DOCH SEHR ÜBERRASCHT
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel VII
SIE BEISST AUF DIE UNTERLIPPE. SIE LÖSCHT DIE SMS,
die Fabio Calvani geschickt hat, sie weiss nicht warum.
Sie tritt aus dem Zeitungsarchiv, das die Preussische Staatsbibliothek
in einem ehemaligen Getreidespeicher am Westhafen
untergebracht hat. Es ist 12.17 Uhr, Freitag, 11. September,
es ist 911, Rike Mohaupt zieht die frische Luft ein, ein
milder Spätsommertag, was für ein Wetter! Aber lärmig ist es hier
draussen, überall wird gebaut. Sie hält das Handy in der Hand,
an der Schulter hat sie die Notebooktasche hängen. 911, denkt sie,
der Notruf in NYC, sie wird ihn nie vergessen, den Morgen
vor acht Jahren, sie war beim Arzt gewesen, sie hatte die U-Bahn
genommen, sie hatte im überfüllten Wartezimmer gesessen,
und nach ihr war ein kahler, alter Mann eingetreten und hatte sich
an die Wartenden gewandt mit den Worten: Sie greifen
uns an! Der Mann, hatte sie zuerst gedacht, ist wahnsinnig
geworden. Sie hatte im Frühverkehr nicht mitbekommen, dass ein
Flugzeug in den North Tower des WTC gerast war,
out of the blue. Die SMS, die sie Sekunden zuvor gelöscht hat,
lautet: Stephn Wagner hat Insolvnz beantragt für seinee
im Weiiinmarkting tätige Einzlfirma.
Wagner, Wagoner? Sie schaut zu Boden, sie ist doch sehr
überrascht, sie denkt, kaum ist das o aus dem Namen weg, schaut
die Ahnengalerie hervor, Wagner, der Komponist, war der
nicht auch insolvent? Sie sieht ihren Ex im Loft am Union Square
sitzen mit Laptop und Handy, eine Lucky Strike in der
Hand, der leere, weisse, hohe Raum – aber im inneren Auge
ist alles abgebrannt, im Eingang verkohlte Weinkartons,
angesengte Displays am Boden, verbrannte Banderolen. The Best
Thing To Happen To Wine Since The Bottle liest sie auf dem
Display, sie löscht auch das, sie klappt das Handy zu, sie tritt ans
Geländer der Rampe, die dem Backsteinbau entlangläuft,
sie steckt das Handy in die Notebooktasche, sie weiss nicht, wie
ihr ist, ein leeres Schlucken, sie muss anlehnen. Eigentlich,
mit der Insolvenz ihres Ex, ist sie jetzt befreit von Stephen, denkt sie,
zur Allianz mit Art and Wine wird es nicht kommen, vorerst
jedenfalls nicht, es müsste eine Last von ihr abfallen, aber das tut
es nicht, im Gegenteil, sie hat ein schlechtes Gewissen,
sie hebt gerührt den Kopf, sie blickt auf zum Bahnareal hin gestapelte
Container, solcher Ballast, sie hatte sich das anders vorgestellt,
es hatte sie schon überrascht, wie prompt die dreitausend Euro für
das in Berlin gekaufte Bild Leuchtturm überwiesen worden
waren, und jetzt das! Stephen hatte, sie erinnert sich, mit American
Express bezahlt, er hatte das Bild bei der Finissage Party
wie angekündigt persönlich abgeholt, sie hatte sich gewaltig über
ihn aufgeregt, die Weinflasche war ihr zu Boden gefallen,
Scherben hatten sie am Fuss verletzt, aber dann war
etwas Unerwartetes geschehen. Die zwei Herren aus Mülheim
hatten in letzter Minute das Bild Ölfass gekauft, sie waren
noch essen gewesen im Ristorante Centrale an der Yorckstrasse
in Kreuzberg, wo Fabio für zehn Personen reserviert hatte.
Bei Tisch hatte Stephen die zwei Herren aus Mülheim gefragt,
warum sie dieses Bild gekauft hätten, dieses Ölfass, und
wie mit einer Stimme hatten sie geantwortet: „Das Ölfass ist eine Bombe.” Sie hatten geantwortet ohne eine Sekunde
nachzudenken, hatten einander angesehen, verblüfft, bestätigt,
hatten gelacht und ihrerseits gefragt: „Aber – wie ist’s mit
Ihnen? Warum haben Sie dieses Bild gekauft, diesen Leuchtturm?” Plötzlich waren alle Augen auf Stephen gerichtet, solche
Zuwendung, solche Aufmerksamkeit, darauf hatte er gewartet.
Er hatte mit Daumen und Zeigefinger über den breiten,
linken Unterkiefer gestrichen, hatte Rike schräg gegenüber
angeblickt, hatte die rechte Hand heruntergenommen
und geantwortet: „Ich hatte keine Wahl. Der Leuchtturm ist meine
Option auf die Zukunft.” Später, als sie mit Fabio in der
Wohnung an der Quitzowstrasse angelangt war, ein Uhr nachts,
sie mit der Schramme am Fuss, hatte Fabio sie mit
Komplimenten überschüttet. „Wie hast du das mit den zwei
Herren aus Mülheim nur hingekriegt?” Sie hatte in den
Spiegel geschaut, hatte die Ohrringe abgenommen und erwidert:
„Ich will ins Bett. Mir tut alles weh.” Und er: „Du bist ein
Verkaufsgenie.“ Zwei Stunden später war er herausgerückt mit
einem Geständnis zu Steamboat, das Rike weniger
gefallen hatte, sie hatten es miteinander getrieben, als sie sich
kennengelernt hatten auf jener Dampfschifffahrt auf dem
Mississippi vor zwei Jahren. Sie weiss nicht, wie sie damit umgehen
soll. Dem Geständnis hatte Fabio eilig hinzugefügt: „Es ist
alles vorbei.” Aber soll sie ihm glauben? Und, fragt sie besorgt:
Was kommt als nächstes? Sie steht noch immer auf der
Rampe vor dem Zeitungsarchiv im Westhafen, sie blickt Richtung
Bahnareal, Richtung Quitzowstrasse, Richtung Wohnung,
die sie mit Fabio teilt, sie sieht Pappeln, Geleise, dazu Lichtmasten,
ein Silo, eine Hebebühne, sie blinzelt in die Mittagssonne, ein
blauer, fast wolkenloser Himmel, was soll’s? sie kann’s nicht ändern,
das Mohaupt-Gen, denkt sie., das August-Mohaupt-Gen,
es hat sie wieder. Sie klatscht mit der Rechten auf die
Notebooktasche, die sie an der Schulter hängen hat, sie hat in das
Notebook nichts eingetippt, sie hat nicht gefunden, wonach
sie im Westhafen gesucht hat, sie hat zwei Mikrofilmspulen vom
Berliner Tageblatt aus dem Jahr 1934 gesichtet, nichts
zu Senta Söneland, keine Zeile, kein Wort, sie ist, was die Augen entspannt, vom Bildschirm öfter mal abgeschweift, den
Blick durchs Fenster auf das Becken I gerichtet, wo im ruhenden, lichtspiegelnden, glitzernden Wasser die meiste Zeit eine
Bewegung nicht zu erkennen ist, später sieht sie am Ufer gegenüber
langsam ein Baggerfahrzeug durchfahren, an den Fahrersitz
angehängt ein Arbeiter im Unterhemd, weiss, noch später einen
Tankwagen von Shell in den Farben der Corporate Identity,
gelbweiss, sie hat auf dem Fussweg zum Zeitungsarchiv
in Becken I ein halbes Dutzend Schiffe gezählt, darunter zwei
Lastkähne sowie Carola und Viktoria, zwei augenblicklich
unbenutzte, hundertplätzige Ausflugsboote, die zuvorderst vor
Anker liegen, die Stadtrundfahrt zu sieben Euro, das Heck
bemalt mit Werbung für den 1. FC Union. Und niemals vergessen: Eisern Union!!!
Diese Frau macht aus sich selbst
einen Witz. Sonntag, 3. Dezember 1933. Das achte Weltwunder!
Der Welt grösster Film! Das Plakat der Litfasssäule springt
den Mann mit Brille an, als er vier Uhr nachmittags die eindunkelnde
Martin-Luther-Strasse entlang geht, der Mann mit Brille ist
Experte. Gleichzeitige Uraufführung in dreissig führenden Theatern
Berlins. Die Fabel von King Kong. Ein amerikanischer
Trick- und Sensationsfilm. Der Mann mit Brille ist stehen geblieben.
King Kong, denkt er, der Affe ist los, Weihnachten kann
kommen! Er ist an der Pressevorführung gewesen.
Seine Besprechung beginnt er mit dem Satz: Diesen Film
muss man gesehen haben. Der Satz ist nächste Woche
in der Filmwelt zu lesen. Als er die Martin Luther Strasse weiter
geht, sieht er vor dem Scala Variété Theater an der Strasse
ein Taxi halten, eine Frau, fünfzig, robust, steigt aus, er hört sie
sagen: „Der Rest ist für Sie.” Die Frau eilt zum Eingang,
der Mann rückt an der Brille, er weiss, wer sie ist, sie ist die
Dirigentin der Damenkapelle, nicht in der Scala, nein,
die Dirigentin der Damenkapelle im Film Zwei gute Kameraden,
sie hat was, sie hat Zucker und Zimt, sie hat die wohlgefällig
gescheitelte Tugend der Frau Christine, er erwähnt sie
in seiner Kritik zu Das lustige Kleeblatt, diese Woche im Film-Kurier
zu lesen, er schreibt: Die entfesselten Schauspielertemperamente
des Kleeblatts geben dem Publikum jeden Zucker und Zimt.
Und: Mit dem nicht minder scharfkarikierenden Heidemann, mit
Oskar Sabos schnoddrig freundlicher Art, vor allem mit
der wohlgefällig gescheitelten Tugend der Frau Christine, genannt –
Senta Söneland, macht er die tollsten Bocksprünge. Fürs
Vergnügen der Einwohner um jeden Preis. Von der Affengrimasse
bis zum Schiller-Zitat.
Ein Vierteljahr später tritt der Mann mit Brille aus dem
Untergrund des U-Bahnhofs Zoo, eine parfümierte, frisch getönte,
aufgeblondete Kokotte im Dekolleté ihm zur Seite, sie
gehen im Strom der Passanten Richtung Ufa-Palast am Zoo,
bei den Wilhelmshallen, dem Variété davor, bleiben sie
stehen, er wirft einen Blick auf den Aushang, er sieht
ein gutgemachtes, freches Plakat, Senta Söneland, fast wie
früher, denkt er, sie betreten das Foyer. Am Eingang
warten Besucher. Es ist Premierenabend. Einige stehen aufgeräumt
in Abendgarderobe an der Abendkasse an. Der Mann mit
Brille tritt an den Schalter. Er sagt: „Ich bin vom Film-Kurier. Ich
brauche zwei Plätze.” Die Frau am Schalter lächelt. Sie
sagt: „Und wie ist ihr Name?” Er sagt: „Wegenast. Hans Wegenast.”
Sie lächelt erneut. Sie händigt ihm zwei Karten aus,
ganz vorn. Und das Programmheft. Er blickt um sich, er tritt
auf die parfümierte, frisch getönte, aufgeblondete Kokotte
im Dekolleté zu. Er sagt: „Mitzi, es hat geklappt. Wir haben Plätze
ganz vorn. Heute bist du ausgestellt.” Sie küsst ihn. Er geht
mit ihr hinein.
Achtundvierzig Stunden später liest Else Mohaupt aus
dem Film-Kurier, den sie von Frau Wetzlar, die mit einem
Filmkaufmann verheiratet ist und in der Nähe eine
Pension führt, bekommen hat, ihrem Ehemann vor, was Hans
Wegenast berichtet: Der zweite Teil des Abends wird
durch die Kapelle Georg Profé eingeleitet. Hinterher eine sauber
arbeitende akrobatische Nummer, die vier Adys, und bevor
die drei Lederer (Jongleure) das vielseitige künstlerische Angebot
aus-hanteln, plubbert Senta Söneland in das Haus.
Mit ihr im Lichtkegel ist die versammelte Mannschaft familiär
unter sich. Was sie quasselt, ist Nebensache. Aus ihrem
Munde, der an ein Maschinengewehr mit Ladehemmungen erinnert,
prasselt es nur so und jede Pointe sitzt. Dahinter viel, viel
Menschlichkeit – manchmal etwas verschüttete, blitzartig flitzen
die grauen Töne über die Rampe und treffen mitten im
Zentrum. Diese Frau macht aus sich selbst einen Witz und gibt
sich selbst. Man wünscht ihr ernsthafte Aufgaben, und der
Tonfilm sollte auf ihre „Kochkiste” nicht verzichten.
In der Menge, die Mittwochabend, 18. April 1934, vorm
Mozartsaal, dem Kino am Theater am Nollendorfplatz, Spalier
steht, ist Else Mohaupt. Nordpol – Ahoi! hat Uraufführung.
Ein neuer Universal Film. Eine tolle Grönland-Posse mit Walter
Riml, Guzzi Lantschner, Jarmilla Marton, Gibson Gowland,
Ludwig Stössl, Senta Söneland. Die Stars werden vorgefahren.
Jarmilla Marton, Gibson Gowland, Ludwig Stössl. Nicht
aber Senta Söneland. Und wer ist das? fragt Else Mohaupt.
Keiner sagt ein Wort. Was ist los? wo ist sie? wo ist
Senta Söneland? Else Mohaupt ist untröstlich, sie denkt, Senta
Söneland ist auf dem Nordpol, Else Mohaupt denkt,
sie hat Senta Söneland mit eigenen Augen gesehen, sie denkt,
Senta Söneland ist ein Eskimo, aber das träumt sie.
Jetzt kommt Bewegung in die Menge. Eine Wagentür wird
aufgerissen. Walter Riml, Guzzi Lantschner. Sie steigen
aus. Zwei Tiroler, die Hamburger Zimmerleute in Grönland spielen.
Einer war bei Leni Riefenstahl schon besetzt. Der
Kameramann, es ist derselbe wie für S.O.S. Eisberg, bringt
es fertig, Jarmilla Marton wie Leni Riefenstahl aussehen
zu lassen. Wie heisst er? Richard Angst? Guzzi Lantschner betritt
das Foyer. Ein Gedränge ist das. Der Propagandachef hilft
durch. Hans Wegenast stellt sich quer. Er sagt: „Sie haben mir ein Interview gegeben.” Guzzi Lantschner erinnert sich nicht.
Er fragt: „Filmwelt?” Hans Wegenast sagt: „Nein, Film-Kurier.”
Aber da ist Guzzi Lantschner auch schon an ihm durch.
Im Interview hat er gesagt: Wir sind seinerzeit im Mai vorigen
Jahres zusammen mit der S.O.S. Eisberg-Expedition
Dr. Fancks von Hamburg aus aufgebrochen, ohne Manuskript
und festen „Gesichtspunkt”, nur mit dem Willen, in Grönland
einen Lustspielfilm zu drehen. kein riesiger „Stab” stand uns zur
Verfügung – wir waren ganz auf uns und den Zufall
gestellt. Zitatende. Hans Wegenast rückt an der Brille, er denkt,
er darf Mitzi nicht warten lassen, er geht in den Saal,
er setzt sich neben sie, er beugt sich zu ihr, er sagt: „Weisst
du was?” Sie lächelt, sie verzieht den rotgeschminkten
Mund, sie sagt: „Wo sind wir denn hier wieder gelandet?” Er dreht
sich um, Blick ins Parkett, er lacht, er sagt: „Ach, weisst du,
ich bin ja so froh, dass du kein Eisberg bist.” Im Dunkel, als der Film
läuft, notiert er: Schaufuss, Söneland, Gross. Im Film-Kurier
ergibt das den Satz: Dann noch mit zwei Dialogsätzen Schaufuss
(der Leser weiss, er meint Hans Joachim Schaufuss) und
die Söneland und ganz bescheiden – der Autor im Film – Walter
Gross. Zitatende. Das arme Schwein, denkt Hans
Wegenast, aber sie wollen genannt sein, sie wollen alle genannt
sein, er seufzt, er klappt den Schreibblock zu, er schnuppert
an Mitzis frisch getöntem, parfümiertem Haar, er ergreift
zärtlich ihre Hand, er küsst Mitzi selbstvergessen auf
den rotgeschminkten, breitlippigen Mund, er fällt im Saaldunkel
hemmungslos über ihr Dekolleté her. Sie befreit sich, sie
sagt: „Hansi, nicht jetzt.” Und dann fragt sie: „Gehst du nachher
noch mit ins Femina?” Sie weiss nicht so recht, was sie
vom Anlass halten soll, die bei der Uraufführung von Nordpol – Ahoi! Spalier gestandene Else Mohaupt, Ehefrau von August
Mohaupt, Hauswart und Portier, Haberlandstrasse 7, weiss es
noch viel weniger, als sie im Film-Kurier liest: Totgelachtes,
begeistertes Publikum rief oft und lange nach Riml und Lautschner,
die sich im Originalkostüm zusammen mit Jarmilla Marton
und den Eisbären aus dem lustigen Vorprogramm wiederholt
verneigen konnten.
Hans Buhlicke, der Hauswart, steht
am frühen Abend an der Wohnungstür, er hat geläutet,
er händigt im Auftrag der Hausverwaltung die Heizabrechnung
für letzten Winter aus. As Rike Mohaupt die Heizabrechnung
ablegen will und in der Wohnung nach entspechenden Papieren
sucht, stösst sie in Fabio Calvanis Pultschublade auf den
Mietvertrag Quitzowstrasse 107, Vorderhaus, viertes OG, aber
der Vertrag ist nicht auf Fabio Calvanis Namen ausgestellt,
er lautet auf den Namen Andrew Glass. Sie hat keine Ahnung,
wer Andrew Glass ist. Sie bereitet gerade Patate alla
paprica zu, sie lässt das Gemüse eine halbe Stunde lang schmoren,
zugedeckt, bei schwacher Hitze, zwei Zwiebeln, fein
geschnitten, hat sie in der Pfanne an Olivenöl glasig werden
lassen, hat darüber ein halbes Pfund Kartoffeln gegeben,
gewaschen, geschält, am Gurkenhobel gescheibelt, gewürzt
mit Paprika, mit Pfeffer, alles übergossen mit einem
Deziliter Gemüsebrühe, nicht umgerührt auf dem Teller, den sie
Fabio Calvani, als er um sieben Uhr aus der Galerie
kommt, serviert mit einem Rosmarinzweig. Sie wartet, bis
er gegessen hat. Schliesslich fragt sie: “Wer ist Andrew
Glass?” Er schaut sie an, sie denkt, die Frage stört, er sagt:
„Wieso? Steamboat.”
Sie hat das zweite Mal im Leben zu laufen begonnen,
sie hat sich befreit, sie braucht Bewegung, sie muss aus der Ecke
raus, in der sie festgehalten wird. Hans Buhlicke, der
Hauswart, steht mit Besen vor dem Haus, als sie im Laufschritt
durch die Tür kommt. „Na, junge Frau, wo gehts denn hin?”
Er schaut ihr nach, das spürt sie im Rücken. Sie beginnt die tägliche
Runde, nachdem sie die Quitzowstrasse überquert hat,
indem sie die betonierte, um die eigene Achse gedrehte Treppe
nimmt, die sie auf die Ebene der Putlitzbrücke bringt,
auf der sie in den letzten, verspielten, vormittäglich frischen,
traumhaften Spätsommertagen dem Strassenverkehr
entlang läuft, grosser Himmel Richtung S-Bahnhof Westhafen,
leere Geleise, abgewickelter Güterbahnhof, kein
übermässiges Lauftempo.