siehst.”

      „Ja.”

      „Was willst du?”

      Bob schluckte. „Es tut mir leid, Fränzi.”

      „Es tut dir leid?” Fränzi hatte die Stimme angehoben. „Ich

möchte nur wissen was.”

      „Was geschehen ist.” Bob hatte die Hand gehoben, als

wollte er seine Worte unterstreichen. „Fränzi, ich möchte – ich

möchte, dass du mich verstehst.”

      Fränzi hatte einen Schritt zurückgemacht, als brauchte

sie Abstand oder Luft zum Atmen. Sie sah Bob direkt in die Augen.

„Und was ist geschehen?”, fragte Fränzi.

      „Ich –” Fränzi, dachte Bob. Sie war unversöhnlich. Er hatte

es gewusst, die ganze Zeit. Sie hatte ihm nichts mehr

zu sagen. Bob sagte: „Fränzi, ich hab Schritte gehört, deine

Schritte. Da hat’s mir – da hat’s mich umgehauen.”

      „Umgehauen?” Fränzi sah Bob an. Sie machte ein

skeptisches Gesicht. „Komm, Bob. Was willst du?”

      Dich wollte Bob sagen, aber er getraute sich nicht.

Sekunden vergingen. Er schwieg. Das eigene Schweigen. Es kam

ihm lang vor, unerbittlich.

      „Hat’s mit Flühmann nicht geklappt?”, fragte Fränzi.

      „Doch.”

      „Dann geh zu ihm.”

      „Nein”, sagte Bob. Sie will nicht, überlegte er. Mörder! sagte

eine Stimme in Bob drinnen. Komplize! Nie wird Fränzi

verstehen, was du ihr sagen müsstest, dachte Bob. Er hatte Angst.

Ob sie in die Kühltruhe geschaut hat? Bob spürte, wie seine

Hand zitterte.

      „Mit Flühmann hat’s nicht geklappt”, sagte er. „Was meinst

du damit?”

      „Ich weiss nicht. Du sagst mir ja nichts.”

      „Fränzi –”

      „Dieser Transport. Bob, was ist damit?”

      Bob trat zu Fränzi ins Sonnenlicht, das aus der Küche in den

Gang fiel. „Es ist gut so, wie es ist”, sagte Bob.

      Fränzi wandte den Kopf. „Ist dir wieder ein Mann

nachgelaufen? Hat Flühmann – hat er ihn umgebracht?”

      Bob schwieg. Der Lärm eines Lastwagens drang aus der

Neufrankengasse herauf. Bob dachte an die Nacht mit

Flühmann. Plötzlich wurde er wütend – nicht auf Palmieri, nicht

auf Flühmann, die ihn, Bob, benutzt hatten. Wütend auf sich

selbst. Bob hatte das Gefühl, im Leben nicht zurechtzukommen.

Er sagte:

      „Wie kommst du darauf? Es ist sein Hund, den wir

wegbringen mussten. Zum Einschläfern. Es war schlimm, aber –

jetzt hat er’s hinter sich, der Hund.”

      „Ein Hund? Wie hat er geheissen?”

      „Tasso.” Bob hatte es ohne Zögern gesagt.

      „Sein Hund”, sagte Fränzi. „Sein Hund war dir also

wichtiger als ich.” Plötzlich lachte sie auf, wie über sich selbst.

      „Nein, Fränzi –”

      „Ich hab gar nicht gewusst, dass Flühmann einen Hund hatte.

Weisst du jetzt, wer dein Vater ist?”

      „Ja.”

      Bob hätte schreien können. Was für eine Dummheit,

Fränzi anzulügen, dachte er. Es ist wie ein Absturz, es gibt keine Rettung.

      „Ich weiss nicht, was ihr zwei gemacht habt”, sagte

Fränzi. „Du und Flühmann.” Sie sah ihn an. „Etwas ist gewesen”,

sagte sie. Ihre Stimme, ruhig geworden, verriet eine Spur

von Anteilnahme.

      Es war die Überlegenheit von Fränzi, die Bob fürchtete.

Fränzi stellte Fragen, als wisse sie Bescheid. Hat’s mit

Flühmann nicht geklappt? lst dir wieder ein Mann nachgelaufen?

Hat Flühmann ihn umgebracht? Ewig würde Fränzi ihm

mit solchen Fragen kommen, Bob wusste es. Und jetzt? dachte

er. Es war alles verloren. Alles.

      „Übrigens”, sagte Fränzi. „Dein Freund Schubiger – Er ist

wieder hier gewesen. Du sollst ihn anrufen.”

      „Der Bulle?”, fragte Bob. „Wann?”

      Er war zusammengefahren. Dein Freund Schubiger!

      „Wann?”, fragte Bob noch einmal.

      „Heute Morgen.”

      „Warum hast du das nicht gleich gesagt?”

      Fränzi schwieg. Ein Lächeln ging ihr über’s Gesicht. Sie

blickte an Bob vorbei.

      „Er hat mich wieder –”, sagte Fränzi schliesslich. „Er hat

mich wieder so angesehen.” Sie warf Bob einen Blick zu. „Er hat

gefragt, ob ich mit dir schlafe.”

      „Der Sauhund.”

      Fränzi trat zu Bob hin. „Bob, ehrlich”, sagte sie. „Mir reicht’s allmählich.”

      „Weswegen ist er überhaupt gekommen?”

      „Er sagt, er will mit dir reden.”

      Reden, dachte Bob. Die Sau macht sich an Fränzi heran.

Ich habe ihm alles gesagt. Reden, dachte Bob. Was soll das?

      „Schon wieder?”, fragte Bob.

      Fränzi blickte unsicher, suchend.

      Hat Schubiger etwas herausbekommen? Bob fasste sich.

      „Gut”, sagte er. „Ich werde Schubiger anrufen.”

      „Ja.” Fränzi lächelte.

      „Herrgott! Fränzi, glaub mir – Ich will nicht, dass Schubiger

noch einmal hierherkornmt.”

      Fränzi sah Bob ungläubig an.

      „Hoffentlich hört er’s”, sagte sie.

      „Schubiger? Das werde ich ihm sagen, bestimmt.”

Weg von hier, dachte Bob. Solange du bei Fränzi wohnst, lässt Schubiger sie nicht in Ruhe.

      „Du machst dir etwas vor.”

      Bob schwieg. Ich soll mir etwas vormachen? dachte er.

      „Fränzi”, sagte er. „Ich muss mit dir reden. Hast du einmal Zeit?”

      „Reden? Worüber?”

      „Über –” Bob brach ab. Er wusste nicht, wie er das sagen

konnte. „Über uns.”

      Fränzi schwieg.

      Bob sah ihr in die Augen.

      Sie ist unendlich weit weg, dachte Bob. Unerreichbar.

      Fränzi blickte an ihm vorbei.

      Bob sagte: „Ich will dich.”

      Fränzi trat einen Schritt zurück. „Nein”, sagte sie. „Das

stimmt nicht.”

      „Einmal reden miteinander. Das ist doch, was du gewollt hast.”

      „Das ist vorbei. Ich kann nicht.”

      „Vorbei? Nein.” Bob biss auf die Zähne. Ich bin ganz nass,

dachte er. Es ist die Angst.

      Fränzi sah ihn an. „Ich kann mit dir nicht reden”, sagte sie.

„Du hörst nicht zu.”

      „Ich will dich.”

      Fränzi schüttelte den Kopf. „Dir geht es nur um dich selbst.”

      „Das ist nicht wahr. Ich –”

      „Seit du hier bist –” Fränzi sprach sehr bestimmt. „Seit

du hier bist, suchst du jemanden. Und das bin nicht ich.”

      Fränzi sah zur Wohnungstür. Das ist das Ende, dachte Bob.

Siehst du nicht, wie Franzi dasteht, als wollte sie sagen:

Du oder ich, einer muss gehen.

      „Fränzi, du verstehst nicht –”

      „Ich kann nicht, ich will nicht. Bob, du musst jetzt ins Grütli,

zu Helen. Dort ist dein Platz, dort hat alles angefangen.

Helen wartet auf dich –” Fränzi lachte, als schmerzte es sie nicht,

Bob wegzuschicken. „– sie ist trotz allem –”

      Helen ist es, die Zimmerli umgebracht hat, dachte Bob.

Wie hatte Heidi gesagt? Sie hatte Besuch. Sie war oben in der

Wohnung. Das musste Zimrnerli gewesen sein. Auf einmal

war Bob ganz sicher. Er blickte zur Wohnungstür. Es waren nur

drei Schritte.

      Fränzi begleitete ihn. Er schwankte.

      „Helen –”, sagte Fränzi.

      Ich muss gehen, dachte Bob. „Ich muss gehen”, sagte er.

      Es kam Bob vor, als hätte Fränzi lange nachgedacht. Sie hat

sich entschieden, dachte er. Es war auf einmal etwas Offenes,

Unerschütterliches in ihrem Blick.

      „Helen hat’s anders gewollt”, sagte Fränzi. „Vergiss nicht,

sie ist trotz allem deine Tante.” Sie war bemüht, ihren Worten einen

versöhnlichen Ton zu geben.

      Bob stand unter der Tür, Fränzi dicht neben ihm. Sie

berührte mit der Hand seinen Arm.

      „Vergiss das nicht”, wiederholte sie.


Das Grütli war beinahe leer, als Bob eintrat. Einzig am Tisch

unter dem Ofenrohr hielt sich ein Gast auf, mager, rot im Gesicht,

mit schusseligen Händen und dem ruhelosen Blick eines

Arbeitslosen, der ausgesteuert worden war. Krächzend liess

er seine Stimme vernehmen: „U–u–u–nser L–l–e–e–ben

gleicht der R–r–e–e–i–i–s–e eines Wand’rers in der N–a–a–a–cht!”

      „Ruhe”, rief Helen. Ihr Gesicht war bleich, das Haar

ungepflegt, strähnig. Sie sass in der Eckbank, vor sich den

Tages-Anzeiger.

      Der Betrunkene verstummte augenblicklich.

      „Bob”, sagte Helen. „Gerade habe ich an dich gedacht.

Wie geht’s?”

      Bob lächelte ein gezwungenes Lächeln. „Gut”, sagte er und

setzte sich zu Helen. „Und dir?”

      Bob traute sich kaum, Helen anzusehen.

      „Ach –” Helen machte eine abweisende Handbewegung.

„Hast du schon gegessen?” Sie war aufgestanden.

      Verdammt nochmal, dachte Bob. Was steht sie auf! Ich will

nicht essen.

      „Du siehst blass aus”, sagte Helen.

      Sie weicht mir aus, dachte Bob.

      Helen war hinter das Buffet getreten. Sie nahm zwei Tassen

und stellte sie unter die Kaffeemaschine.

      „Ist Schubiger –”

      Helen sah auf. „Wie geht’s der Kleinen?”, fragte sie. „Schaut

sie nicht recht zu dir?”

      Bob spürte Wut in sich aufsteigen. Helen war einfach

aufgestanden, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte.

Die Kaffeemaschine begann zu sprudeln. Helen ist genau

wie Mutter, dachte Bob. Sie wollen nicht reden,

die Kaltenbach-Schwestern. Oder sie können nicht.

      Helen brachte Kaffee. „Bob, du musst essen”, begann sie

wieder. „Du bist zu leicht.”

      „Ist Schubiger nochmals dagewesen?”

      „Nein.”

      Das ist gelogen, Bob wusste es. Er sagte: „Ich soll Schubiger

anrufen. Er sucht nach mir.”

      Helen starrte auf die Tassen, die sie gebracht hatte.

      „Heidi ist mir davongelaufen”, sagte sie. „Und alles, weil

so ein Typ daherkommt.”

      „Wie damals”, sagte Bob.

      Helen hatte sich in die Eckbank gesetzt. Sie tat, als hätte

sie nicht verstanden.

      „Ihr habt beide etwas gehabt mit ihm.”

      „Mit wem?”

      „Mit Zimmerli”, sagte Bob. „Du und Mutter.”

      „Iris?” Helen sah Bob an. „Das hat mit Heidi nichts zu tun.”

      „Er treibt es mit Mutter, bringt ihre Ehe auseinander – nein,

auseinander ist sie schon, als Zimmerli kommt, sonst hätte

er kein – wie sagt man, kein Brot gehabt? Er schläft mit Mutter.

Sie wird schwanger. Das bin ich, der unterwegs ist. Ihrem

Mann sagt Mutter, ich sei sein Kind. So bekomme ich den Falschen

zum Vater. Tschumper, nicht Zimmerli.”

      „Um Gottes Willen! Das darfst du nicht sagen.”

      „Zimmerli hat nicht genug. Er inszeniert mit Mutter den

Autounfall, bei dem Tschumper ums Leben kommt.”

      „Hör auf, Bob. Was soll das?”

      „Jetzt steht dem – Eheglück nichts mehr im Weg, nur –”

      „Bob –”

      „– sie verstehen sich nicht mehr. Mutter wohnt jetzt in der

Pension, bei Grossmutter. Hier fängt mein Leben an.”

      „Bob, was redest du?”

      „Eines Nachts, ich bin im Bett, steht Zimmerli draussen.

Er lärmt im Gang herum. Er weckt die Leute auf. Er will Mutter,

aber – Mutter will nicht. Ich höre, wie sie reden. Eine Türe

fällt ins Schloss. Er nimmt Mutter. Sie schreit verzweifelt.”

      „Das kannst du gar nicht wissen.”

      „Zimmerli brüllt. Mutter wehrt sich. ,Jetzt sei doch still.

Der Kleine’, sagt sie. ,Du weckst den Kleinen auf. Er hat ja Angst

vor dir.’ Zimmerli ist betrunken.”

      „Wie willst du das wissen?”

      „Ich hab vor der Tür gestanden, im Gang draussen. Ich hab

mich ins Bett verkrochen. Zimmerli kommt in mein Zimmer.

Er sagt: ,Du brauchst keine Angst zu haben. Ich mache dir nichts.’

Er zittert am ganzen Körper. ,Daddy weiss, was er macht.’

Dann fällt er der Länge nach hin. Mutter stürzt herein. Die Pensionsgäste stehen herum. Sie tuscheln. Ich sitze aufrecht

im Bett, starr. Zwei Männer packen Zimmerli. Sie schaffen

ihn hinaus.”

      „Bob, du warst gerade vier. Das kannst du nicht wissen.”

      „Mir ist kalt. Ich schlottre. Es ist Nacht. Ich bin wach. Alles ist

still. Ich höre ein Stöhnen durch die Wand. Eine winselnde

Stimme. Es ist Zimmerli. Ich höre nicht, was er sagt. Lange

geschieht nichts. Schliesslich höre ich Mutter sagen: ,Wenn du das

tust, bringe ich mich um.’ Zimmerli schweigt. Mutter kommt

herüber. Ich stelle mich schlafend.”

      Das Telefon läutete, aber Helen blieb sitzen. Der Betrunkene

war eingenickt. Helen hob den Kopf.

      „Hat er’s dir gesagt?”, fragt sie.

      „Wer?”

      „Zimmerli.”

      „Dazu hat er keine Gelegenheit mehr gehabt.” Bob starrte

auf seine rechte Hand. Er betrachtete die Linien auf ihrer

Innenfläche. Die Linien des Lebens, des Kopfes und des Herzens.

Sie verschwammen Bob vor den Augen. Er blickte Helen an.

      „Du hast Zimmerli umgebracht”, sagte er.

      Helen wackelte mit dem Kopf. Ihr Blick war starr geworden.

Eine Träne lief ihr über die Backe. Drohend sagte sie:

      „Mach, dass du hinauskommst.”

      Helen war aufgesprungen. Sie ist verrückt geworden, dachte Bob.

      „Du weisst nicht, was du redest”, sagte Helen.

      Sie fegte mit einem Schlag die Tassen vom Tisch. Bob war

aufgestanden. Helen sah ihn an.

      „Bist du gekommen, mir Vorwürfe zu machen?”, fragte sie.

      Der Betrunkene war aufgewacht. Er hob seinen Kopf. „Was ist?”, fragte er.

      „Ich schliesse!”, rief Helen. Sie hatte die Wirtshaustür

aufgerissen. „Das gilt für beide. Hinaus!”

      Wortlos ging Bob hinaus.


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