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KAPITEL VII



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Bob atmete die Morgenluft ein, die kein noch so leises

Windchen bewegte. Das Küchenfenster stand offen. Kranmaste

überragten die Dächer von Aussersihl, am Himmel war

leichtes Gewölk. Aus der Neufrankengasse drang lärmender Kolonnenverkehr herauf, unausweichlich, als wollte

er ihm seine Einsamkeit, seine Isolation in Erinnerung rufen.

Ein zum Stehen gekommener Lastwagen erzitterte unter

dem starken gedrosselten Motor, kurz übertönt von einem schweren

Motorrad, das knatternd davon preschte. Ein Auto hupte.

Ein Bremsgeräusch brach ab. Kein dumpfer Zusammenprall,

aber eine Sekunde lang Stille, tatsächlich irgendetwas

wie Stille war zu hören. Dann überschlug der bohrende Schall

eines Mopeds sich zwischen den Hausfassaden,

und schleppend setzte der für einen Augenblick gestoppte

Kolonnenverkehr wieder ein.

      Bob schloss das Fenster.

      Er hob die Hand, die schmerzte. Er spürte das Pochen

in der Wunde, als rufe eine Stimme ihm zu: Don’t go there! Er hatte

sich in seinem Zimmer an den Schreibtisch gesetzt.

Vergeblich. Er hatte kaum den Bleistift halten können. Nein,

es war nicht nur wegen der Hand. Er hatte sich den

unfertigen Abschnitt seines Manuskripts vorgenommen. War die Geschichte ihm fremd geworden? Ein Mann, der an den

Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Er besucht seine Mutter. Er hat

seine Frau verlassen. Er will sich scheiden lassen.

„Wer ist sie?“ fragt die Mutter. Und er sagt – er ist erstaunt.

Er sagt: „Es gibt keine andere. Ich lebe allein.“ Und sie

fragt: „Ist sie hübsch?“

     Bob rieb sich am Auge.

      Er hatte drüben bei Fränzi im Bett gelegen, beim

Aufwachen blinzelnd, ihr offenes hellbraunes Haar neben sich,

ein beglückendes Gefühl, ihre Versicherung, halb

schlafend noch, als es plötzlich an der Wohnungstür geiäutet

hatte. Zehn nach sieben. Seine Uhr war unter der

Bettkante am Boden. Und wieder hatte es geläutet. Einmal.

Zweimal. Wer konnte das sein?

      „Wer kann das sein?“, hatte Fränzi gefragt. Erschrocken

war sie aufgesprungen. Sie hatte sich das schwarze Sommerkleid

übergeworfen. Sie ging nachsehen.

      Eine Stimme sagte: „Schubiger, Kriminalpolizei.“

      Bob stiess die Decke von sich und begann sich hastig

anzuziehen. Er hörte, wie Fränzi ein paar Worte sagte, die er nicht

verstand.

      „Ist er bei Ihnen?“ fragte Polizei-Detektiv Schubiger

an der Tür. „Ich möchte ihm ein paar Fragen stellen, wenn Sie gestatten.“

      „Bitte. Wenn’s sein muss“, sagte Fränzi. „Wollen Sie

hereinkommen?“

      Bob trat fast gleichzeitig in die Küche. Fränzi warf ihm

einen Blick zu. Versteckt. Unverhohlen empört.

      Polizei-Detektiv Schubiger zog ein Notizbuch hervor.

„Sie wohnen bei Fräulein Signer? Ist das richtig?“ Er hatte sich

an den Tisch gesetzt.

      Bob sagte: „Sie überlässt mir ein Zimmer.“

      Er war barfuss, nur mit Hemd und Hose bekleidet.

      Schubiger fragte: „Aber Sie - Sie leben hier zusammen?“

      „Er ist gemeldet, wie es Vorschrift ist“, sagte Fränzi.

„Als Untermieter.“ Sie bog den Kopf zurück. Sie steckte einen

Kamm ins Haar.

      „So? Aber das ist nicht nötig. Wissen Sie das nicht?

Solange er nicht einer Erwerbstätigkeit nachgeht, kann er bei

Ihnen wohnen. Bis zu drei Monaten. Es besteht

keine Meldepflicht.“

      „Nein?“ Fränzi setzte Kaffeewasser auf.

      „Nein.“ Schubiger runzelte die Stirn. „Oder arbeiten Sie

in der Schweiz, Herr Franey?“

      „Ich? Nein.“

      „Nehmen Sie Kaffee?“, fragte Fränzi.

      Schubiger hatte bereits gefrühstückt. Er betrachtete Bobs

Hand, die mit einem Heftpflaster bedeckt war. Ein amüsierter, registrierender Blick.

      „Haben Sie die Hand verletzt?“

      Das Vogelgesicht, dachte Bob. Munter, spitz. Er verfluchte Schubiger innerlich. You stupid asshole!

      „Ich bin gestürzt“, sagte Bob.

      Schubiger hob die Augenbrauen. „Herr Franey, ich muss

leider noch einmal auf den Mann zurückkommen, von dem

ich Ihnen am Telefon vor ein paar Tagen erzählt habe. Zimmerli Hermann, Jahrgang 1921. Sie erinnern sich?“

      Bob nickte.

      Schubiger beugte sich herüber. Er reichte Bob ein Foto.

      „Darf ich Sie bitten, sich das Bild einmal anzusehen?“

      Das sollte Zimmerli sein, der hier im Brustbild zu sehen war?

Er kam Bob sehr verändert vor. Nicht so, wie er ihn in

Erinnerung hatte. Das schüttere weissliche Haar war zurückgekämmt. Ein sonderbarer Ernst sprach aus Zimmerlis Augen.

      „Das ist er?“

      „Das ist Zimmerli, ja. Sie haben gesagt, Sie kennen ihn

nicht. Sie haben den Mann nie gesehen?“

      Bob reichte die Foto Fränzi, die zu ihm getreten war.

      „Aber das ist der Mann aus dem Grütli», sagte sie.

      „Sie kennen Zimmerli?“

      „Ich habe ihn gesehen“, sagte Bob halblaut, mit kippender

Stimme. „Damals, als ich das erste Mal im Grütli war.

Da war er betrunken. Er sass am Nebentisch und hat geredet.“

      „Wissen Sie noch, wann das gewesen ist?“

      „Vor zwei Wochen? Oder drei? Jedenfalls einige Zeit,

bevor die Polizei ihn verhaftet hat.“

      Fränzi hob den Kopf, als denke sie nach.

      „Es muss drei Wochen her sein“, sagte sie.

      „Und seither, Herr Franey? Sie haben Zimmerli seither

nicht mehr gesehen?“

      Bob schüttelte den Kopf. „Das war das einzige Mal.“

      „Damals, als Sie Zimmerli im Grütli gesehen haben, meinen

Sie, er hat gewusst, wer Sie sind?“

      „Schon möglich. Ich weiss nicht.“

      „Er muss sich die letzten Tage hier ganz in Ihrer Nähe

aufgehalten haben. In diesem Abbruchhaus, zwei Strassen weiter.

Wäre es nicht möglich, dass Sie ihn doch einmal noch

gesehen haben? Zufällig, eines Nachts auf der Gasse oder so?“

      Bob setzte sich. Er kratzte an der Nase.

      „Das hätte ich bestimmt nicht vergessen.“ Er sah, wie

Fränzi ihn ansah.

      Schubiger sagte: „Arbeiter haben ihn gefunden. In diesem Abbruchhaus, oben im ersten Stock, tot. Er ist umgebracht

worden.“

      „Was?“, rief Fränzi. „Umgebracht?“

      „Ja.“

      Bob schwieg. Nach einer Weile fragte er:

      „Wann ist das passiert?“

      „Es muss in der Nacht vom Sonntag auf den Montag

gewesen sein. Ist Ihnen nichts aufgefallen?“

      „Nein.“

      „Es war eine sehr warme Nacht, Herr Franey. Darf ich Sie

fragen, wo Sie da gewesen sind?“

      „Hier. Ich bin hier gewesen.“

      „Zuhause?“

      „Ja.“

      Bob sah, wie der Kahlhäuptige auf ihn los ging. Er sah

den Mann im Tweedmantel unten stehen. Er sah ihn am Boden

liegen. Er sah auf. Er sagte:

      „Ich habe lange geschrieben. Und irgendwann bin ich

zu Bett gegangen. Ich schreibe mein erstes Buch.“

      Schubiger bewegte sich leicht, blieb aber ungerührt.

Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er Iächeln

oder die Stirn runzeln sollte.

      „Sie sind nicht ausser Haus gewesen?“

      „Nein.“

      Schubiger schüttelte den Kopf. Er sah Bob an, als hätte er

nichts anderes erwartet. Er steckte das Notizbuch ein.

      „Sie haben also im Zimmer gesessen. Sie sagen, Sie haben

geschrieben. Ist das richtig?“

      „Etwas anderes kann ich nicht sagen.“

      „Sie waren also in Ihrem Zimmer? Sie waren allein,

nehme ich an.“

      „Ja.“

      „Und natürlich haben Sie dafür keinen Zeugen.“

      Bob fuhr zusammen. Unmerklich. Fränzi, dachte er. Sie

wusste, er war nicht immer hier gewesen. Aber sonst? Ausser

dem Kahlhäuptigen hatte ihn niemand gesehen.

      „Einen Zeugen?“ fragte Bob.

      „Es gibt niemanden, der bestätigen kann, dass er Sie hier

gesehen hat.“

      „So jemanden gibt es nicht, nein.“

      Schubiger wandte sich an Fränzi.

      „Wie steht es mit Ihnen, Fräulein Signer? Sie waren

Sonntagnacht nicht hier?“

      „Nein, das heisst –“

      „Das heisst –?“

      „– es ist ziemlich spät geworden. Für meine Begriffe.“

      „Ziemlich spät – was heisst das?“

      „Sie meinen, wann ich nach Hause gekommen bin?“

      „Ja.“

      „Nach zwölf. Es muss kurz nach zwölf gewesen sein.“

      „Zehn nach zwölf? Ungefähr um diese Zeit?“

      Fränzi nickte.

      „Und als Sie nach Hause kamen, war Herr Franey hier?

Er hat geschrieben, wie er sagt? Oder war er da schon im Bett?“

      „Er hatte Licht. Ich habe ihn schreiben gehört.“

      Fränzi machte eine Handbewegung zum Mund, als wollte

sie ein Gähnen verdecken. Sie hatte Kaffee angegossen und

schenkte sich ein.

      „Bob?“

      „Ich warte.“

      Schubiger fragte: „Aber gesehen haben Sie Herrn

Franey nicht?“

      „Doch.“ Fränzi schlürfte an ihrer Tasse, aber der

Kaffee war ihr offenbar zu heiss. Bob wollte nicht, dass Fränzi seinetwegen Schwierigkeiten bekam, aber sie legte ihre

Hand auf seine und sagte:

      „Und mehr als nur gesehen.“

      Schubiger grinste gezwungen. „Ich verstehe.“

      Bob zog die Hand zurück.

      „In diesem Abbruchhaus“, fragte Fränzi. „Haben sich da

noch andere Leute aufgehalten?“

      „Das ist nicht auszuschliessen“, sagte Schubiger.

      „Aber Sie haben keine anderen Angaben?“

      „Im Augenblick leider nein.“

      Bob war wütend. Er fühlte sich hilflos. Lächerlich. Er

benetzte mit der Zunge die Oberlippe. Er fragte:

      „Aber warum das? Warum? Wer kann so etwas tun?“

      „Herr Franey, ich weiss nicht mehr als Sie.“

      Fränzi hob die Tasse, pustete und nahm winzige Schlücke.

Sie fragte:

      „Sie gehen davon aus, dass es ein Totschlag ist?“

      Schubiger hatte die Hand leicht gehoben. Seine Stirn war

gerunzelt. Ein Lächeln verzog seine Mundwinkel.

      „Ich habe eine Leiche, Fräulein Signer. Davon gehe ich

aus. Ich suche Spuren. Ich bin nicht Bezirksanwalt.“

      Er warf Bob einen Blick zu – eigentümlich, ein wenig belustigt

fast, als wollte er sagen: Wir zwei, wir verstehen uns doch?

      „Seit Ihrem Besuch im Grütli, Herr Franey, haben Sie

Zimmerli also nicht mehr gesehen?“, fragte er noch einmal.

      „Nein. Seither hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

      Schubiger war aufgestanden, nun fast ein wenig ungeduldig.

      „Gut. Das wäre im Augenblick alles, Herr Franey. Wenn

Ihnen noch etwas in den Sinn kommt –“ Er reichte Bob die Hand.

„– hier ist die Nummer, unter der Sie mich erreichen können.“


Ob Polizei-Detektiv Schubiger sich damit zufrieden gab?

Jetzt, wo Bob mit sich allein war, zurückgebeugt,

den Blick noch immer aus dem Fenster gerichtet, war es, als

drohte ihn die Selbstsicherheit von heute Morgen

zu verlassen. Hatte Fränzi sich nicht sonderbar abweisend

gezeigt, nachdem sie Schubiger losgeworden waren?

      „Dieser Bulle!“, hatte sie gesagt, als Bob von der Tür

zurückgekehrt war, zu der er Schubiger begleitet hatte. „Was

glaubt er –“

      „Endlich sind wir ihn los.“ Bob wollte ihr beipflichten,

aber er kam sich nicht gerade überzeugend vor.

      „– was glaubt dieser Bulle, wer er ist! Uns hier mitten in der

Nacht zu überfallen!“

      „Tut mir leid, Fränzi. Ehrlich.“

      „Wieso dir?“ Sie hatte das rechte Knie angezogen

und kauerte auf dem Küchenschemel, als hätte sie nicht nur

von Schubiger genug. „Du kannst doch nichts dafür.“

      Trotzdem ist Fränzi über mich verärgert, dachte Bob.

Gibt sie mit ihrer Haltung nicht zu verstehen, dass Schubiger

ein Teil meiner Welt ist? Eigentlich hatte sie ja recht.

      „Andererseits tut Schubiger nur seine Pflicht.“ Bob fuhr

mit der Hand durchs Haar. Er hatte das gar nicht sagen wollen.

Jetzt war es trotzdem heraus.

      „Morgens um sieben, unangemeldet?“

      „Shit!“ Bob regte sich erneut auf. „Und was ist, wenn

sie die Leiche gerade erst gefunden haben? Ich meine heute

Morgen erst.“

      „Das weisst du ja nicht.“

      „Nein, ich –“ Bob wusste nicht mehr, was er hatte sagen

wollen. Er sah, wie Fränzi zusammengekauert auf dem

Schemel verharrte. Sie machte ein abweisendes Gesicht und

schwieg. Ihr Anblick bedrückte Bob.

      „Also für den Augenblick bist du den Bullen los“, sagte

Fränzi, wie zu sich selbst. „War das Zimmerli, der auf der Polizei

gesagt hat, er ist dein Vater, oder sehe ich das falsch?“

      „Nein, du siehst das –“

      „Die Textilarbeiterin, die als junge Frau am heiligen

Abend ihren Mann verloren hat, wäre also deine Grossmutter,

wenn’s stimmt.“

      „Wäre was?“

      „Deine Grossmutter.“

      Bob schwieg. Es schnürte ihm die Kehle zu.

      Fränzi sagte: „Das hat er dem verlorenen Sohn noch

erzählen wollen, ehe es zu spät ist.“

      Bob biss die Zähne zusammen. „Er hat mich mit jemandem verwechselt. Und überhaupt, wie kann jemand mein Vater

sein, wenn ich ihn nicht kenne?“

      „Vielleicht kannst du dich an ihn nur nicht erinnern.“

      „Das ist verrückt“, sagte Bob. „Du weisst nicht, was du sagst.“

      Sie schwiegen eine Weile.

      „Und jetzt?“ fragte Fränzi. „Bist du mir böse?“

      „Nein.“ Bob merkte, wie seine Stimme sich gespannt

anhörte. „Hör zu, Fränzi, das ist nicht Zimmerlis – das ist nicht

sein grandiosester Einfall gewesen.“

      Und wenn es genau das gewesen ist? dachte Bob.

Er sagte: „Er hat mich mit jemandem verwechselt, das hat die

Polizei geklärt. Das hat Schubiger Helen gesagt.“

      „Geklärt?“ Fränzi sah Bob vorwurfsvoll an. „Sie finden

Zimmerli erschlagen. Und du redest von geklärt?“

      Das ist überhaupt nicht wahr, dachte Bob. Das kann

nicht wahr sein. Und doch war Bob getroffen und voller Abwehr.

Gleichzeitig stutzte er und sagte:

      „Wieso erschlagen?“

      Fränzi schwieg.

      „Wieso hast du gesagt: erschlagen?“ Bob erschrak über

den aggressiven Ton, den die Frage zwischen ihnen zurückliess.

      „Schrei mich nicht an“, sagte Franzi. Sie blickte Bob

an, als hätte er sie verletzt.

      „Wieso erschlagen?“

      „Hat dieser Schubiger doch eben gesagt.“

      Bob schüttelte den Kopf. „Nicht erschlagen, umgebracht

hat er gesagt.“ Darauf hatte Bob genau geachtet. Er hob

die verwundete Hand. Er starrte das Heftpflaster an, unter dem

es stechend zu pochen begonnen hatte.

      „Und?“ Fränzi war aufgestanden. „Ist das so wichtig?“

      „Ja, das ist wichtig.“

      „Erschlagen oder sonst etwas.“

      „Nein, umgebracht. Umgebracht hat er gesagt.“

      „Musst du den Bullen jetzt auch noch in Schutz nehmen?“

      „Fränzi, was willst du?“

      „Ich?“ Sie sah Bob an. Sie lächelte. „Nein, Bob. So geht

das nicht.“

      Bob wischte eine Träne aus dem Auge. Er hatte das

Gefühl, Franzi zu verlieren.

      „Ich will gar nichts“, sagte sie. „Ich glaube nur, es ist

da etwas, was du mir verschweigst.“


Bob presste die Lippen aufeinander. Jetzt konnte er

mit Fränzi nicht reden. Sie war unmittelbar nach dem Streit

zur Arbeit gegangen. Möglicherweise sogar vorzeitig,

dachte Bob. Er hoffte es nicht. Ich muss mit ihr reden. Bob rieb

sich das linke Auge. Wie Fränzi sich für ihn ins Zeug

gelegt hatte! Sie hatte Polizei-Detektiv Schubiger genau das

zur Antwort gegeben, was Bob gehofft hatte. Und das

ganz und gar unabgesprochen! Was Bob aber erstaunte und

unsicher machte: Fränzi hatte es getan, obwohl sie

keinesfalls sicher war, dass er in der Sache nicht drinsteckte!

Umso hilfloser war Bob jetzt, wenn er sich fragte, wie

er mit dem Misstrauen fertig werden sollte, das Fränzi nach

Schubigers Weggang geäussert hatte. Er hielt die Hände

übereinander gelegt, löste sie und kratzte sich unentschlossen

an der Brust. Als er Fränzi zum Abschied hatte küssen

wollen, hatte sie ihm nur die Wange hingehalten.


Viertel nach elf. Bob warf einen Blick auf die Uhr. Er war

verspätet. In raschen Schritten strebte er dem Hotel Zürich zu.

Ob Palmieri auf ihn wartete? Und wenn er gegangen

war? Zwei Mercedes Limousinen standen seitlich neben dem

Hoteleingang. Bobs Hand war feucht geworden.

Er streifte sie an der Hose ab, reckte den Kopf und ging

an den Wagen vorbei.

      Erst jetzt sah Bob den Livrierten, einen Spanier. Er stand

vor dem Hoteleingang. Seine Augen waren durch die

Schirmmütze halb verdeckt. Er blickte unbewegt in Bobs Richtung,

die Hände auf dem Rücken.

      Wie unglaubhaft Bob sich vorkam! Er hob den Kopf,

als wollte er an der Fassade hochschauen. Ein Hochbau. Solide glanzlose Modernität. Fünfzehn, zwanzig Etagen vielleicht.

      Bob zögerte eine Sekunde, als widerstrebte es ihm,

den letzten entscheidenden Schritt zum Hoteleingang zu tun.

Da gehöre ich nicht hin, dachte Bob. Was will ich hier?

Er spürte das Verlangen, auf der Stelle fortzulaufen.

      „Mr. Franey?“

      Bob fuhr leicht zusammen, als er den kräftigen mittelgrossen

Mann erblickte, der hinter ihm stand.

      „Ich bin Palmieri, Charles Palmieri.“

      Der Mann lachte. Er hatte eine rauchige Stimme, die

irgendwie anders tönte als am Telefon.

      „Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

      „Hello.“

      Bob lächelte, ohne die Hand zu geben. Er merkte, wie

Palmieri entschlossen stehen blieb. Einen Augenblick

lang spielte Bob mit dem Gedanken, sich selbst zu verleugnen.

Er sagte:

      „Ich habe Sie gar nicht kommen sehen.“

      „Also ist es mir gelungen, Sie zu überraschen?“

      Palmieri machte ein Gesicht, als sei er tatsächlich erfreut,

Bob zu sehen. Er schob das Kinn vor. Er blickte aus

leuchtenden, leicht zusammengekniffenen Augen, die keinerlei

Zweifel aufkommen liessen.

      Bob bejahte. „Ich glaube, ich habe mich verspätet.“

      Palmieri runzelte die Stirn.

      „Viertel nach elf.“

      Er legte, als sei ihm das wichtig, Bob die Hand auf

die Schulter.

      „Mir gefällt’s, dass Sie gekommen sind.“

      Etwas gefiel Bob nicht. War es die Art, wie Palmieri

ihn ansah?

      „Ich hoffe, Sie haben Mr. Flühmann noch erreicht.“

      „Ich nicht“, erwiderte Palmieri. „Aber Herr Flühmann hat

vor zwei Stunden mich angerufen.“

      „Gut, dann bin ich –“ Bob brach ab. Komplizenhaft.

Er wusste nicht, warum das Wort ihm einfiel.

      „Sie arbeiten heute nicht im Klub, Mr. Franey?“

      „Doch, aber erst am Nachmittag.“ Bob wich einen

Schritt zurück. Oh, my God! Erst jetzt sah er die Narbe, die sich

über Palmieris Backe bis zum Ohr hinzog. „Fragen Sie

aus einem bestimmten Grund?“

      „Nur so eine Idee.“

      Palmieri machte eine Pause, als überlegte er seine

Worte. Er sagte: „Ich glaube, ich muss heute Nachmittag

nochmals im Klub anrufen.“

      „Ich bin ab zwei Uhr dort.“

      „Grossartig“, sagte Palmieri mit einem Enthusiasmus,

der Bob übertrieben vorkam. „Wollen wir am Wasser ein paar

Schritte gehen?“

      Wollte Palmieri vom Hoteleingang wegkommen?

Ein Wimpernzucken hatte sein rechtes Auge erfasst. Er blickte angestrengt zur Zufahrtsrampe der Expressstrasse, die

halb noch eine Baustelle war.

      Bob nickte. „Wir können die Unterführung nehmen.“

      Ein paar Schritte gehen, dachte Bob. Warum nicht?

Doch als er neben Palmieri herging, war ihm nicht wohl. Er hatte

Hemd und Turnschuhe an, Palmieri einen dunklen Anzug,

Krawatte, die Schuhe nach neuester italienischer Mode. War

Palmieri schwul? Bob kam sich vor wie ein Strichjunge.

Lächerlich!

      „Hübsche Gegend hier“, begann Palmieri beiläufig wie

jemand, der einen Bekannten mit der Feststellung begrüsste,

was heute doch für ein prächtiger Tag sei.

      „Herr Flühmann hat mir heute Morgen seine Telefonnummer

gegeben, aber ich kann sie nicht mehr finden.“

      „Verloren?“

      Bob hielt kurz inne. Sonderlich berührt sah Palmieri

nicht aus. Er reckte das breite Gesicht. Schwarzes, an den

Schläfen graues gekraustes Haar. Das kräftige Kinn

sauber rasiert. Und dann diese Narbe! Bob schaute wieder

weg. Wie Palmieri wohl zu dieser Narbe gekommen

war? Bob fragte:

      „Sie haben Flühmanns Telefonnummer verloren?“

      Palmieri bejahte. „Ich dachte, wenn Sie im Klub sind – ich

dachte, sie können sie mir sicher geben, Mr. Franey.“

      „Sie meinen –“

      Bob ging neben Palmieri her. Unauffällig langte er an die Brusttasche, in welcher der Zettel mit Flühmanns

Telefonnummer steckte. Warum sie Palmieri nicht aushändigen?

Was konnte ihn hindern, sie selbst im Telefonbuch

nachzuschlagen?

      „Sie meinen, wenn ich im Klub anfange, um zwei?“

      „Das wäre schrecklich nett, ja.“

      Bob wusste nicht recht, was er mit Palmieri reden sollte.

      „Vielleicht haben Sie Glück. Vielleicht ist Mr. Flühmann dort,

wenn sie diesmal anrufen.“

      „Ja, vielleicht. Warum nicht.“

      „Sie haben mit Mr. Flühmann geschäftlich zu tun?“

      „Es ist ihm ein Fehler in der Kalkulation unterlaufen. Das

muss so rasch wie möglich behoben werden.“

      Bob kam sich kleinlich vor. Warum sollte er Flühmanns

Nummer nicht herausgeben? Er nahm die rechte Hand

aus dem Hosensack. Wenn Palmieri sie unbedingt haben wollte,

warum nicht? Daran war nun weiss Gott nichts Besonderes.“

      „Sie wollen nur seine Nummer?“

      Palmieri bejahte. Er sah halb an Bob vorbei.

      „Wenn’s nur das ist. Die Nummer kann ich Ihnen auch

jetzt geben.“

      Falls Palmieri sie je gehabt hatte! Aber Bobs Hand war

schon am Zettel.

      „Sehr lieb von Ihnen.“

      Palmieri notierte die Nummer.

      „Ach was.“

      Und wenn Palmieri geblufft hatte? Wenn er nicht einmal

Flühmanns Adresse kannte? Mit der Nummer konnte er sie auf

dem Telefonamt erfahren.

      „Hier“, sagte Palmieri im Weitergehen. „Das ist für Sie.“

Er schwenkte einen halb geöffneten Dollar-Schein.

      Plötzlich hielt Bob den Schein in der Hand. Er hatte

gemeint, es seien zehn Dollar, aber es waren fünfzig. Was soll

das? Bob war unbehaglich zumute. Etwas stimmte nicht.

      „Einen Fünfziger?“ fragte Bob. „Wofür?“

      „Für die Nummer, wofür sonst?“

      „Die hätten Sie auch im Telefonbuch nachschlagen können.“

      Widerlich! Bob musste sich zwingen, weiter neben

Palmieri herzugehen. Etwas wie Abscheu ergriff ihn, als er das

Geld in die Brusttasche steckte. Er hatte das Gefühl,

er sei gekauft worden. Aber wofür? Was wollte Palmieri?

Sie traten gerade aus der Unterführung, als ein Hund,

halb Bless, halb Schäfer, Bob vor die Füsse sprang, die Schnauze

am Boden, und über die Treppe verschwand, indem

er einen der Hinterläufe nachzog.

      „Wozu?“

      „Wenn Sie seine Nummer mit sich herumtragen. Ist es

seine Frau, die Sie interessiert?“

      „Seine was?“

      Sie betraten die Treppe, die zur Limmat hinabführte.

Unten waren zwanzig oder dreissig Leute unter einem

der Kastanienbäume versammelt. Palmieri war stehen geblieben,

den Blick zum Wasser hin, das über den Lettenkanal

abfloss. In seinem Rücken das Jugendhaus Drahtschmidli, eng, verwinkelt, baufällig, eingezäunt von einer Bretterwand,

mit Sprüchen besprayt. Bob wollte das Thema wechseln. Hatte

ihm Palmieri nicht soeben unterstellt, er sei hinter

Flühmanns Frau her? Bob fragte:

      „Werden Sie morgen Abend noch hier sein?“

      Palmieri verneinte. „Ich bin nur wegen dieser Rechnung

hier. Ein kleiner Fehler in der Kalkulation. Es könnte alles bereits

okay sein, wenn Herr Flühmann die Unterlagen

herausgeben würde.“

      „Ach ja?“

      Der Hund, dachte Bob. Mit hängender Zunge sass

der Köter da. Jetzt japste er und winselte und wedelte zur

Flussmauer empor, auf der ein junger Mann lag, barfuss,

mit zerschlissenen Kleidern, die einmal schwarz gewesen waren.

Döste der Kerl? Sein Gesicht, bleich, kränklich, zeigte

keinerlei Regung. Sein nackter dürrer Arm hing herab. Aus der

Gruppe, die im Schatten des Kastanienbaums verharrte,

löste sich ein Mädchen, das Haar dunkel, eine Strähne hellblau

gefärbt. Sie kam erwartungsvoll, mit plötzlich unsicherem

Schritt auf Palmieri zu. In einiger Entfernung blieb sie stehen,

als hätte sie sich getäuscht. Ein schmales ausgehöhltes

Gesicht, an den Ohren schwarze Klunker.

      „Kommen Sie“, sagte Palmieri. Und flüsternd

fügte er hinzu: „Sie hält uns für weiss Gott wen.“

      „Gerade wie ein Klein-Dealer sehen Sie nicht aus.“

      „Reden wir von Flühmann. Er wohnt nicht in Zürich?“

      „Nein, in Kilchberg. Ich glaub’s wenigstens.“ Bob blickte

verschämt, ohne zu wissen warum. Er hielt den Blick gesenkt.

      Palmieri fragte: „Haben Sie ein Konto in der Schweiz?“

      „Nein, hab ich nicht.“ Bob musste lachen. „Sie meinen

ein Nummernkonto?“

      „Was halten Sie davon, wenn ich für Sie eins einrichten

lasse? Tausend Dollar Einlage?“

      War Palmieri übergeschnappt? Bob glaubte, nicht

recht gehört zu haben. Er wusste nichts zu erwidern. Tausend

Dollar wofür denn?

      „Im Garderobentrakt haben Sie auch zu tun?“,

fragte Palmieri.

      „Nein, das macht alles der Platzwart.“

      „Sie können sich aber Zugang dazu verschaffen?“

      „Nehme ich an.“

      „Und die Garderobenkästen? Können Sie an den

Nachschlüssel für die Garderobenkästen herankommen?“

      „Ich sehe nicht, wo Sie hinaus wollen.“

      „Flührnann wird nicht in der Garderobe sein. Sie haben

bloss festzustellen, welches sein Kasten ist. Alles, was

ich will, sind seine Schlüssel, seine Hausschlüssel. Und dass

Sie kurz anrufen, wenn Flühmann den Klub verlässt.“

      „Anrufen? Wohin?“

      „Auf die Nummer, die Sie mir gegeben haben.“

      Bob erschrak. Sein Atem ging in kurzen raschen Stössen.

      „Das kann ich nicht. Sehen Sie, ich –“

      „In fünf Minuten ist alles vorbei.“

      „– es ist nicht nur der Job“, sagte Bob.

      „Was halten Sie von zweitausend Dollar, Mr. Franey?“

Palmieri blickte auf das Wasser, auf dem ein abgebrochener Ast

davontrieb. „Fünfhundert als Anzahlung, gleich jetzt?“

      „Darum geht’s nicht.“

      „Ich sehe, Sie möchten das offenbar lieber nicht machen –

ich verstehe das, Mr. Franey. Auf der anderen Seite,

sehen Sie – seine Schlüssel, die könnte Flühmann auch einfach

verloren haben. Bei dem Ding kann Ihnen nichts passieren.“

      Palmieri machte eine beschwichtigende Geste. Seine

Augen blickten ruhig auf das Wasser. Nur die Narbe schimmerte,

als sei sie entzündet. Er sah Bob an. Er sagte:

      „Überlegen Sie sich’s.“

      Bob glaubte nicht, dass Palmieri die Idee einfach fallen

liess. Es war etwas Beklemmendes da, wie eine Fessel,

unsichtbar. Bob grollte mit sich. Dass er so blöd gewesen und hergekommen war. Er spürte, wie es pochte in seiner

Hand. Er schluckte. Zugegeben, Palmieri hatte den Vorschlag

in sachlichem Ton vorgebracht. Auch die Einschätzung

des Risikos – nein, abwegig war das vermutlich nicht. Nicht, was

den Bob zugedachten Part anging, und mehr hatte er bis

jetzt nicht erfahren. Dafür sollte jemand bereit sein, zweitausend

Dollar zu bezahlen? Ungeheuerlich. Bob richtete sich auf.

Er ahnte nichts Gutes.

      „Nein“, sagte er. „Sie sehen ja selbst, ich bin dafür

nicht der richtige Mann.“

      „Dafür sind Sie genau der richtige Mann.“ Palmieri

betrachtete die Innenseite seiner Hand, als könnte das ihm weiterhelfen. „Wrklich, ich liesse es Ihnen gerne

einrichten – dieses Konto, meine ich. Und das Geld,

möglicherweise können Sie’s einmal gebrauchen.“

      „Das Geld? Naja, das schon.“

      Palmieri hob den Blick. Die Limmat. Der Lettenkanal.

Das Wasser, das ruhig dahinfloss. Palmieri sagte:

      „Hübsche Gegend hier. Hübsch und sauber, das merkt

man gleich. Sind Sie schon länger in der Stadt?“

      „M–hm.“

      Bob wandte sich ab, unwillig. Er schaute zum

Drahtschmidli zurück. Polizei war aufgezogen, keine hundert

Meter entfernt. Ein Kastenwagen oder zwei. Polizeigrenadiere

standen überall herum, gespenstisch im Kampfanzug,

mit Schild, Knarre und Gassack. Beim Jugendhaus formierten

sie sich und begannen, die Herumstehenden – ja, was

denn? – zusammenzutreiben, sie einzukreisen? Bob packte

die Angst. Polizeigrenadiere führten eine schwarz

gekleidete Gestalt, die barfuss ging, Richtung Kastenwagen.

Bob sagte:

      „Ich glaube, es ist besser, wir verschwinden hier.“

      Palmieri hatte sich ebenfalls umgewandt. „Für den Fall,

dass Sie es sich anders überlegen, Sie können mich

im Hotel anrufen, Mr. Franey. Jederzeit. Ich bin heute und

morgen noch hier.“

      „Morgen also auch.“ Bob lächelte.

      „Habe ich gesagt morgen?“

      „Ja.“

      „Gut“, sagte Palmieri. „Ich rufe Sie an.“

      Ich hoffe nicht, dachte Bob. Zielstrebig, in kleinen

Schritten eilte Palmieri davon. Bob war froh, ihn los zu sein.

Was war das für ein Mann? Hiess er überhaupt

Palmieri? Bob blieb stehen. Ein plumpsender Laut war

zu hören, als hätte jemand etwas ins Wasser

fallen lassen.

      „Ich hoffe nicht“, sagte Bob zu sich selbst, fast

beschwörend.

      Es waren vielleicht zwei Dutzend Leute, die jetzt

umzingelt unter einem der Kastanienbäume bei der Kanalmauer

standen. Das Mädchen wurde zum Kastenwagen

geführt. Sie stolperte, von Polizeigrenadieren festgehalten,

gestossen, gezerrt. Jetzt lag sie am Boden. Einer der

Polizeigrenadiere beugte den Oberkörper vor, ein zweiter trat

nach dem Hund, der herbeisprang und zurücksetzte.

Die Umzingelten standen verstummt, reglos. Bob zitterten

die Knie, als er sich entfernte.


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