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KAPITEL XV



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Ah, war das gut! Flühmann lag in der Badewanne; er musste

lachen. Er hatte Glück gehabt, dachte Flühmann. Er war noch einmal

davongekommen. Am Nachmittag hatte Flühmann im Garten

die letzten Spuren von Palmieris Verwüstungsaktion

am Teich beseitigt. Das neu eingesetzte Schilfrohr, dachte er.

Flühmann beugte sein linkes Knie, hob den Fuss und

bewegte die Zehen. Das Schilfrohr, das er unter den missbilligenden

Blicken zweier Spaziergänger ausgegraben und zum Wagen

geschleppt hatte! Flühmann lehnte den Kopf zurück. Der bizarre

Vogel, der gross, weissgrau, an der Uferböschung gestanden

hatte, lautlos – ein Fischreiher? Er hatte an der Limmat noch nie

einen Fischreiher gesehen. Wie ein Storch hatte der Vogel

auf einem seiner Beine gestanden, stelzenhaft, den Schnabel dem

Flusslauf zugewandt, über dessen Wasser manchmal

sekundenschnell ein Fisch zu sehen war, eine Flussforelle oder

Barbe, die nach einer Mücke oder sonst etwas schnappte.

Flühmann, reglos, staunend, war einen Schritt nähergetreten, die

Fluchtdistanz überschreitend. Der Vogel hatte sich

aufgeschwungen und über der Flussmitte in halbrundem

Bogen abgedreht, hatte an der Uferböschung weiter

unten nochmals Halt gemacht und war kurz darauf verschwunden.

Flühmann liess sich langsam ins Badewasser gleiten,

das sich wohlig anfühlte. Er hatte es geschafft, dachte er.

      Das Telefon läutete.

      Ob das Vilma ist? Flühmann stieg triefend aus der

Badewanne, nahm den Frottemantel und trat im Vestibül an den

Apparat. Vilma! Er nahm den Hörer. Warum konnte er morgen

Abend nicht am Meer sein und mit ihr am Strand entlanggehen?

Hand in Hand, das wäre wunderschön.

      „Ja?”, rief Flühmann. Wieder versuchte er mit der linken

Hand, den Gürtel um den Frottemantel straffzuziehen,

aber es gelang nicht. Und zudem war nicht Vilma, sondern

ein Herr Keller von der Kantonspolizei am Apparat,

ein Detektiv-Wachtmeister.

      „Kann ich Herrn Flühmann sprechen bitte?”

      Kellers Stimme tönte behäbig, fand Flühmann. Oder meinte

er das nur, weil sie eine berndeutsche Färbung hatte?

      „Bin’s selber”, sagte er.

      „Herr Flühmann?” Keller räusperte sich. Er war offenbar

erstaunt. „Ich hab ein paar Mal versucht, Sie zu erreichen.”

      „Mich?”

      „Um was es geht, ist folgendes –”

      „Sie haben versucht, mich zu erreichen?”

      „Gestern, tagsüber und am Abend. Heute Nachmittag wieder.”

      „Da habe ich gearbeitet.” Das stimmte nun wirklich, dachte Flühmann. „Ich bin im Garten gewesen.”

      „Nun ja, weshalb ich Sie anrufe: der Mann heisst Palmieri,

Charles Palmieri, 39 jahre alt, amerikanischer Staatsbürger.

Ich vermute, Sie kennen ihn. Er war im Hotel Zürich abgestiegen.”

      „Flüchtig, wenn Sie so wollen.”

      „Der Punkt ist der –”

      „Sehr flüchtig, muss ich sagen.”

      „– Mr. Palmieri ist tot.”

      „Was?”, rief Flühmann ungläubig, beinahe erstaunt. Fast

so, als könnte Palmieri gar nicht tot sein. Für mich ist er noch immer

lebendig, dachte Flühmann. Das Schwein! Er fragte:

      „Er ist tot? Was ist passiert?”

      „Das wissen wir nicht genau.”

      „Wissen Sie, ich hab Palmieri erst kürzlich –”

      „Er wurde gefunden. Nachts in einem Mietwagen, unterhalb

einer Kuhweide. Ein völlig ausgebrannter Mercedes – wenige

Kilometer vor Einsiedeln. Das stand in den Zeitungen.”

      „Und Palmieri?”

      „Nun ja, gerade viel war nicht mehr übrig von dem Mann. Sie

haben von dem Unfall nichts gehört?”

      „Nein.”

      „Tut mir leid, Herr Flühmann, Wenn ich –”

      „Macht nichts, nein.”

      „Sie haben gesagt, Sie kennen Mr. Palmieri.”

      „Naja.”

      „Darf ich Sie fragen woher?”

      „Tja, ich –” Flühmann brach ab. Das hatte er Jeff zu verdanken!

      „Bitte verstehen Sie das nicht falsch, Herr Flühmann.

Aber an Palmieris Aufenthalt in Zürich ist einiges noch unklar.

Und da Sie den Verunfallten gekannt haben, würde ich Ihnen gern

ein paar Fragen stellen, wenn Sie gestatten.”

      „Bitte.”

      Keller schloss ein Fenster oder sonst etwas. „Wann haben

Sie Mr. Palmieri das letzte Mal gesehen, Herr Flühmann?”

      Mr. Palmieri! Flühmann war nahe daran zu lachen. Keller meint

wohl das Schweinl Er packte erneut den Gürtel seines Frottemantels.

      Keller fragte: „Ist das lange her?”

      Endlich gelang es Flühmann, den Frottemantel zuzuziehen.

Was weiss schon dieser Detektiv-Wachtmeister!

      „Das war letzten Dienstag.”

      „Am Dienstag also.” Keller betonte das Datum, als versuchte

er’s in einem Ablauf oder sonstwo unterzubringen. „Und können Sie

mir sagen, wo Sie Mr. Palmieri am Dienstag gesehen haben?”

      „Er ist hierhergekommen.”

      „Hierher?”, sagte Keller. Offenbar erstaunte ihn das. „Sie

meinen zu Ihnen, nach Kilchberg?”

      „Ja.”

      „Um was ging es dabei?”

      „Palmieri –” Flühmann räusperte sich. „Er hat sich für die Confidential Phoenix interessiert, eine Firma, die einem

meiner Partner gehört, drüben in den Staaten. Mir hat Palmieri

gesagt, er will investieren. Alles in allem ist er keine halbe

Stunde hier gewesen.”

      „Eine halbe Stunde”, murmelte Keller und schwieg. Machte

er Notizen? „Kannten Sie Mr. Palmieri schon länger?”

      „Wir haben überhaupt nichts miteinander zu tun gehabt.

Dienstag war das erste Mal. Ich weiss auch nicht, wie Palmieri auf

mich gekommen ist. Es war alles seine Idee.”

      „Und wie sind Sie verblieben?”

      „Ich hab Palmieri gesagt, was los ist. Dass die Confidential

Phoenix nicht mir, sondern Jeff Winter gehört. Und dass Jeff entschlossen ist zu verkaufen. Jemand anderem.”

      „Und Mr. Palmieri? Wie hat er das aufgenommen? Was hatten

Sie für einen Eindruck?”

      „Ich weiss nicht”, sagte Flühmann. „Ich hatte das Gefühl,

er stand unter Druck. Er konnte seine Hände nicht ruhig halten.”

      „Sie meinen, er war aufgeregt?”

      Flühmann machte ein hohles Kreuz. Er zerrte an der

Kabelschnur. „Er stand unter Druck”, wiederholte er. „Jedenfalls

bin ich erleichtert gewesen, als er gegangen war.”

      „Und warum?”

      Flühmann liess die Kabelschnur fallen. „Er war nicht

der Mann, mit dem man ins Geschäft kommen will. Wenn Sie verstehen, was ich meine.”

      „Sie sagen, Mr. Palmieri stand unter Druck. Hat er versucht,

auf Sie Druck auszuüben?”

      Flühmann lachte. „Palmieri?” Er blickte gespannt herab auf

seinen linken Fuss. Warum wurde er ungeduldig? Weil ein

Detektiv-Wachtmeister ein paar Fragen stellte? Flühmann sagte:

      „Er hat nichts in der Hand gehabt.”

      Keller seufzte. „Gut für Sie.”

      „Ich hatte mit ihm nichts mehr zu tun. Die Sache war gelaufen.”

      „Wir haben bei Mr. Palmieri eine Visitenkarte gefunden, auf

der eine Nummer notiert war. Ihre Telefonnummer, Herr Flühmann.”

      „Die haben Sie in Einsiedeln gefunden, am Unfallort,

in seinem Auto?”

      „Nein, in einem Anzug, den er im Hotel gelassen hatte.”

      „Aber verunfallt ist er in Einsiedeln?”

      „Kurz nach Schindellegi.”

      „Ach nein.”

      „Diese Confidential Phoenix stand also zum Verkauf.

Sie haben aber nur gesagt, Mr. Palmieri wollte Geld investieren.

Wollte er die Firma denn übernehmen?”

      „Palmieri wollte –” Umgebracht werden, dachte Flühmann.

„Er hat von einer Beteiligung geredet.”

      „Eine Beteiligung? Ist das nicht etwas anderes?”

      „Sie können’s nennen, wie Sie wollen, Herr –” Flühmann

brach ab, als hätte er den Namen vergessen.

      „Keller”, half der Detektiv-Wachtmeister nach.

      „– Herr Keller. Eine Beteiligung, eine Übernahme.

Ich glaube, darauf wär’s hinausgelaufen, wenn’s nach Palmieri

gegangen wäre.”

      „Hören Sie, Herr Flühmann. Ich würde gern einmal schnell

bei Ihnen vorbeikommen, wenn’s Ihnen recht ist.”


Detektiv-Wachtmeister Keller, ein Mittfünfziger, trug

Flanellanzug. Er hatte es im Vestibül vorgezogen, seinen Hut

in der Hand zu behalten. Nach einem interessierten Blick

durch das Balkonfenster sagte er:

      „Ich glaube, Herr Flühmann, ich habe nicht ganz verstanden,

was Sie mit Mr. Palmieri gehabt haben. Sie haben am

Telefon gesagt, er hätte Ihnen eine Beteiligung vorgeschlagen.”

      „Er hat das nicht mir vorgeschlagen, sondern einem

meiner Partner, Jeff Winter.”

      Keller blickte verständnislos. „Aha.” Er liess sich ins

Ledersofa sinken, den breitschultrigen Oberkörper zurückgelehnt,

die Beine gespreizt. „Und diesem Mr. Winter, ihrem Partner,

gehört also – hat die Confidential Phoenix gehört, eine Firma mit

Sitz in Übersee?”

      „New Jersey City.”

      „Aha.” Keller hielt den Hut in der rechten Hand und

fächerte sich Luft zu. Er hatte hellgrüne, hervorstehende gerötete

Augen, die auf Flühmann gerichtet waren, als wollte er sagen:

Hier bin ich also! Was haben Sie mir zu sagen? Keller fragte:

      „Wer ist denn nun der Käufer?”

      „Die Zephyr Link Corporation.”

      „Mit Sitz in –?”

      „Vaduz.”

      „Vaduz”, sagte Keller und lächelte. „Und Mr. Palmieri?

Hat Mr. Palmieri davon gewusst?”

      „Natürlich nicht.”

      Keller nickte. Er hatte den Kopf gehoben und liess die

Augen durch das Wohnzimmer wandern. „Sie haben ihn hier

empfangen?”, fragte er.

      „Ja.”

      „Und wann war das?”

      Dienstag. Flühmann wusste, er hatte das Keller bereits

gesagt. Vorhin am Telefon. Hofft der Detektiv-Wachtmeister, du

sagst etwas anderes? Flühmann sagte:

      „Am Dienstag.”

      Palmieri ist also danach noch gesehen worden, dachte

Flühmann. Mittwoch, Donnerstag. Zumindest im Hotel Zürich.

      Keller blickte Flühmann an. „Wissen Sie, ob er Feinde gehabt hat?”

      „Feinde? Davon weiss ich nichts.”

      „Hat er beiläufig, ich meine – hat Mr. Palmieri gesagt,

wo er hinwill?”

      „Wie meinen Sie das?”

      „Er hat Ihnen nicht gesagt, dass er nach Einsiedeln will?”

      „Einsiedeln?” Palmieris Wallfahrt, dachte Flühmann. Er hatte

sich in den Lehnstuhl gesetzt, Keller gegenüber. „Nein.”

      „Mr. Palmieri hat Ihnen gegenüber nie angedeutet, dass

er nach Einsiedeln will? Oder in die Gegend dort?”

      Flühmann strich mit der Hand über’s Kinn. „Einsiedeln –”

Er tat, als versuchte er nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf.

      „Oder sonst wohin?”

      Flühmann blickte zu Boden. So siehst du nachdenklich

aus, dachte er. Eigentlich brauchst du überhaupt nicht zu spielen.

      Keller sagte: „Ein solcher Hinweis könnte für uns wichtig sein.”

      „Doch.” Flühmann hob rasch den Kopf. „Jetzt fällt es mir

wieder ein. Campione. Er hat gesagt, er muss nach Campione.”

      „Campione?” Keller hatte die Augenbrauen gehoben.

Er verzog die Mundwinkel zu einem gekränkten durchsichtigen

Lächeln.

      „Palmieri hat mir das unter der Haustüre gesagt, als

müsste er’s loswerden”, fügte Flühmann hinzu. Er blickte auf

die Armbanduhr. Halb sechs. Die Zeit interessierte

Flühmann nicht.

      Keller schnalzte. „Campione.” Er blickte Flühmann

zweifelnd an, die Pupillen seiner Augen geweitet. „Er hat nicht

gesagt, was er dort will?”

      „Er trifft jemanden, hat er gesagt.”

      „In Campione?”

      „Das ist, was er gesagt hat.”

      „Und wann?”

      „Das hat er nicht gesagt.” Campione, überlegte

Flühmann. Er merkte, wie Keller ihm direkt in die Augen blickte. Detektiv-Wachtmeister, dachte Flühmann. Für etwas bist

du schliesslich hergekommen.

      Keller kratzte sich im Haar. „Der Punkt ist der –”, sagte er und blickte an Flühmann vorbei ins Leere.

      „Wir haben, das stimmt, Palmieri in Schindellegi gefunden.

Er hat sich aber den Schädel nicht im Wagen zertrümmert, mit dem

er ins Tobel hinabgestürzt ist.”

      „Nein?”

      „Das ist, was der Gerichtsmediziner sagt.”

      Flühmann kratzte sich am Ohr. Was der Gerichtsmediziner

sagt! „Herr Keller, können Sie mich auf dem laufenden halten? Die

Geschichte mit Palmieri beunruhigt mich.”

      Keller rückte auf dem Ledersofa, als wollte er gehen. „Sie

können mich jederzeit im Büro anrufen.”

      „Wissen Sie, ich bin von Jeff beauftragt worden, die

Confidential Phoenix zu verkaufen. Und Palmieri war einer, der

sich für die Firma interessiert hat, aber –”

      Keller blickte auf.

      Flühmann fügte hinzu: „– als er hier war, konnte oder wollte

er nicht sagen, in wessen Auftrag er handelt.”

      „Palmieri?” Keller beugte sich vor. „Sie waren mit ihm

auf dem gleichen Flug, Herr Flühmann, Swissair 101 von New York.

Haben Sie das nicht gewusst?”

      Flühmann liess den Mund halboffen stehen. Gleichzeitig

erwog er die Risiken seiner Antwort, dachte an Zeugen, die Keller

ausfindig machen konnte, und sagte:

      „Das hab ich nicht gewusst.”

      Keller hatte sich erhoben. „Ich glaube, Herr Flühmann, das

ist im Moment alles.”

      Auch Flühmann war aufgestanden.

      Keller blickte auf die Uhr, setzte den Hut auf und wandte sich

zum Gehen. „Wirklich hübsch haben Sie’s hier”, sagte er.

      „Möchten Sie – Ich meine, ich zeige Ihnen gern noch das Haus

oder den Garten, wenn Sie wollen.”

      Sie standen bereits im Vestibül.

      „Ich muss leider gehen.” Unter der Haustür wandte Keller

sich noch einmal um. „Übrigens –” Er wollte Flühmann die Hand

geben, zog sie aber im selben Augenblick zurück. „Sie kennen

nicht zufälligerweise Bob Franey?”

      „Sie meinen den jungen Amerikaner, der im Tennisklub

aushilft?” Flühmann hielt die Türklinke in der Hand. Er bemühte

sich zu lächeln. „Ich habe gestern oder vorgestern mit ihm

an der Theke geplaudert. Wir haben festgestellt, dass wir drüben

gemeinsame Bekannte haben. Tja, manchmal ist die Welt

wirklich klein.”

      „Sie wissen nicht, wo ich Bob Franey finden kann?”

      „Er wohnt bei Fränzi, glaube ich – jemand hat mir das jedenfalls

gesagt. Fränzi, ich meine Fräulein Signer. Sie ist Gerantin

im Klub, sie wohnt –”

      „Dort ist er nicht mehr.”

      Flühmann hob die Hand. „Ja dann –” Du musst Bob finden,

bevor er eine Dummheit macht, dachte Flühmann. Er schloss die

Haustüre auf.

      „Sieht aus, als sei er verschwunden.”

      „Bob Franey? Das glaube ich nicht.” Flühmann machte ein besorgtes Gesicht. Er blickte auf. „Herr Keller –” Er drückte Keller

kräftig die Hand. „Ich rufe Sie an, sobald ich etwas von ihm

gehört habe.”


„Jeff?”, rief Flühmann. Er stand im Hauptbahnhof in einer

der Zellen der Telefonzentrale. Touristen und Fremdarbeiter füllten

um diese Zeit den Raum, kaum noch Geschäftsleute.

Flühmann hatte schon einmal angerufen, aber Jeff hatte mit schwerfälliger apathischer Stimme geantwortet: „Ich glaube, Mister,

Sie sind falsch verbunden.” Das hatte Flühmann noch nicht

erlebt, nicht mit Jeff. „Hör zu, Jeff”, hatte er gesagt. „Ich versuch’s

nochmals in zwei Stunden. Wenn du einverstanden bist,

sagst du jetzt: ,Macht nichts.’” Nach zwei Sekunden war es

zurückgekommen: „Macht nichts.” Ein mechanisches

verkatertes Echo.

      „Hello, Max.” Das war jetzt Jeff. „Tut mir leid, ich meine wegen

vorhin.” Jeff lachte ein schräges brüchiges Lachen. „Ich hatte

jemanden hier. Ich konnte nicht reden. How are you?”

      „Ca va. And you? How are you?”

      „Ca va.”

      Das tönt nicht gut, fand Flühmann. „Warum hast du nicht angerufen?”, fragte er.

      „Ich konnte nicht.”

      Flühmann hatte sich umgedreht. Ein Mann, schwarzhaarig, kleinwüchsig, sicher sechzig, stand in der Telefonzelle gegenüber.

Er redete wie ein Sturzbach, wippte mit den schmalen

Schultern und lachte. „Du konntest nicht?”, fragte Flühmann.

      „Ich war drüben in Arlington. Sie haben wegen Sandy

aus dem College angerufen. Du weisst, sie wird noch immer

vermisst.”

      „Weisst du denn jetzt, ob sie abgehauen ist?”

      „Das ist, was ihre Freundin annimmt. Ich habe mit dem Rektor gesprochen. Und mit einem ihrer Lehrer.”

      „Und?”

      „Sie sind völlig überrascht.”

      „Und Elinor?”

      „Sie hat die halbe Nacht nicht geschlafen. Sie hat Angst,

es könnte etwas passiert sein. Sandy ist –”

      „Passiert? Was denn?”

      „Sie hat von Kidnapping geredet. Wildes Zeug, das sie zusammenfantasiert.”

      „Gekidnapped? Sandy?”

      „Sandy ist abgehauen, das ist passiert. Es gibt nichts,

was auf Kidnapping hinweist.”

      „Hat sie wenigstens Geld dabei?”

      „Das wissen wir nicht genau. Abgehoben hat sie nichts.”

      „Brauchst du jemanden, der sie suchen hilft?”

      „Du, ich hoffe nicht, dass –”

      „Ich denke an Bob.”

      „Bob? Hast du Bob gesagt?”, fragte Jeff. Er war erstaunt.

Er kaute irgend etwas und schluckte. „Wo ist er? Du meinst Bob

Franey?”

      „Er ist hier. Er hilft bei uns im Tennisklub aus, an der Theke.”

      „Was?” Jeff war überrascht.

      „Soll ich Bob fragen?”

      „Naja.”

      „Ich kann Bob fragen, es sei denn –” Er ist ebenfalls abgehauen,

überlegte Flühmann.

      „– es sei denn?”, fragte Jeff.

      Flühmann zögerte. Er hatte im Grütli nach Bob gefragt.

Er hatte entlang der Langstrasse die Lokale abgeklappert, Ole Ole,

Räuberhohle, Strauss, Lugano Bar, Schweizerdegen,

Longstreet, Krokodil, Hotel Italia, aber in keinem war Bob

zu finden gewesen. Sogar im Café Boy unter den

Schachspielern hatte Flühmann nachgeschaut, im Volkshaus

am Stehimbiss, der alkoholfrei geführt wurde. Flühmann

hatte Fränzi angerufen. Sie hatte ihn abgefertigt, als sei er an

allem schuld. Dabei hatte sich Bob von sich aus mit

Palmieri eingelassen.

      „– es sei denn?”, fragte Jeff erneut.

      „Nichts”, erwiderte Flühmann.

      „Von mir aus”, sagte Jeff. „Du kannst Bob fragen. Warum

nicht?” Er kaute auf etwas herum, was ein raspelndes Geräusch

erzeugte. „Finde ich keine schlechte Idee.”

      „Seit zwei Tagen wird Sandy vermisst. Ich werde das

Bob sagen. Und dass ich ihm den Flug bezahle, wenn er sich

bei der Suche beteiligt. Und die Spesen.”

      „Dieser Bastard”, fluchte Jeff.

      Ist Sandy nicht genau das, was Bob jetzt braucht? dachte Flühmann. Er hob den Kopf, nahm den Hörer in die andere Hand

und warf einen Blick aus der Zelle. Die Kabine gegenüber

war leer. Sandy wird Bob auf andere Gedanken bringen, überlegte

Flühmann. Und du bist ihn los.

      Flühmann sagte: „Ich rede mit Bob.”

      Eine Frau betrat mit wogendem Schritt den Raum. Grossgewachsen, hellbraunes toupiertes Haar, glänzende

gläserne Augen, schmaler spitzer Mund. Einer der

Italiener, die zu dritt neben der Drehtüre standen, blickte ihr

ungeniert nach. Die Frau war Mitte dreissig, sah aber

älter aus. Sie lächelte. Ihr hochgeschlitztes schwarzes Kleid

entblösste lange hellhäutige Beine.

      „Gut.”

      „Kannst du mich morgen anrufen?” Flühmann stand

an die Kabinenwand gelehnt, strich die Haarsträhne aus seiner

Stirn und suchte nach einer Cigarette. „Auf die Nummer,

die ich dir das letzte Mal gegeben habe?”

      Ungeduldig blickte Flühmann zum Ausgang. Er hatte Jeff

die Nummer einer Telefonzelle am Escher-Wyss-Platz

gegeben. Auf keinen Fall will ich noch einen Anruf von Jeff

zu Hause, dachte er.

      „Zur abgemachten Zeit?”

      Die Frau im schwarzen Kleid war in die freigewordene

Zelle getreten. Sie zog hinter sich die Glastüre zu und entnahm

ihrer Handtasche Spiegel, Puderdose und Quaste. Flühmann

zündete die Cigarette an. Er öffnete seine Kabine. Mein Gott, dachte

Flühmann. Wenn du Bob erst dazu gebracht hast, ins nächste

Flugzeug zu steigen!

      „Zur abgemachten Zeit”, hatte Jeff gesagt.

      Zwei Minuten später stand Flühmann in der Bahnhofhalle.

Der abendliche Berufsverkehr war gelaufen. Auf einer Anzeigetafel

wurden elektronisch Destinationen, Abfahrtszeiten und

Geleise der Züge umgeblättert und neu aufgelistet. Im Fensterglas

der Überdachung aus Stahl spiegelte sich die letzte Sonne,

hoch und rot über der Kolonne der Eisenbahnwaggons und den

Köpfen der Passagiere, mit der Leuchtkraft einer

Feuerkugel. Was ist, wenn Bob hier herumhängt? Suchend

hob Flühmann den Kopf. Ein junger Mann kauerte neben

einem Gepäckwagen am Boden, mit dem Rücken an seinen

Schlafsack gelehnt.


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