Komplize Leserbrief Roman lesen weiter zurück
KAPITEL III
Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen
unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,
Zürich 1988.
Im Morgengrauen war Bob aufgewacht. Wie spät es wohl sein
mochte? Er fühlte sich elend. Der Schmerz in seiner rechten Hand.
Entsetzlich. Die wütende pochende Wunde hatte ihn
geweckt. „Hau ab!“ Es kam ihm vor, als pochten in seinem
Innersten dieselben Halbschlafgedanken immer wieder,
pausenlos, beharrlich. Warum hatte er sich abhalten lassen? War
der Alte noch im Abbruchhaus? Und der Kahlhäuptige? Bob
musste zurück. Im Abbruchhaus war der Alte verschwunden, der
unten gestanden und gewartet hatte. War das der Mann,
der sich auf der Polizei als Bobs Vater ausgegeben hatte? Und
wenn er das war? Bob hatte sich im Bett aufgesetzt, den
Blick hinausgerichtet. Das Fenster. Das Zwielicht. Der Tisch.
Das Manuskript. Bob sah die Blatter, sie lagen neben
der Schreibmaschine, 79 Seiten, vollgeschrieben, mit Korrekturen überhäuft. Wie unrealistisch ihm das Buch im Augenblick
vorkam! Erste, schleifende Geräusche, die vom Geleiseareal
herüber drangen.
Bob war noch einmal eingeschlafen. Was? Er glaubte,
die Schritte gehört zu haben, die Verrichtungen, die knappen Wortwechsel, die wie jeden Morgen zu ihm heraufdrangen,
ehe die Familie Lopez zur Arbeit aufbrach. Jetzt war alles ruhig
im unteren Stock. Vielleicht hat Fränzi recht, wenn sie mir
vorhält, ich sei hergekommen, um meiner Vermutung nachzugehen. Bob fand’s irgendwie selbst verrückt. Was hatte er in jenem
Haus zu suchen, mitten in der Nacht? Nur gut, dass Fränzi ihm geholfen hatte, über das Schlimmste hinwegzukommen.
Er brauchte Fränzis Ermutigung dringender als alles. Und zugleich
hatte er Angst, ja fast Panik, ihre Nähe konnte ihm bald
zuviel werden. Bob war aufgestanden. Er musste ans Licht, an die
Sonne hinaus. Gut, dass er Fränzi zugesagt hatte, im
Tennisklub an der Theke zu helfen. Er hatte so wenigstens
ein Ziel. Wann hatte Fränzi gesagt? Zwei Uhr? Nein, er
würde keine Zeile schreiben können heute. Er fühlte sich deprimiert,
wie ausgehöhlt.
Unten entfernte er sich eilig vom Hauseingang und
überquerte die Neufrankengasse. Die Hausecke.
Der Rockmusikladen. Hundescheisse, in der Spur eines
Schuhabsatzes über das Trottoir verschleppt. Bob
stutzte. Er war unterwegs zum Abbruchhaus. Er hielt an. Hatte
er sich nicht erkundigen wollen, ob ein Brief für ihn da war?
Die Post befand sich in der genau entgegengesetzten Richtung.
Unten an der Langstrasse, bei dem dreistöckigen
renovierten blauen Haus, in das eine Bankfiliale eingezogen war,
blieb Bob stehen. Ein Geldtransporter, kastenförmig,
gepanzert wie ein Militärfahrzeug, stand vor dem Bankeingang.
Aus dem Wagen war ein Mann auf das Trottoir getreten.
Hager, buschige Augenbrauen. Er spähte unsicher die Langstrasse
hinauf. Aus dem Halfter über seiner Gesässtasche ragte
ein Revolver. Inzwischen war ein zweiter Mann, gross, bullig,
aus dem Fahrzeug gestiegen, in den Händen eine Kassette
aus Leichtmetall. Er beeilte sich, die wenigen Schritte
zum Bankeingang zurückzulegen, nachdem er einen Augenblick
reglos verharrt hatte, den Kopf eingezogen, als würde
er gleich einen Schlag darauf bekommen. Der Kollege stand inmitten
der Passanten und sicherte den Weg, die Hand am Revolvergriff.
Unwirklich die Szene, fand Bob. Auf der Langstrasse
war reger Autoverkehr.
Das Mädchen am Schalter sah die Briefumschläge durch,
die postlagernd adressiert waren. „Wie ist ihr Name, sagten Sie?“
„Franey.“
Bob zeigte auf seinen Pass, aber das Mädchen blickte
auf einen der Briefumschläge. Sie fragte:
„Franey? Bob Franey? Hier bitte.“
Der Brief kam aus Arlington. Er trug Sandys Handschrift.
Ihre senkrecht geschwungenen, noch fast kindlichen Züge. Bob
hatte sie gleich erkannt. Er war in der Schalterhalle stehen
geblieben. Er hatte den Brief aufgerissen.
Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute ist? Es war
nicht auszuhalten, ich musste zu Hause weg, Abend
für Abend. Dad mit seinen öden kleinen Lügen, als ob ich nicht
mitbekäme, was los ist. Ich könnte heulen. Und Mom,
die ihn bei allem noch deckt.
Bob hielt den Brief in der Hand, als hätte nicht
Sandy ihn geschrieben. So ungestüm hatte sie sich nie
geäussert, nicht über Dad.
Linda ist die neue Sekretärin, und in zwei Monaten
hat sie sein Büro völlig umgestellt. Das – hier war
ein Wort kräftig durchgestrichen – infame Luder! An einem
meiner ersten Ferientage war ich bei Dad im Büro,
aber nach ein paar Minuten ist Linda gekornmen und hat sich eingemischt, sodass ich mit Dad nicht mehr allein sein
konnte. Sie hat sich benommen, als wäre ich sie besuchen
komrnen. Und Mom lässt sich alles gefallen. Sie tut,
als sei nichts. Bob, wie gerne wäre ich bei dir! Ich hatte noch
nie so viele wechselnde Begleiter, die alle imgrunde nur
das eine wollen. Bob, ich vermisse dich so!
Bobs Hand zitterte. Er überflog den letzten Briefabschnitt
noch einmal. Schmeichelhaft, wenn er an seine Unzulänglichkeit dachte, mit Sandy umzugehen. Oder machte sie die Andeutung
nur, um ihn herauszufordern? Bob faltete den Brief und
steckte ihn ein. Er hatte keine Ahnung, warum er sich auf einmal
besser fühlte, aber bedeutete Sandys Brief nicht: Ich bin
nicht allein. Es gibt um mich herum Leute, die auch Schwierigkeiten
haben. Und manchmal mögen sie mich sogar? Sandy
musste ihn mögen. Sonst hätte sie Bob nicht geschrieben,
wie elend ihr zumute ist. Bob stiess die Türe auf. Er
glaubte, Sandy sagen zu müssen: Es wird gut werden. Was
Bob erstaunte, war das Gefühl: Das gilt für dich auch.
Aber warum auf einmal, warum? Es war ein ganz klarer Gedanke.
Alles veränderte sich in einem veränderten Licht.
Wie hatte er sich einreden können, er müsste dem Alten ins
Abbruchhaus nachlaufen, er könnte nicht anders? Eine
masochistische Vorstellung. Niemand zwang Bob dazu. Und
Sandy? Sie hatte den Brief im College geschrieben, also
hatte sie Abstand von Zuhause. Reagierte sie mit Eifersucht auf
das, was zwischen Dad und Linda war? Oder dachte Bob
das nur, weil Sandys Umgang mit wechselnden Männern in ihm
selbst ein Gefühl wachrief, das mit Eifersucht zu tun
haben musste?
Ein scharfes knurrendes Gebell.
Bob war auf die Limmatstrasse hinausgetreten.
Ein Hund bleckte ihn an, irgendeine Bulldogge, die ein Kunde
vor dem Eingang angebunden hatte, aber das konnte Bob
nicht erschrecken, das nicht.
Das Grütli war halbleer, als Bob eintrat. Er nahm neben
der Türe Platz, auf der Eckbank, die unbesetzt war. Familientisch,
dachte Bob. Schade, er sass mit dem Rücken zum
Wirtshausfenster und konnte die Rangierwagen nicht sehen,
die sie auf dem Geleise über der Gasse zum Stillstand
brachten.
Wie stubenhaft eng ihm das Lokal vorkam! Bob kannte
unter den Leuten nur Heidi, die Serviertochter, die hier
im Augenblick allein hantierte. Und Heidi sah aus, als könnte
sie jedes Fiasko überstehen, unerschüttert. Sie hatte
kurzgeschnittenes schwarzes Haar, eine Strähne knallig rot,
und ein rundes bleiches Gesicht, mit grossen dunklen
Augen, die Munterkeit ausdrückten. Erst, als Heidi sich von
ihrem Gast abwandte, bemerkte Bob, wie unendlich
gelangweilt sie war.
„Wie immer?“ fragte Heidi, als sie mit den abgeräumten
Gläsern zum Buffet ging.
„M–hm.“
Heidi brachte Kaffee. Bob merkte, wie ihr Blick auf
seine Hand fiel. Erstaunt.
„Weisst du“, sagte Bob. „Ich bin –“
Heidi hatte im selben Moment zu sprechen begonnen
und redete in raschen ununterbrochenen Sätzen weiter, ohne
Bob anzusehen. „Helen ist nicht da“, sagte Heidi. „Es ist
alles in Ordnung, soll ich dir ausrichten. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich soll dir sagen, es ist alles ein
Irrtum gewesen, hat Helen mir aufgetragen. Alles ein Irrtum.
Das hat sie von Schubiger, von ihm persönlich.“ Heidi
hatte sich zu Bob an den Tisch gesetzt. „Das ist der Mann von
der Polizei, der telefoniert hat, als du da warst. Er ist
vorbeigekommen, am selben Abend noch. Du hättest Helen
sehen sollen! Schubiger ist klein geworden und hat
sich wer weiss wie entschuldigt. Es sei alles ein – ah, ja ein
Irrtum, eine Verwechslung oder was, hat er gesagt. Der
alte Mann sei halt im Kopf nicht mehr ganz richtig, das sei aber
kein Grund ihn einzusperren.“
Bob trank in kleinen Schlücken. Alles ein Irrtum?
Es hörte sich an, als sei Heidi erleichtert, ihm das zu sagen.
Immerhin ist sie es gewesen, die mich ans Telefon
geholt hat, dachte Bob. Ob Helen ihr daraus einen Vorwurf
gemacht hat? Ausschliessen konnte Bob das nicht.
Er fragte:
„Weisst du, wo Helen hingegangen ist?“
„Helen?“, fragte Heidi. Sie blickte zu Boden. „Helen hat
gesagt, sie geht zum Coiffeur. Und dann, weil sie das
Auto in der Reparatur hat, gleich mit dem Taxi zur Beerdigung.“
Heidi zündete eine Malboro an. „Ich glaube nicht, dass
sie vor Mittag zurück ist. Der Hausmeister, Weisst du. Er lag
seit Wochen im Spital.“
Bob horchte auf. Heidi hatte das in einem Tonfall gesagt,
als würde das Grütli verkauft und abgerissen.
„Davon hat Helen mir gar nichts gesagt.“
„Solange der Alte da war, hat Helen sicher sein können,
dass nichts geschieht. Jetzt ist es für sie schwieriger geworden.
Er hat zwei Söhne, und Helen weiss nicht recht, was
sie vorhaben.“
Aus dem Hintergrund rief ein Gast nach einem weiteren
Bier, und Heidi entfernte sich um ihn zu bedienen.
„Nicht, dass Helen deswegen Angst hätte“, sagte Heidi,
nachdem sie wieder bei Bob am Tisch sass. „Vor allem mit dem
einen der beiden Söhne kann sie es recht gut.“
Bob lachte. „Heute Nachmittag bin ich es, der Geschirr
abräumt. Lach mich nicht aus! Fränzi hat gefragt, ob ich bei ihr
im Tennisklub an der Theke aushelfe.“ Bob blickte auf
das Heftpflaster, das seine Hand bedeckte. „Ich hoffe nur, dass
sie mich nicht hängen lässt. Ganz allein, so wie du – ich
würde das jedenfalls nicht schaffen. Nie im Leben.“
Heidi zuckte die Schultern. „Um diese Zeit ist es hier ruhig.
Kein Problem. Da hättest du gestern Nacht kommen sollen.
Der Laden voll, ich hier allein. Helen war - Sie hatte Besuch. Sie
war oben in der Wohnung. Naja, mir macht’s nicht mehr
soviel aus. Ich hab mich an allerhand gewöhnt.“
„Helen wird, nehm ich an, irgendwann heruntergekommen sein.“
„Zugeschlossen hat sie noch. Sie sagte, sie fühlt sich
nicht besonders. Da war der Besuch weg.“
„Einer, der hinkt?“ Bob dachte an den Mann im Tweedmantel. Warum nicht versuchen, Heidi auf ihn anzusprechen? Einfach
so, auf`s Geratewohl?
„Als Helen herunterkam, war der Besuch weg. Ich
hatte beide Hände voll zu tun, und zwar hier drinnen. Und dann, verstehst du –“ Heidi zögerte. „– mich geht’s auch nichts
an. Ich hab den Besuch nicht gesehen.“
Bob sah Heidi an. Er war unschlüssig. Will sie nicht sagen,
was sie weiss? Bob fragte:
„Aber Schubiger hast du gesehen, als er hier war? Ich
meine, am Abend, als er die Sache zurückgenommen hat. Die
Sache mit diesem Hermann Zimmerli, der sich als mein
Vater ausgegeben hat.“
„Du glaubst mir nicht?“ Heidi blickte Bob verständnislos
an. „Hier hat er gesessen, an deinem Platz. Und Helen auf dem
Stuhl, wo ich jetzt sitze.“
Eine Sekunde lang blickte Bob hin, als müsste
Schubigers Schatten noch da sein. „Wirklich?“
„Ich hab mich später zu ihnen gesetzt. Ein Irrtum,
eine Verwechslung. Das hab ich selbst gehört. Was willst
du noch, Bob! Bist du nicht zufrieden?“
Licht fiel überhell von der Strasse in die Wirtsstube.
Bob sah das Staubgeflimmer, das im Licht zum Vorschein kam.
„Du meinst, ich hab’s überstanden.“
„Ja, Bob. Vergiss es.“ Heidi war aufgestanden, und
im selben Moment hatte Bob es ihr gleichgetan.
„Lässt du mich heute bezahlen?“ Bob war hinter dem Tisch hervorgekommen. Er lächelte. „Nur dieses eine Mal, hm?
Weil’s ein besonderer Tag ist.“
„Auf keinen Fall!“ widersprach Heidi mit einer Mischung
aus Unerbittlichkeit und Verulkung. Sie hantierte bereits wieder
hinter dem Buffet. „Du gehörst zur Familie.“
Bob war durch die angelehnte Türe hinausgetreten.
Er entfernte sich rasch. Die Sonne hatte die Neufrankengasse
in ganzer Breite erfasst. Was für ein Tag! Bob hatte
Lust, einen Spaziergang zu machen. Sein Schritt war leicht
und entschlossen. Das also ist erledigt, dachte Bob.
Soll ich meinem Glück nicht trauen? Er war ein freier Mann.
Das Abbruchhaus lag zum Teil noch im Schatten,
aber auf der Seite der Bahngeleise schien die Sonne kräftig
auf eine Hauswand. Das Mauerwerk sah zerfallen aus,
brüchig. Wo war das Geheimnis geblieben? Sogar die Haustüre
kam Bob bedeutend kleiner vor, als er sie von der Nacht
her in Erinnerung hatte. Gang und Treppenhaus, hölzern, eng, schienen ihre Bedrohlichkeit verloren zu haben.
Die Fassade, dachte Bob. Wie lange hält die Fassade stand?
Bob musste lachen. Er tat einen Schritt hinein. Überall
Staub, Brandflecken. Das Gemäuer. Abgenutzt, rissig, geschwärzt.
Das Haus hatte für ihn keine Bedeutung. Er hatte sich
getäuscht, als er dem verstörten alten Mann nachgelaufen
und hier an der Türe aufgehalten worden war. Ein
Missverständnis. Ein Irrtum. Eine Verwechslung. Es war alles
in Ordnung. Nichts hinderte Bob daran, sich die Zimmer
anzusehen. Er wollte keinen Zweifel unausgeräumt lassen.
„Hello? Is anybody home?“
Kein Knarren eines Dachbalken, kein Schnarchen. Nichts
war zu hören. Nicht einmal das Fliehen einer Ratte, bei
einer der Rohrleitungen. Kein Schlaf. Kein Leben. Nichts, das
sich hätte ertappen lassen. Wirklich nichts?
Bob war nicht sicher. Hatte er hier gestanden, der Tätowierte
mit dem kahlen Schädel, der mit dem Scherbenhals der
Flasche auf ihn losgegangen war? Oder dort drüben? Bob war
stehen geblieben. Er horchte. Nichts, das an den
Zusammenprall in der Nacht erinnerte. Waren sie abgehauen?
Hatten sie sich oben in die Zimmer verzogen?
Die Scherben waren im Abfall versunken, der über den
Fussboden verstreut war. Zeitungen. Staub. Lumpen.
Herumliegende geleerte Flaschen. Dreck. An den Wanden
da und dort Flecken, die eher nach verschüttetem
Wein aussahen als nach Blut. Alles schien unwichtig geworden.
Bob wünschte sich, er hätte anders gehandelt. Er hätte
sich nicht abschrecken lassen. Er hätte seinen Entschluss
verwirklicht. Was hatte er eigentlich gewollt? Den
geflohenen, alten Mann zur Rede stellen? Ihn am Kragen
packen?
„Zimmerli? Hermann Zimmerli? Was hast du auf
der Polizei gesagt?“
Manchmal wünschte sich Bob, er hätte nicht dieses
Zögernde, das ihn im Alltag so häufig behinderte
und unschlüssig werden liess. Nicht umsonst bewunderte
er Leute, die tatkräftig und entschlussfähig waren.
Ihnen machte es keine Miihe, sich ohne wenn und aber
zu entscheiden, und zwar im Augenblick, und
daran hielten sie fest oder nicht, jedenfalls ohne Bedenken.
Möglicherweise war es Willkür, aber ihren Entscheid
hatten sie getroffen und sofort in die Tat umgesetzt. Für ein
solches Vorgehen hatte Bob eine insgeheime
Bewunderung, auch wenn sich später herausstellte, dass der
Entscheid falsch gewesen war. Solche Leute brauchten
nicht anderntags zurückzukommen so wie er, der sich in diesem
Hausgang wiederfand, inmitten dieses angehäuften Unrats.
Die Türe zu Bobs Linker war offen, und Bob trat
ein. Ein Zimmer, kleinraumig, eng – leer, wie es war, an Wänden
und Decke demoliert. Bob ging weiter. Ein Loch. Die
Klosettschüssel herausgerissen. Einzelne Rohrteile fehlten.
Bob schob mit dem Fuss eine der Flaschen beiseite,
die am Boden herumlagen, halb begraben unter sperrigen, aus
der Rückwand geschlagenen Holzlatten. Bob schaute
in die Küche. Der Schüttstein zertrümmert. Damit kein Obdachloser
auf den Gedanken kam, sich hier einzurichten?
Das Zimmer auf die Rückseite. Bob öffnete ein Fenster.
Es war eine Matratze, die auf dem Fussboden lag,
verschmuddelt, unten aufgerissen. Hatte hier jemand gelegen?
Das vierte Zimmer ging auf die Strasse. Draussen hörte
man ein Auto vorbeifahren. Durch einen Spalt im Fensterladen
erblickte Bob ein Mädchen, das sich mit eilendem Schritt
entfernte. Ein Bus hielt in der Seitenstrasse. Das Mädchen stieg
ein. Eigenartig, dachte Bob. Sie erinnert mich an Sandy,
obwohl sie ihr gar nicht gleicht. Hat es mit ihrer beschwingten
Art zu tun? Beschwingt. Was für ein abgegriffenes Wort,
wenn Bob an Sandy und ihren Übermut dachte. Sandy war nicht
seine erste Freundin gewesen, aber sie hatte Bob
in Situationen gebracht, in denen er sich vorkam, als hätte
er mit Mädchen nicht die geringste Erfahrung. Da Sandy
soviel jünger gewesen war als er, hatte Bob nie gewusst, wie
er auf ihre Werbung reagieren sollte. Damals, in jenem
Sommer auf dem Computer Camp, als sie sich kennenlernten.
Damals hatte Bob es besonders grotesk gefunden. Private
Kontakte zwischen Ausbildungspersonal und Schülern waren selbstverständlich verpönt gewesen, aber ein Hinweis
darauf hatte ihm bei Sandy die höhnische Bemerkung eingetragen,
ein Spiesser zu sein. Noch immer amüsierte es Bob,
wenn er an jenen Spätnachmittag dachte, als Sandy unter dem
Vorwand, sie könne ihre Nagellackflasche nicht öffnen,
bei ihm hereinschaute. Nie hatte er bei Sandy sicher sein können.
Kokettierte sie bloss? Meinte sie es wirklich? War Sandy auf
einen Skandal aus? Oder nahm sie ihn allenfalls in Kauf?
Die Treppe. Ein Tritt, der fehlte. Der obere Stock. Auch hier
war niemand, den Bob hätte aufstören können. Vom
Bahnareal her ein ausfahrender Pfiff. Das Schlenkergeräusch
eines Zuges. Bob wollte sich gerade zum Gehen wenden,
als er den Gummischuh mit der abstehenden Lasche bemerkte,
der hinter dem Türpfosten aufragte. Der Schuh gehörte
einem Mann, der mit gestreckten Beinen auf dem Holzboden lag.
Er lag auf dem Rücken. Der Kopf mit dem schütteren
weissen Haar war von der Wand abgerückt. Es sah aus, als
schaute der Mann versunken zur Decke. Er hatte noch
immer seinen Tweedmantel an. Er war der Mann, den Bob in der
Nacht hatte unten stehen und weglaufen sehen. Bob
kniete herab. Vater, dachte er. Es war der Betrunkene, der ihnen
im Grütli erzählt hatte, wie seine Mutter als junge Frau
ihren Mann verloren hatte. Er würde nichts mehr erzählen. Sein
Gesicht war mehlig, totenblass. Die Augen blickten starr.
Das ist kein Irrtum, dachte Bob. In erstarrtem Rinnsal bedeckte
Blut den Rand der Schädeldecke, Blut, das dunkel verfärbt
das Haar mit dem linken Ohr verklebte. Entsetzlich. Trotzdem fand
Bob, der Mann habe bis zuletzt einen gewissen Eigensinn
bewahrt. Es war nicht ohne Würde, wie er dalag. Bob schauderte.
Er beugte sich über ihn. Was hatte sich hier abgespielt?
Der Tote gab keine Antwort. Oder doch? Bob durchsuchte die Manteltaschen. Sie waren leer. Die Hosensäcke.
Der Mann hatte nichts auf sich. Kein Geld. Keinen Ausweis.
Ein Pfiff von den Geleisen. Bob sah auf. Erschrocken.
Voller Scham. Etwas war gegen das Fenster geprallt. Das war
kein Stein gewesen. Ein Ball? Ein Vogel? Nichts war
zu hören. Das einzige, was sie dem Mann gelassen hatten, war
ein Zettel, irgendein Lieferschein oder eine Rechnung,
die Bob einsteckte. Er musste hier weg. Er kam sich verdächtig
vor. Auf dem Zettel hatte etwas mit Teppichen gestanden.
Zwölf- oder siebzehnhundert Franken. Es war ein Name draufgeschrieben. Nicht der von Zimmerli, falls der Tote Zimmerli
war. Lehmann. Bob lief die Treppe hinab. Oder Flühmann?
Hatte er richtig gelesen?
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