Komplize Leserbrief Roman lesen weiter zurück
KAPITEL VIII
Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen
unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,
Zürich 1988.
„Hallo”, rief Flühmann noch einmal. „Wer ist da?” Wieder
war kein Ton zu hören. Flühmann stand im Vestibül, den Kopf
über das Telefon gebeugt, das unter der Ikone auf der
massiven alten Eichentruhe stand. Er hatte die Gartenstiefel
an, wippte leicht mit dem Oberkörper und horchte
angestrengt. Nichts. Jetzt knackste es, sekundenlang tote Leitung,
dann der Summton. War das Palmieri gewesen?
Angewidert legte Flühmann auf. Woher konnte der Anruf
gekommen sein? Flühmann wusste es nicht. Als er
am Bügelzimmer vorbeikam, wo Maria die Türe offen stehen
hatte, sagte er:
„Offenbar falsch verbunden.“
„Si, Senor.“ Maria hob ihr knochiges Gesicht. Sie war
gerade mit einem seiner Hemden beschäftigt, als
sie jetzt das Bügeleisen abstellte. Lächelnd sah sie Flühmann
an. Hatte sie die Haare neu geschnitten, kürzer?
Es war Flühmann vorher nicht aufgefallen. Maria hatte
glänzendes, schwarzes Haar. Sie war Anfang
dreissig, nett, ordentlich. Zweimal in der Woche kam sie
ins Haus, um zu putzen und die Wäsche zu machen.
Sie stand am Bügelbrett, drehte mit geübter Hand einen
Hemdkragen.
„Manchmal wäre es besser, das Telefon nicht
abzunehmen“, sagte Flühmann. Er war nie sicher, ob Maria
ganz verstand, was er ihr sagen wollte. Dabei war
sie stets pünktlich, und was sie in die Hand nahm, erledigte
sie gewissenhaft. Auch Besorgungen machte sie,
brachte Brot und holte Fleisch, das sie beim Metzger
im Dorf bestellten. Sogar ans Telefon ging Maria,
wenn sie allein im Haus war. Mit ihr hatten sie wirklich
Glück gehabt, dachte Flühmann. Maria stammte
aus einem Dorf in Andalusien, ihr Deutsch war noch
immer gebrochen. Und dass sie kein Wort Englisch
sprach, war Flühmann im Augenblick nur recht. Er
hatte etwas erledigen wollen, bevor er ans Telefon gegangen
war. Jetzt fiel es Flühmann wieder ein. Er musste
Maria noch das Geld bereitlegen. Er sagte:
„Sie haben die Haare neu geschnitten, Maria? Wirklich
hübsch.” Flühmann lachte. „Find ich gut. Doch, doch.”
Maria fuhr mit der Hand durchs Haar. „Ihnen gefällt, Senor
Flühmann? Oh, muchas gracias.” Ihre aufgeweckten,
grossen Augen schauten freudig gespannt. Sie fragte:
„In Munich, das Wetter –”
Stimmt! Jetzt fiel es Flühmann wieder ein. Hotel
Vier Jahreszeiten, natürlich! Er hatte Maria gesagt, er fliege
für zwei Tage nach München. Sie hatte auf spanisch
wiederholt: Munich.
„– das Wetter viel schön?”
Es war Flühmann lieber, wenn Maria dachte,
er sei in München gewesen. Falls sie jemandem davon
erzählte, so war das nicht weiter schlimm.
„Ja”, sagte Flühmann. „Das Wetter war sehr schön.
Warm, trocken. Ein bisschen windig wie immer.” Er zögerte.
„Sagen Sie, Maria, ist Ihnen das in letzter Zeit auch
passiert? Das Telefon läutet. Und dann ist niemand – ich
meine, niemand richtiger?”
„El teléfono?” Maria hatte nach dem Bügeleisen
gegriffen. Sie runzelte die Stirn. Plötzlich schien ihr etwas
einzufallen. „Andere Woche – Dios mio, Senor
Flühmann! Mit wem verbunden? Ein Mann fragen mich.”
Letzte Woche, überlegte Flühmann. Wahrscheinlich
ein harmloser Irrtum, den man getrost vergessen
konnte. Mit Palmieri hatte Flühmann erst zu tun, seit
er in New York gewesen war. Flühmann fragte:
„Und was haben Sie darauf gesagt, Maria?”
„Für Auskunft, Sie muss fragen Amt.”
Sie war unbezahlbar. Erneut fiel Flühmann das
Geld ein, das er für sie bereitlegen wollte. „Ich sehe –
nein, Sie machen das – Sie machen das wirklich
sehr gut, Maria”, sagte Flühmann. Er meinte es wirklich.
„Hallo! Ich sagen, como siempre. Keini Name.”
„Sehr gut.”
Flühmann zog die Stiefel aus. Er stellte sie an den
Rand der Treppenstufen, die zum Keller führten.
Dann nahm er die Post, die Maria auf die Truhe bereitgelegt
hatte, und ging hinauf in sein Arbeitszimmer. Ein
Bankauszug, in anonymem Couvert wie immer, die Neue
Zürcher Zeitung. Flühmann legte die Zeitung
ungeöffnet auf die Schreibunterlage. Sein Blick fiel auf
den Notizblock. Er hatte einen Namen darauf
notiert: Bob Franey.
Der Bankauszug war in Ordnung. Er gab ihn in den
Papierwolf, der hinter dem Schreibtisch in der Ecke
stand. Flühmann sah, wie das Blatt in Streifen zerfiel.
Bob Franey? Vielleicht war es zu hart gewesen, ihn
gestern so kurz abzufertigen. Irgendwie hatte sich Flühmann
Bob anders vorgestellt, zäher, intellektueller
vielleicht, mit Brille zum Beispiel. Wirklich verrückt –
ausgerechnet im Klub hinter der Theke! Wie kam
Bob dazu, ihm Zimmerlis blöde Rechnung nachzutragen?
Flühmann hatte im Klub bestimmt keine Rechnung
liegen gelassen. Eine nicht gerade geschickte Art der
Annäherung, fand Flühmann. Der Annäherung?
Darum war es Bob doch gegangen, das hatte Flühmann
zumindest so verstanden, auch wenn er aus dem
Manöver nicht klug geworden war.
Was hatte Bob erwartet? Er hatte so enttäuscht
dreingeblickt, als Flühmann weggegangen war. Und wenn
schon! Flühmann hatte andere Sorgen. Das war
sicher nicht der Zeitpunkt, sich mit Bob auseinander-
zusetzen. Flühmann hatte sich vorgenommen, die
Gartenmauer zur unteren Strasse hin auszubessern – eine
kleine handwerkliche Arbeit, wie er sie liebte.
Und Palmieris Ultimatum? Flühmann rechnete vor
Ablauf der Frist mit Palmieri. Er sah auf die Uhr. Viertel
nach zwei. Ob er Bob wohl jetzt im Klub antraf?
Vielleicht war es gar nicht schlecht, sich mit Bob einmal
zu unterhalten. Falls er nicht dort war, konnte
Flühmann sich mindestens bei Fränzi nach ihm erkundigen.
Sicher war sie es gewesen, die Bob eingestellt
hatte. Flühmann wandte sich zur Tür. War er nicht wegen
etwas Bestimmtem heraufgekommen? Wegen
Maria, ach ja. Maria wollte keine Schecks. Rasch entnahm
Flühmann der Schublade zwei Hundertfrankennoten,
schloss die Türe seines Arbeitszimmers und
kam die Treppe herunter. Unten rief er:
„Adios, Maria. Hören Sie, ich bin für eine Stunde
weg, falls etwas sein sollte. Auf Wiedersehen.”
„Wiedersehen, Senor Flühmann.”
„Das Geld für Maria legte Flühmann im Vestibül neben
das Telefon, wo Vilma es immer hinlegte. Hatte er
die Schlüssel? Flühmann klopfte mit den Händen auf die
Hosensäcke. Er holte den Wagen aus der Garage
und fuhr los.
Im Klub war Flaute. Bob stand hinter der Theke, die er
feucht abrieb, wobei er eine Schale mit belegten
Brötchen hochhob. Drüben, an Tischen soweit auseinander
wie möglich, sassen Madame Gloor und Thomy,
der Bruder der von Orelli-Mädchen; sonst war alles verlassen,
alles leer. Genau, wie Flühmann gehofft hatte.
Warum sollte er die Gelegenheit nicht nutzen? Flühmann
war einen Augenblick lang bei der Eingangstüre
stehengeblieben, in seiner Hand die Schlüssel, mit denen
er herumspielte. Ein geheimnisvoller Vogel, dieser
Bob Franey! Flühmann nahm auf einem der Barhocker
Platz, legte die Schlüssel auf die Theke und
lockerte sein Hemd.
„Und Ihnen?”, fragte Bob, als er sich Flühmann
zuwandte. Bob trocknete die Hände an der Schürze ab, die
er umgebunden hatte. „Was darf ich Ihnen bringen?”
„Mir einen Klubtee, bitte.” Flühmann drehte sich um,
aber in seinem Rücken war niemand ausser Madame
Gloor. Verstört, wie Bob ihn ansah. Oder war ihm das gestern
bloss nicht aufgefallen?
„Gern.” Bob langte nach dem Krug mit dem kalten
Tee, als wollte er Flühmann ein Glas einschenken.
„Natürlich ein kleines Bier, meine ich”, sagte Flühmann.
Er lächelte. „Wir verstehen uns nur noch nicht
ganz richtig.”
„Eins aus dem Kühlschrank?”, fragte Bob. Er drehte
sich um. „Oder ist lhnen das zu kalt?”
Wieder dieser schräge halb gesenkte Blick, mit dem
Bob Flühmann streifte. Oder waren es die Schliissel, die Bob
interessierten? Fliihmann sagte:
„Lieber nicht direkt vom Kühlschrank, wenn Sie
das machen können.”
Bob holte ein Bier von draussen.
„Sehr schön”, sagte Flühmann. Bob schenkte ein
und stellte die Flasche gleich weg. „Das können Sie gar
nicht wissen, das mit dem Klubtee.” Flühmann besah
sich die Schaumkrone. „Ist ja auch zu blöd, ich meine –
für jemanden, der hier anfängt.”
„Das ist mein zweiter Tag.”
„Ach, kein Wunder, sind Sie mir gestern ein bisschen
gehetzt vorgekommen.” Flühmann biss sich auf
die Unterlippe. Er wusste genau, er selbst hatte es eilig
gehabt. Nicht gerade fein, das nun Bob anzuhängen!
Flühmann nahm einen Schluck Bier, das nun allerdings
eine Spur zu lau war. „Sehen Sie”, sagte er sanft.
„Und jetzt stehen Sie hier und machen das schon allein,
so rasch geht das.” Flühmann wollte vermeiden,
dass Bob sich abwandte. „Und Fränzi?”, fragte Flühmann,
indem er zur Türe blickte. „Ist sie – ist Franzi
nicht da?”
„Sie ist schnell weggegangen”, sagte Bob. Er sah
Flühmann an, senkte den Blick und zuckte die Schultern.
„Fränzi hat gesagt, sie kommt gleich wieder.”
„Ich hab sie –” Was wollte er mit dieser Feststellung?
fragte sich Flühmann und zögerte mit dem Satz.
„– hab sie gestern gar nicht gesehen, glaube ich.”
„Übrigens, es hat ein Herr nach Ihnen gefragt,
am Telefon, gestern Abend, als Sie weg waren – ein Herr,
ein Amerikaner.”
„Ein Amerikaner?” Flühmann stellte das Bierglas
wieder ab, das er ergriffen hatte. „Hier im Klub?” Er sah
Bob mit gespielter Überraschung an.
„Ja. Palmieri heisst er”, sagte Bob. „Er hat gesagt,
er ruft heute nochmals an.”
„Sagen Sie ihm –” Also doch! überlegte Flühmann,
ohne sonderlich beunruhigt zu sein. „– sagen Sie Palmieri,
ich bin nicht da.” Als müsste er ihn abschütteln!
Flühmann wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl,
dass Palmieri ihm nah war. Was Palmieri wohl
jetzt gerade machte? Leise fügte Flühmann englisch
hinzu: „There’s a lot of negative vibrations surrounding
the guy.”
„Warum?” Bob musste lachen. „Schickt ihn die Mafia?”
Flühmann richtete sich auf. Nein, er konnte nicht
lachen wie Bob. Scheusslich, wie still es hier im Klub sein
konnte, dachte Flühmann. Dazu der Aufprall der
Bälle, gleichformig, endlos.
Von der Terrasse her waren auf einmal Stimmen
zu hören, und Flühmann sah, wie Dr. Gränichers bärtiges
Gesicht im halb geöffneten Schiebefenster auftauchte.
Dr. Gränicher winkte mit der Hand Madame Gloor
übertrieben freundlich zu und verschwand sogleich wieder
nach draussen. Zwei oder drei andere Personen
waren anscheinend in seiner Begleitung. Es ist besser,
im Augenblick nichts weiter über Palmieri zu sagen,
dachte Flühmann.
„Was denken Sie, Bob –” Flühmann brach unentschlossen
ab. Er schob das Glas beiseite. Ob er Bob auf heute
Abend zu sich nach Hause einladen sollte? Sie könnten
allerdings auch auf ein Glas ins Bürgli gehen,
wo sie die Möglichkeit hätten, im Freien unter den Kastanien
zu sitzen und inmitten manchmal unsäglich biederer
Gäste über Palmieri oder sonstwen zu reden, unten im See
die Ausflugsschiffe, die nach Wollishofen in die Werft
heimkehrten. Oder eignete sich der Mönchalthof besser,
direkt am Bootshafen in Kilchberg? Da konnte man
überdies einen Rindfleischspiess vom Grill bekommen, man
wäre in unbesorgter, sich vielstimmig unterhaltender
Gesellschaft. Flühmann sagte:
„Ich muss mich wegen gestern noch bedanken.
Können wir in Ruhe einmal ein Glas zusammen trinken?”
Bob hob den Kopf. „Und wann?”, fragte er.
„Warum nicht heute Abend?”
Flühmann wurde plötzlich bewusst, dass er das gar
nicht konnte – mit Bob im Bürgli oder im Mönchalthof sitzen.
Nein, das war unmöglich! Er konnte doch das Haus
nicht allein lassen – nicht, solange Palmieri ihm im Nacken sass.
„Wir könnten zu mir nach Hause gehen”, sagte
Fliihmann. „Ich würde im Auto –”
„Kann ich –” Thomy drängte sich dazwischen.
„– kann ich Geld haben zum Telefonieren?” Bob gab ihm
zwei Zwanziger und notierte das irgendwo. Der Kleine
verschwand wortlos.
„– draussen auf dem Parkplatz, ich warte im Auto.”
„BMW grau metallic?”, fragte Bob.
Fränzi kam durch die Tür. Im Arm trug sie Esswaren,
die sie im Kühlschrank verstaute.
„Genau.” Dass Bob sich den Wagen gemerkt hatte,
erstaunte Flühmann. Bob, dem das Schreiben soviel
bedeutete, dass er dafür die Computer Camps aufgegeben
hatte – BMW grau metallic, das also war ihm doch
geblieben.
„Sagen wir um sieben. Ist Ihnen das recht?”
Bob schaute mit leerem Blick geradeaus. „Ich werde
mich nach Ihnen umsehen”, sagte er und liess die
Arme hängen.
Diesmal bezahlte Flühmann. Er sah, dass Dr. Gränicher
erneut im Schiebefenster auftauchte. Bei Dr.
Gränicher war jetzt ein hagerer, modischer Typ mit Brille,
den Flühmann nicht kannte. Ihnen folgte Frau
Dr. Gränicher, und neben oder hinter ihr, halb verdeckt,
eine zierliche, kurzhaarige Blondine. Das gemischte
Doppel baute sich zuoberst an der Theke auf, und Bob nahm
die Bestellungen entgegen.
Hatte er die Schlüssel liegen lassen? Er fand sie
in der Hose. Er erinnerte sich nicht, sie eingesteckt zu haben.
Wie die Blondine ihn angesehen hatte, halb belustigt,
halb höflich, die Schulter leicht gehoben, dachte Flühmann,
als er davonging.
„Ist doch aber wirklich wahr!” Das war Fränzis Stimme.
In der Tür sah Flühmann, wie Bob am Kühlschrank
bei ihr stand. Es sah aus, als hätte Bob etwas getan oder
gesagt, das Fränzi aufs äusserste missfiel.
„Und jetzt?” fragte Fliihmann. „Ist sie –” Es war halb acht,
und Bob sass Flühmann im Wohnzimmer gegenüber,
verstockt, den Unterarm auf der Umrandung des Sofas. Was
hat er nur, dachte Flühmann. Bob trommelte mit den
Fingern auf das Leder. Er sah beunruhigt aus, und Flühmann
hätte ihn gern etwas aufgemuntert.
„– ist sie sauer?”
„Ich weiss nicht”, sagte Bob. „Es ist nicht nur wegen
heute... Fränzi – sie hat damit gerechnet, dass ich nachher noch
mit ihr zusammen bin. Es ist soviel –”
„Willst du sie anrufen!”
Nein, das wollte Bob nicht. Sie sagten sich du, Flühmann
hatte das vorgeschlagen, als sie im Wagen hergefahren
waren. Bob sagte: „Sie hat mir – in letzter Zeit hat Fränzi mir
unheimlich geholfen.”
„Was willst du trinken?”, fragte Flühmann. Ob er Bob
einen Cocktail vorschlagen sollte? Einen eiskalten
„Manhatten” mit Maraschino-Kirsche? Wohl doch eher nicht.
„Es hat Whisky – Scotch und Bourbon, Campari,
Pernod.” Flühmann beugte sich über die Batterie der Flaschen,
die im Wandschrank standen. „Oder etwas Weisswein?”,
fragte Flühmann. „Ein Bier?” Es hatte Feldschlösschen und
Budweiser. „Ein Mineralwasser?”
Bob starrte vor sich hin. „Ich will nichts”, sagte er zuletzt.
„Nicht im Augenblick.”
Flühmann holte sich ein Bier. Dann rückte er den
hohen Sessel zurecht und setzte sich zu Bob. Er musste
versuchen, ein aufrichtiges Gesicht zu machen. Wie
Bob wohl reagieren würde, wenn überraschend Palmieri jetzt –
aber Flühmann hatte keine Idee, was Palmieri
zuzutrauen war. Er glaubte nur zu spüren, dass etwas im
Gange war – eine Ahnung, dumpf und unabweisbar.
Der Tag war verdächtig ruhig verlaufen. Eigentlich hatte
er einen Anruf von Vilma erwartet. Oder von Jeff!
Und jetzt sass Bob Franey bei ihm... Flühmann wusste nicht,
wie er das Gespräch anfangen sollte.
„Hat er nochmals angerufen, dieser – dieser Palmieri?“,
fragte er.
„Nein, er –”
„Weisst du, es ist mir überhaupt ein Rätsel, wie er auf
die Idee kommt, im Klubhaus anzurufen.”
Bob beugte sich vor. „Ich hab dir – sorry, Max, ich
habe dir nur die Hälfte erzählt.” Bob sprach zögernd. „Er hat
nicht nur angerufen, dieser Palmieri. Ich hab ihn – nun,
ich hab Palmieri persönlich gesehen.”
„Du meinst, er hat sich –” Unglaublich! Palmieri
hatte sich also an Bob herangemacht. „Was hat er denn
gewollt?”
„Die Schüssel.”
„Die Schlüssel?” Sollte das ein Witz sein? Flühmann
musste lachen. „Was denn für Schlüssel? Hier – zum
Haus?”
„Ja, genau.”
Die Schlüssel! Darauf hätte Flühmann gerne angestossen.
Wirklich schade, dass Bob so zusammengesunken
dahocken und den Verweigerer spielen musste. „Die Schlüssel!” Flühmann nahm einen Schluck aus seinem Glas.
„Aber Bob, woher –” Nein, es war unglaublich! Warum
konnte Palmieri nicht einsteigen, wie jeder Einbrecher es tat?
„– woher denn die Schlüssel? Und wie? Er hat sich
doch etwas gedacht dabei.”
Bob blickte völlig entmutigt.
„Palmieri hat sich vorgestellt, dass du – er hat
angenommen, du spielst Tennis, und die Schlüssel, die lässt
du im Garderobenkasten, also – Das war seine Idee,
anders kann ich’s nicht sehen. Ich hätte ihn warnen sollen,
wenn du fertig gespielt hast, das heisst, wenn du
den Klub verlässt.”
„Und hat er dir ein hübsches Angebot gemacht?”
„Fünfhundert in die Hand zum voraus, aber ich –” Bob
hatte die rechte Hand auf dem Knie liegen. Sie war verpflastert
und zitterte. „– ich hab die Noten nicht angeschaut.”
„Fünfhundert Dollar?”
„Yeah.”
„Nicht gerade umwerfend.”
„Und dann, als ich nicht wollte, hat Palmieri eine andere
Summe genannt. Völlig verrückt.”
„Das Fünffache?” Flühmann hatte das einfach so gesagt.
Er lachte tonlos. Was ihn wirklich beschäftigte, war die
Frage: Wer mochte Palmieri auf den Klub hingewiesen haben?
Bob starrte vor sich hin. Das ganze schien ihn
überhaupt nicht zu interessieren. „So ungefähr”, sagte er
und rieb sich das Auge.
„Zweieinhalbtausend Dollar! Sag einmal, Bob –”
Flühmann sah Bob in die Augen. „Warum hast du abgelehnt?
Oder hast du gar nicht abgelehnt?”
Bob senkte den Blick. „Ich hab abgelehnt.” Er sah
an Flühmann vorbei, wie die ganze Zeit bereits, schräg hin zur
Tür, als wollte er im nächsten Augenblick davonlaufen.
„Warum? Ich – ah – ich weiss nicht.”
Flühmann machte mit der Hand eine vage Bewegung.
„Nein?” Sicher wusste Bob genau, warum er abgelehnt hatte.
„Ich bin nicht der richtige Mann, hab ich Palnaieri gesagt.”
Ob das wirklich auch stimmte? Flühmann trank das Bier aus.
„Das versteh ich nicht”, sagte er und stellte das Glas
beiseite. Er zog die Schlüssel hervor und schwenkte sie in der
Hand – offen, damit Bob sie sah. „Meistens, weisst du –”
Ist das Palmieris ganzer Schrecken? Irgendwie begann die Idee Flühmann zu amüsieren. „– meistens lasse ich die
Schlüssel tatsächlich im Garderobenkasten, das stimmt,
aber geklaut worden sind sie mir noch nie.”
Bob lächelte schwach. Er blickte uninteressiert. Palmieris
Idee. Imgrunde gefiel sie Flühmann nicht schlecht.
Er war aufgestanden, blieb am Fenster stehen und sah
zwei Spatzen zu, die sich auf den Steinfliesen der
Terrasse tummelten. Umgekehrt! dachte Flühmann. Es musste
möglich sein, die Idee mit den Schlüsseln umgekehrt
zu verwirklichen. Ob Bob sich dazu überreden liess? Flühmann zweifelte daran.
„Hast du einen Grappa?” fragte Bob. „Ich glaube, ich
könnte jetzt einen vertragen.”
Flühmann schenkte Bob ein. Er war erleichtert. Gut, das
konnte ein Schritt sein, mit dem Bob ihm entgegenkam.
Bob seufzte. Er lehnte sich zurück. „Palmieri –” Er nahm
das kleine Glas und kippte es. „– ich will sein Geld nicht.”
Das sah aus, als hätte Bob darauf getrunken. „Du ersparst
mir –”, sagte Flühmann, als er sich setzte. „Bob, du hast
mir ein ganz böses Erwachen erspart.” Er hatte Bier
nachgeschenkt. „Ich würde gerne etwas für dich tun. Verstehst
du, ich weiss gar nicht, wie ich dir danken soll.”
„Ach, das ist –” Bob sah Flühmann gerade an. „– ist das
so wichtig?” Das kam nun allerdings abrupt und wieder
ganz aus der Verteidigungsstellung.
Flühmann räusperte sich. „Wenn es etwas gibt, was ich
für dich tun kann – du musst es mir sagen.”
Offenbar fiel Bob nichts ein, was er erwidern konnte.
Oder wollte er’s einfach nicht sagen? Bob schwieg.
„Ich meine ja nicht, dass du es gleich jetzt sagen musst,
Bob.” Umgekehrt! Flühmann überlegte, ob er Bob bitten
konnte, Palmieri anzurufen und ihm zu sagen, er habe die
Schlüssel. Ob das möglich ist? „Du kannst’s dir in Ruhe
überlegen”, sagte Flühmann.
Bob schüttelte den Kopf. „Danke.” Er suchte sich
aufzurichten.
„Sag einmal, Bob –” Wie er in der Sofaecke kauert,
bescheiden, kurzsichtig und linkisch, dachte Flühmann.
Bestimmt störe ich ihn in der Einsamkeit seiner Schreibarbeit.
Flühmann zog die Beine an. Bob war in seine gebeugte
Haltung zurückgefallen, die Hand mit dem Heftpflaster auf dem
Knie. Flühmann nahm die Schlüssel und versenkte sie
in seiner Hose. Die Schlüssel als Köder! Sicher wäre es leichter,
mit einem solchen Vorschlag zu kommen, wenn Bob
wenigstens eine Geste des Dankes akzeptieren würde. Nichts
war einfacher, als Palmieris Idee umzukehren! Das sah
Flühman deutlich, aber seine Gedanken blieben sprunghaft.
Was wollte Palmieri? Das Haus hier durchsuchen?
Unter der Treppe eine Sprengladung anbringen? Es war nicht
auszudenken, was so ein Knall für Folgen hätte. Die Polizei,
das Aufsehen, die Nachbarn. Dem musste er zuvorkommen, das
war Flühmann klar. Oder war das nur leere Drohung?
Was aber war, wenn Bob als Sendbote auftrat? Was für ein
Wort, Sendbote! Erfüllte Bob nicht genauso Palmieris
Einschüchterungstaktik, wenn er hier als Verräter oder
vermeintlicher Verräter auftrat? Unsinn! Flühmann sagte:
„Würdest du Palmieri anrufen, wenn ich dir die
Schlüssel gebe?”
Bob fuhr auf. „Diesen Schnüffler?” Er fügte etwas hinzu,
was sich anhörte wie „keine Lust” und „zu tun haben”.
Und sogleich sank er in Gedanken zurück, die weit entfernt
schienen.
„Ja schon, aber –”, sagte Flühmann, obwohl er nicht
verstanden hatte. „Wir – ich könnte dann herausbekommen,
wie weit Palmieri gehen will.” Bob schien gar nicht
zuzuhören. Schnüffler! Das Wort gefiel Flühmann nicht.
Woran dachte Bob wohl? Flühmann sagte:
„Ich könnte versuchen, mit Palmieri zu reden, wenn
er die Schlüssel hat.” Der Gedanke war Flühmann unangenehm. Herrgott, es musste doch möglich sein, Palmieri
zu überzeugen, von seinem Vorhaben mit der Confidential
Phoenix abzulassen.
„Ich stelle Palmieri keine Falle”, sagte Bob. Er hatte
sich vorgebeugt. Einer von ihnen war falsch programmiert,
da bestand für Bob kein Zweifel. Oder vielleicht gar
beide? Hatte Flühmann mit Zimmerli nicht auch zu reden
versucht, in jener Nacht im Hinterhof? Bob sagte:
„Darf ich dich etwas fragen, Max?”
„Jederzeit. Was du willst.”
„Die Rechnung, die ich dir gestern –” Die Uhr! Jetzt erst,
als Flühmann verstohlen einen Blick auf die Armbanduhr
warf, fiel sie Bob auf. War das jetzt eine Patek Philippe? Die Uhr
sah aus wie jene, die Fränzi ihm heute im „Spiegel”
gezeigt hatte. Überhaupt, das Haus, die Möbel, die Bilder.
Ob das Geld dazu aus der gleichen Ecke kam wie
Palmieri? Flühmann hatte ihn einen Blick in den Garten
werfen lassen, der weitläufig genug war um eine
wildwuchernde Teichanlage diskret zu verstecken. Ein Biotop.
Das hätte Bob bei Flühmann zuletzt erwartet.
„Die Rechnung, ja”, sagte Flühmann. „Was ist mit ihr?”
„Ich –”
Flühmann beugte sich vor. „Entschuldige, Bob. Du hast
mich etwas fragen wollen. Mich kannst du fragen, ungeniert. Ich
hab überhaupt –”
Flühmann fuhr mit der Hand durch das Haar. Er machte
ein Gesicht, das nachdenklich, fast ernst aussah, mit
hochgezogenen Augenbrauen.
„– ich hab nichts zu verstecken.”
Nein? Bob war da nicht so sicher. Er hatte den Eindruck,
dass Flühmann sich zwar Mühe gab, nicht ungeduldig
auszusehen, aber lieber beim Problem geblieben wäre, das
Palmieri für ihn sein musste.
„Die Rechnung war auf deinen Namen ausgestellt.”
Bob sprach jetzt sehr schnell und undeutlich. Geradezu schäbig
kam er sich vor, an Zimmerli und die Rechnung zu erinnern.
„Erinnerst du dich? Irgendetwas mit Teppichen.
Ein- oder zweitausend Franken.”
„Zimmerli hat die Rechnung auf meinen Namen
ausstellen lassen, das stimmt. Er ist verrückt. Er hat die
Teppiche kaufen wollen. Ich hab ihm gesagt, ich will
damit nichts zu tun haben. Das war vor ein paar Wochen.
Ich weiss nicht, was aus den Teppichen geworden
ist. Ich hab sie nicht gesehen. Es ist Unsinn, ich weiss. Man darf
einen Mann wie Zimmerli nicht ermutigen. Und doch,
irgendwo hat er mir leid getan, verstehst du. Ich hab ihm
Geld gegeben. Nicht viel. Zimmerli sah aus, als sei
er am Ende. Andererseits, weisst du – mir ging’s darum, dass
er aufhört, in meinem Namen mit Teppichen oder weiss
der Teufel was zu handeln.”
Bob rutschte auf dem Sofa. „Wie kommt er dazu?”
„Nun”, sagte Flühmann. „Das ist eine lange Geschichte.
Das hat mit der Ampa-Affäre zu tun, mit dem Konkurs
damals. Zimmerli war auf einmal verschwunden. Und mich hat
man verdächtigt, ihn –” Ihn umgebracht zu haben,
dachte Bob. Flühmann lächelte ein dünnes Lächeln. Offenbar
will er an die Vergangenheit nicht rühren, dachte Bob
und schluckte.
„– ihm geholfen zu haben”, sagte Flühmann.
„Verdächtigt? Von der Polizei?”
Flühmann winkte ab. „Überall haben sie Zimmerli gesucht.
Zuerst in Zug, wo er sein Büro hatte, dann hier
in Zürich, dann... Zimmerli galt während Monaten als vermisst.
Dabei hat man vermutet, dass er als Lizenzvermittler
eine nicht unwichtige Rolle –” Flühmann lachte. „Sogar nach
Zimmerlis Leiche begann man zu suchen.”
Wann ist das gewesen? fragte sich Bob. Flühmann
war bestimmt vierzig. Er hatte ein unverkrampftes, rundliches
Gesicht, die ersten Falten nicht zu übersehen. Sein
Haar, hell, kräftig, voll, liess die Ohren frei.
„Für mich war die Sache nicht gerade angenehm,
das kannst du mir glauben”, fügte Flühmann hinzu. „Nun ja,
es war alles Unsinn, wie sich herausgestellt hat.”
„Und Zimmerli?” fragte Bob.
„Eines Tages hat er wieder dagestanden.” Flühmann zuckte
die Schultern, machte mit der Hand eine Bewegung
und strich die Haarsträhne aus der Stirn. Er sah Bob aus
unschuldigen blauen Augen an, als wollte er sagen:
So schlimm kann es nie sein, wie es sich jeweils anhört.
„Dann ist das also Fehlalarm gewesen?” Bob wusste
nicht, wo er das unterbringen sollte. Ampa-Affäre? Lizenzvermittler? Bisher hatte er nur Zimmerlis Ende gekannt.
„Wenn du so willst”, sagte Flühmann. Er hob das Kinn.
„Bei mir taucht Zimmerli alle paar Jahre auf – immer,
wenn er abgebrannt ist. Und immer hat er ein Geschäft, das
er nicht realisieren kann – das Geschäft, das ihn ein
für allemal sanieren wird. Manchmal kommt Zimmerli mir vor
wie ein Schatten – aber gut, ich kann damit leben.”
Und das nicht schlecht! dachte Bob. Er rappelte sich
hoch, verzog den Mund zu einem Lächeln und liess die Hand
auf das Sofaleder klatschen. Diskret-vermögend, wie
es hier aussieht! Trotzdem hatte Flühmann ihn gerührt. Seltsam,
dachte Bob. Yeah!
„Das ist jetzt vorbei”, sagte er nach einer Pause.
„Ich habe Zimmerli am Montag gesehen, im Abbruchhaus,
weiss, ganz steif hat er ausgesehen, schwarzes Blut
am Ohr, am Hinterkopf –”
„Nein!”
Bob schaute weg. Das Sofa ist echt Leder, dachte Bob.
Man kann es riechen. Bob wusste nicht, ob er Flühmann glauben
konnte.
„Merde alors”, rief Flühmann. „Du lässt mich über
Zimmerli reden! Dabei ist er tot!” Empörung schwang in seiner
Stimme. „Warum, verdammt nochmal, sagst du das nicht?”
„Was ändert das?”, erwiderte Bob rasch.
„Ein alter Mann mit der Rechnung im Klub. Das hast du also
erfunden. Dabei war Zimmerli tot.”
„Ja.”
„Hat’s ihn erwischt, den verrückten Hund.” Ein Lächeln
ging über Flühmanns Gesicht. „Du fragst, was das ändert?”, rief
er mit erhobener Hand. „Einiges.”
Bob wippte mit dem Fuss. Wie Flühmann das gesagt hat,
dachte Bob. Die Stimme, die Bewegung. Überhaupt, Flühmann
machte nicht den Eindruck, als hätte er mit Zimmerlis
Ende zu tun.
„Nicht für mich”, sagte Bob.
„Ein Abbruchhaus, hast du gesagt? Wo?”
„Am Ende der Neufrankengasse, eine Nebenstrasse hinter
den Geleisen, im zweiten – im ersten Stock, da hat er am Boden gelegen, tot, als ich ihn fand.”
„Nein!”
„Ich hab ihm die Taschen umgedreht. Wie ein
Leichenfledderer! Dann ist mir schlecht geworden. Ich musste
weg.” Bob wusste nicht warum, aber er fühlte sich
irgendwie erleichtert. Flühmann war der erste, dem er das
sagen konnte. Das hatte er ganz vergessen. Wie
ein Geständnis, dachte Bob. Nein, das wohl doch nicht.
„Der Tote!” sagte Flühmann.„Bei ihm hast du die
Rechnung gefunden? Bob, ich verstehe das nicht. Hast du
Zimmerli gekannt?”
„Er hat auf der Polizei gesagt, er ist mein Vater. Das
war vor ein paar Tagen.” Bob wischte sich über das Auge, das
feucht geworden war. Er fühlte sich unsicher. Er hätte
den Grappa nicht trinken sollen. „Jetzt sagen sie, es ist eine
Verwechslung gewesen.”
„Mein Gott!” Flühmann war aufgesprungen. Er hielt
die Hand an den Nacken gepresst und schüttelte den Kopf.
„Wollen wir ein bisschen hinausgehen an die frische
Luft? Das wird uns sicher gut tun.”
Sie traten schweigend in den Garten hinaus. In der
letzten abendhellen Stimmung das Gezirpe der Grillen. Bob
ging neben Flühmann her. Als sie zur Birke kamen,
flatterte eine Krähe auf. Oberhalb der Böschung blieb Flühmann
stehen. Bob schaute geradeaus, in dieselbe Richtung
wie Flühmann. Unten das dichte hochaufragende Schilf, das
der Wind fliessend bewegte. Der Teich sah aus,
als spiegelte sich darin die Sonne, so rot wie das Wasser.
„Dieses Schwein“, sagte Flühmann. Im nächsten
Augenblick rannte er los. Er kauerte am Teich, den Kopf
in Händen, als Bob ihn einholte. Eine rote Lache
überzog das Wasser, selbst Blätter und Stengel der Rohrkolben,
die am Rand des Teiches standen, zum Teil geknickt.
Zu Bobs Füssen lag, in Farbe gehüllt, etwas Kleines, Gespreiztes,
totenstarr. Bauch und Glieder eines Frosches.
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