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KAPITEL XI



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Bob hatte aussteigen wollen, dann glaubte er zu sehen, was

los war, und blieb am Steuer sitzen. Es war Wahnsinn! Vorne, bei

der Tankstelle, wenige Meter entfernt, stand Flühmann

mit dem Mercedes, und direkt neben ihm hatte ein Polizeifahrzeug

geparkt. Bob kaute auf seiner Unterlippe herum, liess die

Scheibe herunter, dann wieder hinauf. Flühmann hantierte an

einer der Zapfsäulen mit Notenautomat, als hätte er Bob

nicht erkannt.

      Der Polizist wandte Flühmann den Rücken zu. Er

kontrollierte einen Opel Kadett, dessen Dach mit Surfbrettern

bepackt war. Sein Kollege war im Wagen sitzen geblieben,

und einen Augenblick lang hörte Bob, wie es aus dem Polizeifunk

schnarrte, quiekte und blubberte. Bob wusste nicht,

was als nächstes geschah. Wo waren überhaupt seine Fahrzeugausweise? Er öffnete das Handschuhfach.

Da lagen sie. Jetzt ging der Beamte zurück und stieg ein.

Langsam fuhr das Polizeifahrzeug davon.

      „Was war denn hier los?”

      „Routineüberprüfung”, sagte Flühmann. Er war zu Bob ans

Wagenfenster getreten. „Kannst du mir einmal den Kaffee geben?

Direkt hinter deinem Sitz, eine Thermosflasche.”

      Bob gab sie ihm. „Im Klub, alles okay?”

      „Ich hab vollgetankt, Wir können ihn anzünden.”

      Flühmann hatte die Thermosflasche aufgeschraubt,

trank einen Becher und wischte mit dem Handrücken über den

Mund. Jetzt reichte er Bob die Flasche. „Ich hab so einen

trockenen Mund. Komm, trink auch etwas. Ist gut gegen die

Müdigkeit.”

      Bob wollte nicht. Er nahm die Flasche und versorgte sie.

Wir können ihn anzünden. Bob war über Flühmanns

Ankündigung erschrocken. Jetzt war auch der Opel Kadett

abgefahren.

      „Im Klub”, fragte Bob wieder. „Alles okay?”

      Flühmann schaute um sich und nickte. „Nur der Fleck auf

dem Spannteppich, der vom Mittag. Das Nasenbluten! Das

werden sie ohnehin gesehen haben, bei der Mannschaftssitzung.

Du siehst müde aus, Bob.”

      „Nein, bin ich nicht.” Bob wusste nicht, was er tatsächlich

war. Erschöpft, hellwach. „Und wohin geht’s jetzt?”, fragte er. Ein

Wagen preschte auf der Autobahn vorbei.

      „Es riecht nach –”

      Wieder preschte ein Wagen vorbei.

      „Was hast du gesagt?”

      „Kadaver! Es riecht nach Kadaver.” Flühmann ging

zum Mercedes zurück, riss den Kofferraum auf und schnupperte

am Bündel.

      Unmöglich! Bob spürte, wie ihm das Lachen in der Kehle

stecken blieb. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Doch, er war müde.

Unendlich müde. Und noch immer klebten ihm die Kleider

am Leib.

     „Palmieri kann’s nicht sein”, versicherte Flühmann, nachdem

er zurückgekommen war. „Riechst du noch immer nichts?”

      „Nein.”

      Sie einigten sich, bei Richterswil von der Autobahn zu gehen.


Bob nahm den Fuss vom Gas. Er fuhr dicht hinter Flühmann

her, der erneut in einer Kurve verschwand. Seit sie die Autobahn

verlassen hatten, ging’s stetig den Hang hinauf. Ob das

auch richtig war hier? Das letzte Mal hatte Flühmann sich geirrt.

Sie waren bis zum Ende eines Fahrwegs gegangen,

der an einer Scheune vorbeiführte und abschüssig in einem

verödeten, dürren Wäldchen verschwand. Nein, hier

gehe es nicht, hatte sich Flühmann entschuldigt. Das sei nicht

das, was er gemeint habe. Auch Bob wusste, dass

in der Nacht manches anders aussah. Eigentlich war er sogar

erleichtert gewesen, als Flühmann die Schuhe abgeklopft

hatte und wieder eingestiegen war. Einspurig verlief eine Bahnlinie

jetzt unterhalb der Strasse. Und vorne, oben am Hang,

tauchte ein Kirchturm auf, schon waren sie im Strassentunnel

und ebenso rasch, das Dorf im Rücken, wieder draussen.

      Flühmann begann zu blinken. Dann hielt er an. Hier? Bob

fuhr hinter Flühmann auf die Parkspur.

      „Was ist?”

      Ein Fiat oder Toyota, bepackt mit Campingausrüstung,

brauste mit grellem Licht an ihnen vorbei.

      Flühmann sagte: „Der nächste Ort ist Biberbrugg.”

Er war ausgestiegen, reckte die Glieder und schaute sich um.

Die Nacht war nicht ganz dunkel. „Hier müsste

es passieren.”

      Sie standen auf dem Parkstreifen. Die Bahntrassee

verlief jetzt bergwärts. Vorne verlor sich die Strasse

in einer scharfen Biegung nach rechts. Der Nachtwind trug den

verlorenen Klang der Kuhglocken herüber.

      „Ich sehe nicht, was du meinst.” Bob hatte ängstlich Richtung

Dorf zurückgeschaut. Wiesland, eine Baustelle, Kleinindustrie,

die Umrisse im Schatten.

      „Frontal. Wenn einer mir da entgegenkäme –” Flühmann

hielt die Hand ausgestreckt. Er zeigte zur Kurve, in die

entgegengesetzte Richtung. „Sicher versuchte ich auszuweichen,

in letzter Sekunde. Angenommen, ich hätte Glück, angenommen,

es gelänge mir, nur der Wagen –”

      „Er schleuderte.”

      „Genau. Der Wagen drehte sich, er knallte mit mir über’s

Bord hinaus.”

      „Es ist so still hier.” Bob schluckte leer. Er blickte fragend

zur Stelle hinauf, wo die Strasse verschwand. Die Kurve

war unübersichtlich, das stimmte. Bob wandte den Kopf und

folgte Flühmann, der bereits die Fahrbahn überquert hatte.

      „Da”, rief Flühmann. „Da hinab.” Er spähte ins Tobel hinab.

      Bob rutschte, als er hinaustrat. „Verdammt –” Er fing

sich mit der Hand, der Boden war feucht und weich und uneben.

In Abständen markierten Eschen den Rand der Strasse,

wo die Wiesenböschung schräg abfiel. Unten, bevor der Hang

sich vielleicht in eine noch steilere Partie mit einem Stück

Wald senkte, war dunkel Jungholz zu sehen, ein Streifen mit

Tannen oder Ahorn. Würde der Wagen dort zum Stillstand

kommen? Irgendwo zirpten Grillen, aber jetzt, wo sie

einen Augenblick schwiegen, war aus der Tiefe Wasser

zu hören, ein leises Fliessen. Bob fragte:

      „Was ist denn da unten?”

      „Möglich, dass es die Sihl ist. Wollen wir?”

      Bob nickte. Sie gingen zusammen zum Mercedes zurück.

Flühmann sah Bob an, warf einen Blick zur Strasse und

öffnete den Kofferraum. Gemeinsam hoben sie Palmieri heraus

und legten ihn auf den geteerten Boden. Bob kniete neben

Flühmann, der mit hastigen Griffen begann, Palmieri aus dem

Transparent zu wickeln.

      „Das gibt’s nicht”, sagte Bob erstaunt, als er sah, wie der

befreite Kopf nach vorn schnellte. Blass sah Palmieri aus,

fleckige Haut, die Augen aufgerissen, starr die Pupillen, übergross,

die Augenlider geschwollen, blutunterlaufen, schlaff und

blödsinnig, wie sein Unterkiefer herabhing. Fing er an aufzutauen?

      „Komm”, sagte Flühmann. „Ich bin fertig.”

      Beim Aufstehen schwankte Bob. Mein Gott! Er torkelte

zur Seite, packte aber trotzdem mit an und nahm jetzt die Beine.

Halb schleiften, halb schleppten sie Palmieri nach vorn,

rissen die Wagentüre auf und setzten ihn ans Steuer, wo er

augenblicklich zur Seite kippte.

      „Es kommt einer”, sagte Bob, da war er schon geblendet.

Mit Scheinwerfern wie Riesenaugen preschte ein VW-Bus vorbei.

      „Das Tuch.” Flühmann drängte, vom Licht erschrocken.

„Kannst du das Tuch wegräumen?”

      Das verdammte Transparent! Atemlos lief Bob

zurück, um das Tuch zusammenzuraffen. Der VW-Bus war

verschwunden.

      Vorne heulte bereits der Motor auf, Bob hatte sich gebückt,

die Auspuffgase im Gesicht; er sah nichts, wie weggestossen

fiel er um. Langsam drehte der Wagen sich in die Strasse hinein,

lärmte und hielt an. Daneben, auf der Fahrbahn, war als

Schatten Flühmann zu erkennen. Er stemmte sich gegen die

Türe, die aufschlug. Der Wagen schoss los – ein Schlag,

dumpf, ein zweiter, ohne Widerhall, rumpelnd die Böschung

hinab.

      Der Knall war ausgeblieben.

      Flühmann stand schweigend am Strassenrand. Er spähte

ins Loch hinab. Bob war zu Flühmann hingelaufen. Stille,

Dunkelheit. Nur die Grillen, die zirpten.Flühmann kratzte sich

am Kopf. Er sagte:

      „Jetzt rnuss ich selbst noch da hinab.”

      Der Mercedes mit Palmieri lag unten, im Jungholz – ein

Glück, dass keiner der Telefonmasten, die über die Böschung

verteilt waren, den Wagen aufgehalten hatte, dachte Bob.

Ihn fror. Dabei war die Nacht nicht kalt.

      „Komm, wir hauen ab hier”, sagte Bob.

      Flühmann strich die Haarsträhne aus der Stirn. Drüben am

Hang schien eine Kuh sich zu beunruhigen, in der Ferne

Hundegebell. Dann wieder Stille. Flühmann fragte:

      „Wo wartest du?”

      „Vorne bei der Rampe, wo’s zum Tunnel geht.”

      Nur weg hier, dachte Bob. Er hielt noch immer das

Transparent zusammengerafft in Händen. Eine verräterische

Spur, wenn jemand hier uns sehen würde! Erst jetzt

bemerkte Bob die Badewanne, die als Tränke am Strassenbord

stand. Vieh war keines zu sehen. Sie gingen über die

Fahrbahn zurück. Flühmann öffnete den Wagen. Er nahm

die Taschenlampe und den Kanister rnit.

      Plötzlich spürte Bob die Müdigkeit. Er löste die Handbremse,

die Augen wollten ihm zufallen. Er musste den Kopf

hochreissen. Meter um Meter liess er den Wagen zurückrollen.

Jetzt hatte Bob gestartet, drehte und kurbelte am Steuer.

Er geriet quer in die Fahrbahn hinaus. Er sah, dass er’s nicht

schaffte. Sofort stoppe er, legte den Rückwärtsgang

ein. Hinter ihm, oben bei der Kurve, flammten Scheinwerfer

auf. Erbittertes Hupen. Dann war alles vorbei; der Sportwagen

oder was, noch immer hupend, raste über die Strasse fort.

Dunkelheit. Die Fahrbahn war leer wie zuvor.

      Ungeheuerlich! Bob war patschnass. Noch zitterten

ihm die Hände, mit denen er sich am Steuer festhielt. Nein,

es war nichts passiert. Nur der Wagen stand verkehrt

auf dem Parkstreifen, gewendet. Ein Kaffee wäre jetzt gut.

Bob suchte nach der Thermosflasche, die unter dem

Transparent begraben war, das er zwischen die Sitze gestopft

hatte. Sicher klebte daran Palmieris Blut, dachte Bob

und verschüttete Kaffee, als er sich einen Becher einschenkte

und trank.


Ein Uhr vorbei. Ein schwarzer Vogel, aus dem Gebüsch

aufgeflattert, erhob sich über der Betonbrücke, die im Kunstlicht

dalag, Wie leergefegt. Seit einer Viertelstunde wartete

Bob im Wagen bei der Rampe, die Augen auf die Tunneleinfahrt

gerichtet. Heimwärts. Das Bett. Ein anderes Ziel hatte

Bob nicht. Ihn fröstelte, er fühlte sich schlecht. Die Haut, die

Kleider – klebrig alles, verschwitzt. Er musste das

abwaschen, fand Bob, abwaschen und vergessen. Wenn

Flühmann endlich käme, könnten sie losfahren, weg

von hier. Was machte er so lange da unten? Eigentlich wollte

es Bob so genau gar nicht wissen. Erneut merkte er,

wie ihm der Kopf schwer wurde.

      Seine Schläfrigkeit zerfetzte ein gewaltiger Knall, dem

sogleich ein zweiter, schwächerer folgte. Bob war aufgefahren,

rieb sich die Augen und stieg aus. Er zitterte vor Kälte,

als er neben dem Wagen stand. Unten im Loch sah er eine

Rauchfahne schräg aufsteigen, hinter dem Waldstück

loderten Flammen auf. Nur Flühmann war nirgends zu sehen.

      Ein Hund schlug an. Bei einem der Häuser im näheren

Dorfteil ging Licht an. Bob bemerkte, wie im oberen Stock ein

Fenster aufgerissen wurde. Waren im Dorf die Bewohner

erwacht? Einer lief die Strasse hinauf, seine Schritte widerhallten

im Dunkel. Ein Wagen kam heruntergefahren, bei der

Wirtschaft hielt er an; der Fahrer stieg aus. Irgendwo fiel eine

Haustür ins Schloss. Jetzt waren auf der Strasse Leute

zu hören. „Unfall.” – „Was ist?” – „Ein Auto brennt.” Bob fluchte

innerlich. Er war eingestiegen, nur das Fenster hatte

er offen gelassen. Und wenn sie herkommen? fragte er sich.

      Zehn Meter von Bob entfernt kletterte eine Gestalt

über’s Geländer – endlich, Flühmann! Bob stieg aus, als könnte

er Flühmann helfen. Bob nahm den Kanister entgegen.

      „Alles in Ordnung?”

      „Scheiss-Loch”, fluchte Flühmann. Er liess die Arme hängen.

„Da hat’s einen Industriekanal, da unten.” Flühmanns Hose sah

übel aus, bis über’s Knie zerrissen; die Schuhe glichen

lehmigen Klumpen.

      Bob verstaute den Kanister, der noch halbvoll war. Bis

hierher war der Gestank der Rauchfahne wahrzunehmen. Oder

bildete Bob sich das ein? Unten, hinter dem Abhang,

flackerte der Lichtschein der Flammen aus dem Tobel herauf.

Bob eilte nach vorn, drückte sich auf den Nebensitz und

zog die Türe hinter sich zu, so leise er konnte. Flühmann sass

am Steuer, barfuss. Sie fuhren los.

      „Hat’s lange gedauert?»

      „Eine Ewigkeit”, sagte Bob. Er sah Flühmann von der

Seite an. Seine unbekümmerte Art stiess Bob ab. „Im Dorf sind

die Leute unruhig geworden. Ich weiss nicht einmal, wie

das heisst hier.” Sie hatten den Tunnel passiert.

      „Schindellegi.”

      Dieselbe Strasse, vorzüglich ausgebaut, führte sie abwärts.

Unten schwarz der See. Die Lichter. Die nächtliche

Landschaft, Wie schön sie sein konnte! dachte Bob. Er war

vom Anblick gerührt, mehr als das. In das Gefühl mischte

sich plötzlich ein Anflug von Depression.

      „Schindel– was?”, fragte Bob zerstreut.

      „Schindellegi.” Flühmann schien gut gelaunt. „Bob, du

brauchst dir wegen Palmieri keine Gedanken machen. Ein ganz

übler Bursche war das. Mafia. Ein Killer. Die Sorte

Mensch. Die schrecken vor nichts zurück. Höchste Zeit,

dass wir ihn aus dem Verkehr gezogen haben.”

      Bob war erstaunt. Zimperlich war Flühmann ihm nie

vorgekommen, aber jetzt tönte es fast, als redete Flühmann

nicht von Palmieri, sondern von sich selbst. Bob sagte:

      „Ich mache mir keine Gedanken.”

      Mit Blaulicht und heulender Sirene kam ihnen ein

Polizeiauto entgegen. Einen Augenblick lang verspürte Bob ein

Gefühl wie der Erleichterung. Er sah, wie Flühmann den

Fuss vom Gaspedal nahm. Nicht einmal Schuhe hatte Flühmann

an. Der Fahrer des Polizeiautos interessierte sich nicht

für sie oder ihren Wagen. Er kreuzte sie mit unverminderter

Geschwindigkeit, um die Strasse hinaufzujagen, die sie

gerade herunterkamen.

      Flühmann fingerte am Lenkrad. „Da muss etwas passiert

sein”, sagte er und grinste.

      „Sie hatten die Feuerwehr schicken sollen.”

      „Die kommt noch, wirst du sehen.”

      Bob sagte nichts weiter. Auf einmal war er wieder wach. Ihm

missfiel es, sich hier in Sprüchen zu ergehen. Er fragte:

      „Weiss Vilma, dass es Palmieri gibt? Oder die Genovese

Family? Hast du Vilma davon erzählt?”

      „Nein.”

      Sie befanden sich bereits auf der Autobahn. Wir sind noch

einmal davongekommen, dachte Bob, aber sicher war er nicht.

      Nachdenklich sagte Flühmann: „Ich bin froh, dass du

mir geholfen hast.” Er hatte eine Camel angezündet.

      „Ich wollte, ich hätte Palmieri nie getroffen.”

      „Meinst du, ich nicht.” Flühmann blickte geradeaus. Sie

schwiegen eine Weile. Flühmann überholte gerade

einen Kleinbus, als er sagte: „Du kannst bei uns schlafen,

im Gästezimmer, wenn du willst.”

      „Nein, vielen Dank.” Bob schlug rasch die Beine

übereinander. „Ich möchte lieber zurück in meine Klause.”

      „Natürlich. Ich hab’s bloss gesagt, weil’s so spät ist.

Kein Problem, ich fahre dich heim.”

      Bob war voller Abwehr. Er hielt die Hände über dem Knie

verschränkt. Das war das letzte, was er wollte. Bei

Flühmann zu Hause aufwachen. Der Gedanke war Bob

unangenehm. Hatte Flühmnann ihm geholfen?

Er hatte Palmieri umgebracht. Das war’s, was Flühmann

gewollt hatte, nichts anderes. Es kam Bob vor, als

sei ihm das eben erst bewusst geworden.

      „Wie lange kennst du Fränzi jetzt?”

      „Sie sagt, ich stecke mit jedem Tag tiefer im Schlamassel.”

Bob überging die Frage, die er völlig unpassend fand.

„Und das ist ja auch wahr”, fügte er rasch hinzu.

      „Weisst du, ich – ich finde Fränzi sehr nett. Ich möchte nicht,

dass du meinetwegen Schwierigkeiten mit ihr hast. Sie ist

doch wichtig in deinem Leben, glaube ich.”

      Bob hörte gar nicht zu. Was wollte Flühmann? Ihm

eine Predigt halten? Ausgerechnet Flühmannl Soll er wenigstens

Fränzi in Ruhe lassen, dachte Bob. Er sagte:

      „Entschuldige, ich hab nicht zugehört.”

      Flühmann sagte: „Nur so eine Idee, nichts weiter.” Er zog

etwas aus dem Handschuhfach und gab es Bob.

      „Ist das für Fränzi?”

      „Ich hab gedacht, ihr macht das vielleicht Freude. Du kannst

es ruhig angucken.” Flühmann hatte Licht gemacht.

      „Was ist das?” Es war, in Seidenpapier gewickelt, eine

Art-Deco-Brosche aus schwarzem Lack und Silber.

Von Flühmanns Hand überreicht, dachte Bob und zuckte leicht

zusammen. „Wo hast du das her?”

      „Manhatten. lch hab’s bei einem Schwulen an der Eastside

gekauft. Einfach so, ohne an jemanden zu denken.”

      „Wann? Letzte Woche?”

      Flühmann hatte die Cigarette ausgedrückt. „Vor ein paar

Tagen, als ich in New York war.”

      Bob sass unruhig neben ihm. Sie schwiegen. Bob hielt

das Ding in Händen, als hätte Flühmann ihn beschämt. New York,

dachte Bob. Dabei kam ihm Palmieri wieder in den Sinn.

Bob sagte:

      „Wird einiges gekostet haben, das Ding.”

      Bob biss auf die Unterlippe. Flühmanns Geste – so

grosszügig sie sein mochte – gefiel Bob nicht. Würde Fränzi

das Ding annehmen – jetzt, wo sie so abweisend war?

fragte sich Bob. Vor ihnen leuchtete das Tor von Zürich auf,

ein zwölfspuriges Autobahnstück, das zur Stadt hin leicht

anstieg, nachdem die leeren Fahrspuren sich cinemaskopisch

aufgefächert hatten: Transit, Transit Zürich, Wiedikon City,

Zürich Brunau, Albisgütli Triemli-Spital. Was ist, wenn Franzi wissen

will, wo ich das Ding herhabe? dachte Bob. Das letzte Teilstück

der Autobahn verwandelten Tiefstrahler mit weichem dunkelgelbem

Licht, als wollte die Stadt die Ankommenden mit

Elektrizitiit begrüssen.

      Flühmann fuhr jetzt langsamer. „Es ist besser, du sagst

Fränzi nicht, wo du’s herhast. Du hast’s irgendwo gekauft.”

      Die Rampe der Ausfahrt senkte sich von der Höhe

der Betonpfeiler zweispurig herab, auf dem Asphalt vor der

Brandwache verdoppelte sich die Fahrbahn. Das sollte

seine geringste Sorge sein, dachte Bob. Er steckte das Ding ein,

indem er sagte:

      „Damit gibt sich Fränzi nicht zufrieden. Sie wird wissen

wollen, wo ich das Ding herhabe, und zwar ganz genau.”

      Flühmann hatte angehalten. Das Licht war bei der Ampel

auf rot gesprungen. Warum regte ihn das so auf? fragte

sich Bob. Er suchte seine Beine zu lockern. Dabei fiel Bob ein,

dass Fränzi weggegangen war, ohne sich mit ihm zu

verabreden. Es kam Bob vor, als sei alles unsicher geworden

zwischen ihnen.

      „Lass ein paar Tage verstreichen”, sagte Flühmann. Er fuhr

wieder an. „Du wirst sehen, in ein paar Tagen sieht alles

wieder ganz anders aus.”

      In rascher Fahrt ging es über die Kreuzung, hinauf

zum Bahnhof Wiedikon, der tiefgelegten Bahntrassee entlang,

hinter der die Hallen des Tramdepots, nächtlich erleuchtet,

vorbeiflogen. Beim Kino Forum bog Flühmann in die Langstrasse

ein, über die sich spärlicher nächtlicher Verkehr bewegte.

Die Bars und Wirtschaften hatten um diese Stunde dicht gemacht,

auf dem Trottoir vor einem Spielsalon stand eine Prostituierte.

      Bob sagte: „Hier, die nächste Strasse links.”

      „Ich weiss nicht, wo du wohnst.” Flühmann war in die

Querstrasse eingebogen. Er fuhr langsam geradeaus. „Du musst

mir zeigen, wo’s durchgeht.”

      Bob langte mit der verletzten Hand nach der Türfalle.

Musste er Flühmann zeigen, wo’s durchgeht? Bob wollte lieber

aussteigen. Er wusste unangenehm viel, dachte Bob.

Er konnte gegen Flühmann – Bob dachte nicht zu Ende. Er wollte

nicht vor die Haustüre gefahren werden. Nein, dachte

Bob. Er hob erstaunt den Kopf. Ein seltsames Gefühl. Das

Abbruchhaus lag geradewegs in ihrer Fahrtrichtung.

Hatte das Schicksal sie hergeführt? War es ein Zufall? Bob wusste

es nicht. Er sagte:

      „Drüben, auf der anderen Seite, kannst du anhalten.

Ich gehe die paar Schritte zu Fuss.”

      Flühmann verzog keine Miene. „Wie du willst.” Einige Meter

vor dem Abbruchhaus hielt er an.

      „Hier, das ist das Haus.” Bob zeigte mit dem Finger.

„Hier ist es passiert.”

      „Zimmerli?”

      „Ja.”

      Flühmann beugte sich vor. Er warf einen Blick auf

die Hausfassade, die im Dunkeln lag. Flühmann hatte den

Motor abgestellt.

      „Sie haben es zugemauert”, sagte Flühmann.

      Seltsam, überlegte Bob. Flühmann sass in der zerschlissenen

Hose neben ihm, barfuss. Hätte Flühmann Zimmerli

umgebracht, er hätte sich gut unter Kontrolle, dachte Bob.

Er öffnete die Wagentüre. Sie verabschiedeten sich,

und Bob stieg aus. Das Abbruchhaus! Der Eingang war mit

Backsteinen zugemauert. Ein makabrer Anblick.

      Flühmann winkte und fuhr davon.

      Jetzt war die Strasse leer. Bob hob die Brust und wandte

sich zum Gehen. Er hörte seine eigenen Schritte hinter sich.


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