Komplize Leserbrief Roman lesen weiter zurück
KAPITEL XIII
Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen
unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,
Zürich 1988.
Ein Stuhl lag umgekippt am Boden. Das Fenster war aufgerissen,
Bob kauerte zitternd im Fensterrahmen, gespannt, als wollte
er im nächsten Augenblick hinunterspringen. Aus seinem Blick sprachen Hass und Verachtung, Entrüstung und Abwehr.
Bob atmete stossweise, die Arme gespannt, die Hände beidseits
am Fensterrahmen festgekrallt.
Flühmann traute sich nicht, ins Zimmer zu treten. Was für
ein Chaos! Bob hatte sein Manuskript zerfetzt, die Blätter zerknüllt, zerrissen. Sie lagen über den Boden der Kammer verstreut,
halb um Tisch und Bett herum, ein Bild der Selbstzerstörung.
Was hatte Bob soweit gebracht? An der Wand stand das Bett,
darauf ein aufgeschlagener Koffer, aus dem sich ein
Kleiderhaufen über die nackte Matratze ergoss. Dazu das
Bettlaken, zerwühlt, schmutzig – und überall Papier,
zerknüllt, vollgeschrieben, Produkt seiner Fantasie, mit einem
Schlag wertlos, zum Hirngespinst geworden.
Die Schreibarbeit, dachte Flühmann. Die Arbeit von
Wochen, von Monaten vielleicht. Das alles hatte Bob vernichtet.
Flühmann stand an den Türpfosten gelehnt.
Etwas fiel zu Boden. In Bobs Nahe schepperte es, als sei’s
ein Schlüssel.
„Bob, ich tu dir nichts”, versicherte Flühmann.
Bob rührte sich nicht. Er verharrte zusammengekauert
im Fenster. Er starrte Flühmann an, noch immer hasserfüllt, mit
durchbohrendem Blick.
Mein Gott, dachte Flühmann. Wenn Bob jetzt sprang!
Der Mopedhändler, die zwei Italiener! Flühmann warf einen Blick
hinter sich. Im Treppenhaus war alles ruhig, alles leer.
Nur der Verkehrslärm war von der Strasse herauf zu hören.
Und jetzt, durch das Fenster der Mansarde, ein
ausfahrender Eisenbahnzug. In diesem Augenblick rutschte
Bob, wehrte sich und stemmte das Knie gegen
den Fensterbalken.
„Willst du nicht herunterkommen?”, fragte Flühmann.
Bob schwieg.
„Du willst wissen, wer Zimmerli gewesen ist.”
Bob sah Flühmann an. Fiebrig, nass, heiss, kalt. Er hockte
auf dem Fensterbrett, starr. Sein Mund bewegte sich, als
wollte er etwas sagen. Fast unhörbar, mit zitternder Stimme
sagte Bob:
„Mörder.”
Flühmann schwieg. Es gab nichts zu bestreiten. Es war
nicht die Situation, seine Tat zuzugeben oder sie gar
herunterzuspielen – mit einem Geständnis aus taktischen
Gründen allenfalls. Noch immer fixierten Bobs Augen
ihn mit Hass und Verachtung. Ich muss das entgegennehmen,
dachte Flühmann. Es muss aus Bob heraus.
„Hier siehst du, was du angerichtet hast”, sagte Bob.
„Kannst du mich nicht endlich in Ruhe 1assen.”
Flühmann sah Bob unsicher an.
„Du hast –”, sagte Flühmann.
„Ja, ich hasse.” Bob schlug die Hände vor das Gesicht.
Er sah blass aus, übermüdet.
„– du hast keinen Grund, dich kaputt zu machen.”
Bob sagte: „Nein. Das hast du schon besorgt.”
„Das kann ich nicht, Bob. Du bist besser als ich, stärker.
Niemand kann dich kaputt machen, nur du selbst.”
Davon war Flühmann nun allerdings nicht gerade überzeugt.
„Du Sau”, brach es aus Bob heraus. „Du verdammte Sau.”
Flühmann schwieg.
„Sauhund, du dreckiger!” Bobs Stimme war sicherer
geworden. „Mörder!”, rief er. „Du hast mich da hineingezogen.
Was geht’s mich an, in welchen Deals du deine
Dreckpfoten drinhast. Du Drecksau, du Geldsack. Und jetzt
stehst du da.”
Nein, dachte Flühmann, aber er schwieg.
„Du schweigst.”
„Ja.”
Ein Zug donnerte vorbei. Flühmann rührte sich nicht.
Er hielt den Blick gesenkt.
„– Du Sau! Jetzt sagst du nicht einmal mehr ja. Jetzt
sagst du gar nichts mehr.”
Bob stieg vom Fensterbrett herab, trat ins Zimmer,
sah Flühmann direkt in die Augen und riss das Heftplaster
von der Hand.
„Das hier –”
Flühmann sah die eiternde Wunde.
„Das bin ich.”
Nein, dachte Flühmann. Er schüttelte den Kopf.
Er hatte die Türe geschlossen. Jetzt trat er zu Bob hin.
Bob wich einen Schritt zurück. Seine Augen waren
feucht. Er blieb stehen. Er hielt die Hand.
„Willst du das Fenster nicht schliessen?”, fragte
Flühmann. Er setzte sich auf den äussersten Rand der
Matratze. „Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.
Es wird alles gut.”
„Gut?”, zweifelte Bob.
Flühmann nickte. „Das ist nur die Angst.”
„Du bist nicht mein Freund.”
„Die Angst kommt immer erst nachher. Wenn das Ding
gelaufen ist, wenn die Spannung nachlässt, dann beginnen die
Nerven zu flattern.”
„Gelaufen? Was soll gelaufen sein?”
„Alles.”
„Nein. Jetzt fängt es erst an.”
„Was?”
„Die Hölle.”
„Bob, hör zu. Ich kann dir –”
„Du kannst gar nichts.”
Flühmann streckte die Beine. War nicht Bobs Ton
versöhnlicher geworden? dachte Flühmann. Ein Zug ratterte
in den Hauptbahnhof hinein. Sie schwiegen. Flühmann
seufzte. Er sagte:
„Zimmerli hat also gesagt, er sei dein Vater?”
Bob schloss das Fenster. Er blickte nachdenklich, stumm.
Er antwortete:
„Du sagtest, Zimmerli ist damals abgehauen. Nach
dieser – dieser Ampa-Affäre. Du sagtest, er blieb während
Monaten verschwunden.”
„Ja.” Flühmann richtete den Oberkörper auf und sah
zu Boden, irgendwie erleichtert.
Bob hob den Stuhl auf, der am Boden gelegen hatte.
Er zog ihn mit einem Ruck zu sich heran und setzte sich verkehrt
herum. Sie schwiegen eine Weile. Die Spannung zwischen
ihnen hatte sich gelöst. Etwas wie eine lose Verbundenheit lag
jetzt in ihrem Schweigen. Bob fragte:
„Was war Zimmerli für ein Mensch?”
„Kein ungerader – witzig, alles, was du willst. Er war
sehr hilfsbereit, aber –” Flühmann spürte, wie der Schlaf ihn
überkommen wollte. Eine tiefe schwere Müdigkeit.
Bob sah ihn an. „– aber was?”
„– er hatte die Hände in schrecklichen Deals drin.”
„Du meinst, so wie du?”
„Wenn du so willst.”
„Und was war mit dieser Ampa-Affäre?”
„Die Firma hatte Konkurs gemacht. Wieviel Zimmerli
mitgenommen hat, weiss ich nicht. Ich glaube, das ist auch nicht,
was du wissen willst.”
„Du sagtest, Zimmerli blieb während Monaten verschwunden.
War er in dieser Zeit allein?”
„Du meinst, ob eine Frau bei ihm war?” Eine schreckliche
Erkenntnis dämmerte Flühmann.
Bob nickte. „Ich vermute, sie hiess Iris.”
„Nein, Helen.”
„Helen?” Bob war überrascht. „Es war nicht Iris, mit der
er abgehauen ist?”
„Nein, Helen.” Flühmann lehnte sich zurück. Er blickte
zur Decke. Vergilbt, fleckig. „Helen hat sie geheissen.
Zimmerli hat sich mit ihr in Spanien herumgetrieben, bis ihm
das Geld ausgegangen war. Übrigens, sie ist vor ihm
zurückgekommen.”
„Und wieso das?”
„Ich weiss nicht.” Die Frage, so offen gestellt, machte
Flühmann verlegen.
„Du weisst nicht?” Bob sah ihn zweifelnd an.
Flühmann sagte: „Du hast Iris vermutet.“
„Ja.”
„Hör zu, wer Iris ist, weiss ich nicht. Und Helen – ich hab
sie nur zweimal gesehen. Sie hat sich von Zimmerli
getrennt. Was aus ihr geworden ist, weiss ich nicht. Es hat
mich auch nicht besonders interessiert.”
„Wann hat Helen sich von ihm getrennt?”
„In Spanien, glaube ich.” Flühmann richtete sich auf.
Er erhob sich vom Bett, reckte den Oberkörper und trat ans
Fenster. Sein Blick ging hinaus auf die Geleise. Er liebte
es, Zügen nachzuschauen, die vorüberfuhren, aber es war
keiner unterwegs.
„In Spanien?”
„Ja.”
„In Spanien.” Es tönte, als könnte Bob es nicht fassen.
Flühmann fragte. „Wer ist Iris?”
Bob war aufgestanden. Er rückte am Stuhl. Er machte ein
paar Schritte. Dann legte er sich aufs Bett.
„Iris? Sie ist Helens Schwester.”
„Nein!”
„Mutter und Tante.”
Das hatte Flühmann befürchtet. „Wie heisst deine Mutter?”
„Iris.”
Es war so wie Flühmann geahnt hatte. „Und mit ihrem
Mädchennamen?”
„Kaltenbach.”
Flühmann fuhr zusammen. Er sah etwas auf sich
zukommen, aber er sah den Zusammenhang nicht. Und wenn
er ihn wüsste? Er würde es Bob nicht sagen können.
Unmöglich.
Bob sah Flühmann ruhig an. „Ich glaube, ich weiss jetzt,
wer mein Vater ist.”
„Wie meinst du das?”
„Ich kann mich an ihn erinnern.”
„An Zimmerli?”
Bob nickte. „Er war ein Mann, elegant, wie soll ich sagen –
ich sehe ihn mit Kinderaugen, bloss, ich meine –” Bob
zögerte, als halte ihn etwas zurück, sich Flühmann anzuvertrauen.
„Grandios. So kommt er mir vor, der Halunk. Irgendwie
hatte Zimmerli – ich weiss nicht, ob ich das richtig sage: er war
irgendwie – weltmännisch?”
Flühmann blickte verwundert. Weltmännisch? Er sah Bob
auf dem Bett liegen. Wie ein Asket.
„Grossmutter hat eine Pension geführt – Pension Gubler,
Hornergasse. Ich war dreieinhalb, als Mutter mit mir in der
Pension gewohnt hat. Das Haus ist verschwunden. Es war an der
Löwenstrasse, heute gibt’s dort keine Pension mehr. Zu teuer
geworden, die Gegend.”
„Du kannst dich erinnern?” Flühmann stutzte. Hatte
er Zimmerli nicht fallen gelassen? Flühmann ruckte am Stuhl
und setzte sich. Es war verwirrend, spannend und
unendlich verwirrend, die Wege, die Umwege zu sehen, die ein
Gedankengang einschlagen konnte, wenn man einer
Erinnerung nachging. Suchte Bob nach einem Bruchstück, nach
einem verschollenen Bild, in welchem seine Mutter
mit Zimmerli auftauchte. Oder wollte er vergessen machen,
was er gerade über ihn gesagt hatte?
Bob sagte: „Ich sitze bei Frau Trachsel am Küchentisch.
Frau Trachsel, das war die Köchin. Mutter ist nicht da,
sie ist irgendwo im Treppenhaus, beim Putzen vielleicht. Da tritt
er – in die Küche. Er gibt mir einen Fünfliber. Er fährt mit
der Hand durch mein Haar. Und weg ist er. „Nimm das nur”, sagt
Frau Trachsel. „Das brauchst du deiner Mutter nicht
zu sagen.” Er war – er war einer der Gäste in der Pension.”
Flühmann sah zu Boden. Etwas machte ihn betreten.
„Die Pension. Ich erinnere mich an einzelne Zimmer,
hoch, dunkel, an das Treppenhaus. Ich sehe Mutter, wie sie am
Treppengeländer steht. Sie putzt. Sie hat die Schürze
um. Sie unterhält sich mit ihm. Sie lacht. Ich sehe Grossmutter.
Sie zeigt ein Zimmer, das frei ist. Die Frau ist schwanger.”
„UnglaubIich.”
„Frau Trachsel, die Köchin. Bei ihr zu sitzen, bei ihr
am Küchentisch, das war das Grösste. Sie hat den ganzen Tag
erzählt. Sie hat geredet – einfach so, von Leuten, von
Bekannten, von Fremden, von den Erlebnissen, die sie mit
ihnen gehabt hat, den Sorgen, den Freuden. Auf dem
Holztisch Gemüse. Sie rüstet. Vor meinen Augen der Kohl,
der Blumenkohl. Mutter ist auch da. Sie hilft. Sie hört
zu. Frau Trachsels Mann ist Arbeiter. Er züchtet Kaninchen.
Sie haben zwei Söhne, eine Tochter. Keines der Kinder
hat es leicht gehabt. Die Tochter – sie war taubstumm, weil der
Arzt versagt hat.”
„Und Zimmerli?”
„Er ist der Unbekannte, der durch die Türe tritt. Ich sehe
den Fünfliber. Er legt ihn vor mir auf den Tisch. Seine
Haltung, wie soll ich das sagen... „Da”, sagt er. „Kauf etwas Besonderes.” So sehe ich Zimmerli, den Vater –”
„Ja?”
„Ein Weltmann, ein Hochstapler. Das ist das Bild, das ich
von ihm habe.” Bob lachte. Er weinte fast. Es war,
als müsste er sich von etwas befreien, das lange auf ihm
gelastet hatte.
Flühmann hob den Kopf. Er sah Bob an.
Flühmann fragte: „Das hattest du alles vergessen?”
„Jetzt ist es wieder da.”
„Und das andere?”
„Mutter sagte immer, Vater sei bei einem Autounfall
ums Leben gekommen. Das war nicht mein Vater. Das war
nur ihr Mann.”
Bob hatte anscheinend nichts mehr zu sagen. Er lag auf
dem Bett. Teilnahmslos, in Gedanken versunken.
Flühmann sah aufein Manuskriptblatt, das er mit dem Schuh
beiseite schob. Er rappelte sich auf. Er fragte:
„Hast du mit Fränzi geredet?”
Bob neigte nicht einmal den Kopf. Er schwieg.
Flühmann sah, wie Bobs Hand zitterte. Fränzi war im Klub
heute nicht zur Arbeit erschienen, das wusste Flühmann.
„Hast du sie gesehen?”, fragte er.
Bob sagte: „Es ist aus. Fränzi – sie hat genug von mir,
sie hat recht.”
Flühmann seufzte. Sinnlos. Er erhob sich, ging im Zimmer
auf und ab. Er begann, die Manuskriptblätter aufzuheben,
die über den Boden zerstreut lagen. Bob lag auf dem Bett. Er tat,
als ginge ihn alles nichts an. Flühmann nahm eines der
Blätter, das völlig zerknüllt war, und strich es glatt. Die Seiten
waren nummeriert. Nein – fand Flühmann, sie in die
richtige Reihenfolge zu bringen, das würde Bobs Aufgabe
sein. Flühmann legte die Blätter auf den Tisch.
„Das Manuskript”, sagte er.
Bob lag auf dem Bett. Er hörte nichts.
Flühmann sagte: „Bob, mir gefällt das nicht. Wenn
du meinst, du brauchst ein Zimmer, du weisst – bei uns kannst
du wohnen, jederzeit. Weisst du, ich lass dich ungern hier.
Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst.”
„Nein.”
Bob erhob sich vom Bett. Er nahm das Bündel, sein
Manuskript. Er öffnete das Fenster. Er blickte hinaus. Unbewegt.
„Nein.”
Flühmann sah Bob an.
Bob sagte: „Es ist nicht gut.” Tränen liefen ihm über die
Backen. „Ich muss nochmals von vorne anfangen.”
Es war sinnlos, Bob zu widersprechen. Warum war er mit
sich so hart? Flühmann machte ein paar Schritte. Er trat zurück.
Er lehnte sich an die Türe.
Sie schwiegen.
Bob blieb am Fenster stehen, das Manuskriptbündel
in seiner Hand, den Blick über die Geleise, zwischen denen wie
Leuchtpunkte in der Abendstimmung die Signallichter
zu sehen waren.
„Nein”, wiederholte Bob.
Flühmann stand da, zurückgelehnt, das eine Bein
angewinkelt. Ungeduldig. Was war Bob für ein Masochist!
Flühmann wusste, er war der ungeeignetste Mensch,
um Bob etwas zu sagen oder ihn von einer Dummheit abzuhalten.
„Nein”, sagte Bob nochmals und schleuderte die Blätter
durch das Fenster hinaus.
Ein Jahr Arbeit, überlegte Flühmann. Sicher würden
die Papiere von den Eisenbahnwagen zerfetzt, die eine Rangierlok
draussen langsam vorbeizog.
Das Meer war tiefblau, der Himmel hell und weit. Hier ist
deine Grenze, dachte Flühmann. Hier kannst du nicht mehr weiter.
Er sah hinaus auf das Meer, Weit draussen – auf die
Linie zwischen Himmel und Wasser. Was lag dahinter? Flühmann
spürte den Sand zwischen den Zehen. Eine Welle
umspülte seinen Fuss, lau und sanft. Die Luft war warm,
würzig. Er lag am Strand. Was machte er hier?
Flühmann fuhr auf. Er musste eingenickt sein. Am Himmel
hing dunkles Gewölk. Wo blieb Vilma? Ein scharfer
Wind war aufgekommen. Schäumend überspülte eine Welle
den Fels, der zuvor die Küste überragt hatte. Beim
Leuchtturm wurde Sturmwarnung gegeben. Badegäste trugen
Surfbretter über den Köpfen. Sie eilten den Strandweg hinauf.
„Vilma!”, rief Flühmann. Der Regen peitschte ihm ins
Gesicht. „Habt ihr Vilma nicht gesehen?” Sie hörten ihn nicht.
In der Ferne war eine Sirene zu hören. Flühmann rannte
hinter den Badegästen her, den Strandweg hinauf. Auf dem
Asphalt der Uferstrasse lag riesengross ein Hai, von den
Fluten angeschwemmt. Flühmann erschrak. Er war allein – die
Badegäste waren weg, die Uferstrasse leer. Gestrandet.
Der Hai war – Palmieri! Flühmann stolperte. Er stürzte. „Vilma!”,
rief Flühmann. Er wachte auf. Draussen war es Nacht
geworden. Er schüttelte den Kopf. Er lag im Dunkel. Er war
auf dem Sofa im Wohnzimmer eingenickt.
Im Vestibül läutete das Telefon. Flühmann stürzte hinaus,
halb taumelnd, mit der Hand im Dunkel tastend. Vilma!
Flühmann erwischte den Hörer.
„Ja”, rief er.
Nichts. Flühmann hielt sich an der Eichentruhe fest. Nach
zwei Sekunden war der Summton zu hören. Palmieris Bruder?
Flühmann legte auf. Waren sie da? Es läutete wieder.
Flühmann nahm ab.
„Hallo, Max, ich bin’s.”
„Mein Gott, ]eff”, sagte Flühmann.
„Bist du allein?”
„Hm?”
„Kann ich reden? Bist du allein?”
„Bin ich, ja.”
„Max, ich wollte nur –”
„Hör zu, Jeff”, unterbrach ihn Flühmann. „Warst du das,
gerade vorhin? Hast du versucht vorhin anzurufen?”
„Ich? Nein, wieso?”
Flühmann wusste nicht, was davon zu halten war. Warum
sollte Jeff lügen?
„Es hat jemand eingehängt, gerade eben.”
„Ich weiss nicht, von was du redest”, schnaubte Jeff.
Er hört gar nicht zu, dachte Flühmann. Die Genovese Family.
lst das Rollkommando eingetroffen?
„Was macht der grosse Bruder?”, fragte Jeff.
Er meinte Palmieri, aber das war Flühmann egal. Er stiess
sich an Jeffs grinsendem Unterton. Du Trottel! Eine ungeheure
Wut überkam Flühmann.
Wieder begann Jeff: „Hast du ihm erzählt, wir verkaufen.”
„Ja, hab ich.”
„Und?”
„Er hat’s begriffen.” Flühmann nahm den Apparat. Er musste
sich setzen. Er dachte: Es ist besser, Jeff nichts zu sagen.
„Siehst du.”
„Ja.”
Flühmann hatte es ironisch, beinahe sarkastisch gemeint,
aber Jeff überhörte auch das.
„Wo ist er?”, fragte Jeff.
„Du, ich habe keine Ahnung. Jedenfalls ist er abgezogen.
Er wollte noch ein Casino besuchen, in Campione oder wo. Ungefähr
eine Stunde habe ich mit ihm geredet. Er war ganz vernünftig,
der Mann.”
„Das hast du prima gemacht. Max, ich wusste, du schaffst das.”
Flühmann zitterte vor Wut. Er hätte Jeff ins Gesicht schlagen
mögen. Er sagte:
„Weisst du, ich – ich bin nicht sicher.”
„Wieso?”
„Wieso, wieso!” Flühmann liess seiner Verärgerung freien
Lauf. „Er kommt wieder, glaube ich.”
Eine Weile sagte Jeff nichts. „Es ist aber doch möglich, dass
sie ihn zurückpfeifen?”
„Wie kommst du darauf?”
„Einfach so. Verstehst du, wenn – du hast mit ihm geredet.
Das hat sie überzeugt. Max, du bist eben –”
„Was?”
„– du wirkst eben verdammt solid.”
„Und bei dir? Wie sieht’s bei dir aus?”
Ein längeres Schweigen, das Flühmann beunruhigte.
„Sie wollen mir ans Fett”, sagte Jeff.
„Jetzt, wo das Ding gelaufen ist?”
Peinlich, dachte Flühmann. Jeff kam ihm vor wie ein Boxer,
der in den Seilen hing.
„Hast du den Job bekommen?”, fragte Flühmann.
„Ford in Edison?”
Flühmann ärgerte sich. „Ja”, rief er wütend. „McDonald
in Harvard.”
„Nein. Ich hab nichts gehört.”
„Wann, hast du gesagt, entscheidet sich das?”
„Ende Monat”, sagte Jeff. Ungeduldig fügte er hinzu:
„Max, das hast du schon einmal gefragt.”
„Und was ist, wenn du den Job bekommst?”
„Das ist unmöglich.”
Wütend sagte Flühmann: „Das kannst du nicht wissen,
Herrgottnochmal! Warum willst du das wissen?”
„Du, ich –” Jeff wimmerte. Er schluchzte beinahe. „Die
Bewerbung, weisst du – ich hab sie zurückgezogen.”
Dieser Stümper! knirschte Flühmann. Er war enttäuscht.
„Warum hast du das getan?”
„Sandy. Seit zwei Tagen wird Sandy vermisst.”
Flühmann hatte es gewusst, er hatte es in New York
bereits gewusst! „Verdammtnochma1, warum kannst du das
nicht sagen?”
„Max, ich –”, begann Jeff, seine Stimme schwankend.
Dann fasste er sich. „Du musst wissen, ich hab eine schwere
Nacht hinter mir.”
„Meinst du, ich kann hier an der Sonne liegen?”
„Du hast doch gesagt, er ist abgehauen.”
„Wenn das nur gut kommt”, sagte Flühmann. In seinem
Kopf jagten sich die Bilder. Es war, als stürzte er ab. Der Boden
rutschte ihm unter den Füssen weg.
„Lässt du Sandy suchen?”, fragte Flühmann.
Ein grunzendes Bejahen.
„Ich hab dich gefragt, ob du Sandy suchen lässt. Ohne
Cops, meine ich.”
„Ich hab Bill Whitney angerufen. Er hat gemeint –”
„Du machst mich sauer.”
„Glaube mir, ich habe keine andere Wahl gehabt.”
„Ich kann nicht mehr.”
„Du hast genau das Richtige gemacht.”
„Wann meldest du dich wieder?”
„Sobald ich kann.”
„Nein”, sagte Flühmann. „Du meldest dich morgen.
Um dieselbe Zeit, verdammtnochmal.”
„Okay, wenn du meinst.”
Ich Arschloch! schimpfte Flühmann. Er stieg aus und warf
die Wagentüre zu. Es war elf Uhr nachts. Flühmann zitterte vor
Wut. Ein alter Mann, der über das Central torkelte. Der
Platz hatte sich geleert. Taxichauffeure standen bei ihren Wagen
und plauderten. Flühmann ging Richtung Traminsel,
er haderte mit Jeff. Bei der Niederdorfstrasse besammelte
eine Reiseführerin ihre Gruppe japanischer Touristen,
aus deren Kreis sich einer gelöst hatte, um die Fassade des
Hotel Central zu fotographieren, die Fassade, die als
einziges nach dem Umbau erhalten geblieben war vom alten Hotel
Central, nun herausgeputzt wie eine Sehenswürdigkeit.
Flühmann wandte sich um. Er hatte vergessen, die Standlichter
abzuschalten. Auf der Traminsel wartete der Zeitungsverkäufer.
Ein Toyota-Fahrer hupte. Flühmann ging mitten auf der
Fahrbahn. Er erreichte die Traminsel. Schliesslich musste
er wissen, was morgen in der Zeitung stand.
„Tages-Anzeiger”, rief der junge Mann.
Flühmann bezahlte.
Der Verkäufer lachte, rückte die Uniformkappe zurecht und
reichte ihm eine der Frühausgaben, die er im Arm hielt.
Keine Schlagzeilen, das sah Flühmann gleich. Das war
beruhigend. Gespannt blätterte Flühmann im Wagen die Zeitung
durch. Hier, eine Zwanzig-Zeilen-Meldung: Im Mietwagen
tödlich verunfallt. Ein Richtung Einsiedeln fahrender Amerikaner
habe „aus noch ungeklärten Gründen” die Beherrschung
über sein Fahrzeug verloren und sei „in der unübersichtlichen
Kurve hinter Schindellegi” von der Fahrbahn abgekommen.
Die Mafia war mit keinem Wort erwähnt. Flühmann atmete auf.
Die Meldung schloss mit einem Zeugenaufruf der Schwyzer
Kantonspolizei, die sich für Augenzeugen interessierte, Vorwahl
043 – Flühmann warf den Motor an und fuhr los. Die City,
entleert, halbtot. Nirgendwo eine Ecke, an der ein paar Nachtvögel
noch einen Schwatz hielten. Flühmann schaltete. Die
Strassen waren wirklich zur Fahrbahn geworden, verfügbar, unbehindert. Ein paar Verlorene, die zu Fuss noch
unterwegs waren. Die Stadt schien zu schlafen. In orangefarbenen
Übergewändern Arbeiter, die kniend im Funkenwurf von Schweissgeräten Asphalt, Tramschienen oder sonstwas aufrissen.
Glitzerwasser, Parkbäume, der Mond, ein Schiffssteg, der See.
Ineinandergesunken ein Liebespaar. Was für ein Gefühl! Flühmann liebte das Wasser. Hatte die Zwanzig-Zeilen-Meldung den
plötzlichen Stimmungswechsel bewirkt? Flühmann hatte das
Gefühl, es könnte ihm nichts mehr passieren. Nein, er hatte
den Glauben an die Zukunft nicht verloren. Palmieri! Das war gar
kein Mensch. Palmieri? Es war überhaupt nichts geschehen,
dachte Flühmann. Er fühlte sich frei.
Polizei! Ein Lederjacken-Beamter stand auf der Fahrbahn. Er
winkte mit seiner Lampe. Flühmann liess sich einweisen.
Folgsam. Ein Streifenwagen war am Strassenrand abgestellt. Flühmann sagte sich: Letzte Nacht warst du zu Hause,
falls sie dich fragen. Er setzte ein verwundertes Gesicht auf,
nachdem das Fenster herabgelassen war.
Der Polizeibeamte sah Flühmann an.
„Ihre Papiere?”
Die Angst im Blick der Schmier, dachte Flühmann. Nie
wissen sie genau, wo der Feind ist. Er reichte Führerausweis und
Fahrzeugpapiere hinaus. Der Polizeibeamte trat vor die
Kühlerhaube. Er prüfte die Nummer am Kontrollschild. Das tat
er sehr langsam, fand Flühmann. Jetzt ging der Bulle,
die Hand am Halfter, zum Streifenwagen hinüber, wo er die
Papiere seinem Kollegen übergab.
„Alles unter Kontrolle?”, fragte Flühmann.
Der Polizeibeamte zündete ins Wageninnere. Suchte
er nach etwas? Er hatte die Augenbrauen gehoben.
Der Tages-Anzeiger lag auf dem Rücksitz, die Seite mit der
Zwanzig-Zeilen-Meldung obenauf
„Ich kann Licht machen, wenn Sie wollen.” Das war
mit Sicherheit zuviel, dachte Flühmann, kaum hatte er’s gesagt.
Immerhin, seine gute Laune hielt an.
„Steigen Sie aus.”
Flühmann trat aufs Trottoir. Er richtete sich auf. Der Neubau
der Schweizer Rück – die Fassade der Versicherung,
Pyramidenbau mit Freitreppe, moderne Kunst, Glaskugellichter
als Nachtbeleuchtung. Leute umstanden Flühmann
plötzlich. Gesichter, Männer. In ihrer Mitte ein Kerl mit
knurrendem Schäferhund. Flühmann machte einen
Schritt zurück. Im selben Augenblick sprang der Hund ihn an,
vom Kerl mit der Leine nur mühsam zurückgehalten.
War das ein ziviler Bulle, ein Abwart? Flühmann war nicht sicher.
Bei der Auffahrt sah er Limousinen, die vorgefahren und
bestiegen wurden. Damen im Abendkleid, die in den Limousinen
verschwanden. Herren im Smoking. Sah aus wie eine
Soiree für Geschäftsfreunde, dachte Fliihmann. Nur er stand
hier draussen, von Polizei umstellt.
„Öffnen Sie den Kofferraum!”, sagte der Polizeibeamte.
Flühmann sperrte auf.
Der Polizeibeamte zündete hinein. Er beugte den Oberkörper
vor. Er fingerte am Transparent, das gefaltet im Kofferraum lag.
„Was ist das?”
„Sportartikelwerbung.”
Flühmann hatte nichts zu verbergen. Wieder knurrte
der Hund. Die Leute gafften. Der Mann im Streifenwagen! Er kam
mit den Papieren.
„Es ist in Ordnung.”
Er sah den Kollegen an. Dann gab er Flühmann die Papiere,
hob die Hand und salutierte.
„Sie können weiterfahren.”
Im Tennisclub war noch Licht, das hatte Flühmann
vom Auto aus gesehen. Er hielt nicht auf dem Parkplatz an,
sondern weiter unten, wo’s nach der Kurve bergab ging. Sportartikelwerbung! Fliihmann musste lachen. Er holte das
Transparent hervor, warf den Kofferraum zu und ging
Richtung Klubhaus. Im Schatten der Bäume blieb er stehen.
Der Container war für die Kehrichtabfuhr bereitgestellt,
wie Flühmann sich’s gedacht hatte. Nicht warten, sofort handeln!
Er warf das Transparent zu Boden, klappte den Deckel
des Containers zurück und holte einige der Abfallsäcke heraus,
die obenauf lagen. Stimmen waren zu hören, Schritte.
Flühmann erschrak. Die Eingangstür des Klubhauses schnappte zu.
Zwei Gestalten kamen umschlungen auf den Parkplatz
zu. Dr. Granicher mit seiner Frau? Flühmann zögerte. Nein, der
Mann war Zumsteg. Für Flühmann bestand kein Zweifel.
Ausgerechnet Zumsteg! Flühmann liess leise die Abfallsäcke
zu Boden sinken. Er trat zurück, den Körper hinter den
Container geduckt. Hatte Zumsteg etwas mit Dr. Gränichers Frau?
Flühmann grinste. Gut, dass er hier nicht parkiert hatte.
Der Wind hewegte das Geäst in der Baumkrone. Deutlich war
zu hören, was die zwei Gestalten beredeten.
„Wie hat er geheissen?”, fragte sie.
„Bob Franey.”
„Mir hat er nicht gefallen, von Anfang an nicht.”
Türzuschlagen. Der Motor sprang an. Sie fuhren davon.
In Zumstegs Wagen, beide. Unglaublich, dachte Flühmann. Dass
ihm das entgangen war. Jetzt allerdings, wo er zurückdachte,
fielen ihm Szenen ein, Worte, Blicke, Gesten, die plötzlich zusammenpassten. Flühmann packte das Transparent. Er hob
es hoch, kippte es in den Container und warf die Abfallsäcke
obendrauf.
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