NICHT WEIT HER
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel VIII
STEPHEN WAGONER HAT EINE E-MAIL GESCHICKT,
in der Beilage eine Foto, der Loft am Union Square, aufgeräumt,
neu gestrichen, überhell, das Bild an der Wand Leuchtturm,
von Insolvenz kein Wort. Rike Mohaupt denkt, er soll sie in Ruhe lassen, sie antwortet nicht, sie ignoriert die E-Mail, sie lässt
Stephen abprallen, das ist anstrengend, sie hat ihn im Kopf, er ist
eine Belästigung, ihr Ex, sie muss den Kopf frei bekommen.
Ehe sie die E-Mail öffnet, hat sie ein Telefongespräch mit der Mutter,
auch das trägt nicht zur Klärung der Lage bei. Andererseits,
und das trägt dazu ebensowenig bei: Fabio Calvani versteht nicht,
warum Rike so erstaunt ist, was seine Beziehung zu
Steamboat angeht, Fabio nimmt ihren Ärger entgegen, er
entschuldigt sich, er lächelt, er schweigt. Er sagt, er ist erneut,
als er nach Hause kam, Marcel Zühlke über den Weg
gelaufen, und wieder hat der Nachbar ihn im Treppenhaus
angesprochen. „Sie sind so scheu. Sie sind so intellektuell.”
Was meint er? Was will er? Rike denkt, Fabio lenkt ab.
Dann, tags darauf, sie will wissen, was er denkt, stellt Fabio
sich. Er verteidigt sich, er sagt, es stimmt, er hat den
Mietvertrag Quitzowstrasse 107, Vorderhaus, viertes OG nicht
unterschrieben. Na und? Was ist denn dabei? It’s tough,
but we move on. Hat er das nicht gesagt? Hat er, ja. Aber darum
geht es nicht. Er hat Vertrauen zerstört. Ja, das hat er,
denkt sie, Vertrauen zerstört. Zwei Tage später, der Vorwurf
steht im Raum, greift er Rike an. Sie ist überrascht.
Er hat sowas in den Pupillen. Sie sieht, wie er vom Tisch
aufsteht. Er ist spät nach Hause gekommen. Sie hat
den Eindruck, er hat etwas zu sich genommen. Er greift an den
Hinterkopf, er fragt: „Was macht dich so sicher, dass du
nicht selbst das Arschloch bist?” Sie weiss jetzt, wer Steamboat
ist, sie weiss jetzt, er ist nicht der Kunsthändler aus
Queens, von dem Fabio ihr erzählt hat, er ist nicht der zufällig
verfügbare Helfer, den Fabio mal eben so zum Loft am
Union Square schickt um festzustellen, ob Stephen Wagoner
sich nicht tatsächlich dort aufhält, wo sie ihn in Berlin
gesehen hat und darüber in Panik gerät, sie weiss jetzt, er heisst
Andrew Glass. Hat sie, fragt Rike, nicht Grund unzufrieden
zu sein? Sie denkt, Steamboat ist ihr Widersacher, sie hat das
nur nicht rechtzeitig erkannt. Er hat sie ihrem Ex wieder
angenähert. Er hat im Loft am Union Square, als er mit Stephen
Wagoners Stellvertreter plaudert, die Allianz von Art and
Wine vorgeschlagen. Er hat die Wohnung, in der sie lebt, gemietet,
aber das erfährt sie dann wieder als letzte. Und ist er nicht,
das ist die Frage, Fabios Geliebter?
Das nordische Weib ist die fraulichste
unter allen Frauen. Freitag, 20. Juli 1934, Senta Söneland
hat sich umgebracht, ein paar Tage später, es ist zwölf
Uhr mittags, im Friedhof Wilmersdorf findet, nicht unbemerkt,
die Beerdigung statt, aus der Friedhofskapelle tritt Hans
Wegenast, wieviele das sind? achtzig Personen, hundertzwanzig?
„Die ersten gehen schon”, sagt eine hochgewachsene,
blonde Mittvierzigerin, die mit zwei Schauspielern in der Menge
steht, und es ist ungewiss, ob sie Weggefährten wie die
Verstorbene meint oder die zu ihrer Beerdigung erschienenen
Trauergäste. Der Schauspieler mit Cigarette: „Sie war
eine Alkoholikerin.” Die Blondine: „Was? Das sagst du!” Der
Schauspieler ohne Cigarette: „Eine schöne Leiche. Eine Schnapsleiche.” Der Schauspieler mit Cigarette:
„Der Nationalsozialismus beginnt daheim.” Die Blondine: „Parteigenossen unter sich.” Der Schauspieler ohne
Cigarette zuckt die Schultern, er lächelt, er sagt: „Wer weiss,
wofür es gut ist.” Unter den Trauergästen, die sich
verabschieden, steht Willy Collin, der in Begleitung von Ehefrau
Hedwig erschienen ist, er steht in der Reihe derer,
die den Hinterbliebenen oben an der Freitreppe kondolieren,
vor allem Frau Werder, der Mutter, die Ende siebzig ist,
aus dem lothringischen Diedenhofen angereist, und wie erstarrt
dasteht. Eine Dame mit schwarzem Hütchen, vielleicht
fünfzig, stützt sie. Schmales, schönes Gesicht, denkt Willy
Collin, er tritt auf Frau Werder zu, er drückt ihr die Hand,
er sagt: „Sie war eine wunderbare Frau.” Die Dame mit schwarzem
Hütchen flüstert Frau Werder zu: „Der Kapellmeister von
Immer feste druff! –” und, mit fliehendem Lächeln: „– mit Frau.”
Hedwig Collin hebt die Hand, sie schluchzt, sie wischt eine
Träne aus dem Auge, sie sagt: „Viel Mut. Das brauchen
Sie jetzt.” Frau Werder schaut wie durch sie hindurch, sie zögert,
dannsagt sie: „Danke. Sehr freundlich. Wenigstens
war die Beerdigung judenfrei.” Hedwig Collin zuckt zusammen,
ihr Ehemann nimmt sie beim Arm, sie treten rasch beiseite.
Links von der Freitreppe eine Menschentraube. Eine weibliche
Stimme: „Wieso ist Claire nicht da? Hat sie denn niemand
informiert?” Claire Waldoff, denkt Willy Collin. Die jungen Leute
stehen um eine Schauspielerin versammelt, sie sagt: „Sie
kann nicht. Sie ist auf Bühnentournee.” Er sieht Ehefrau Hedwig
an, sie treten zurück. Zwei Herren, zwei Ledermäntel. Der
Grössere: „Sich selber umbringen. Es ist eine Schande.”
Der Kleinere: „War wohl wieder so ‘ne Lesbe.” Sie treten weiter
zurück. Eine Brillenträgerin: „Wieso hat niemand erwähnt,
wie sie für das Frauenstimmrecht gekämpft hat, damals, 1919,
mit der Rede am Bahnhof Zoo, vor Hunderten von Leuten,
vor Tausenden?” Die Brillenträgerin steht mit anderen Frauen
zusammen. Eine Frau mit Halstuch sagt: „Ich bin aus allen
Himmeln gefallen, als ich’s gehört hab. Die Senta war für mich
das Allergrösste, schon immer.” Eine Frau ohne Halstuch
sagt: „Jetzt hat sie’s hinter sich. Was willste mehr?” Hinter den
Frauen SS-Männer in Uniform, eine Abordnung. Sie treten
weiter zurück. Zwei Zivilisten im Gespräch. Der dünne Mann: „Ach
was, ich lass mir von niemand das Wort nicht verbieten,
schon gar nicht von Ihnen.” Hans Wegenast: „Besonders schlau,
wa? Sehn Se nich die Ledermäntel da vorne? Wissen Sie
überhaupt, wer ich bin?” Der dünne Mann: „Ja, ein feiger Hund.”
Der nordische Mann, denkt Hedwig Collin. Rasse und Hormone
hat sie im Berliner Tageblatt einen Beitrag gelesen, in dem
es zum Schluss heisst: Nach den Untersuchungen von Wille scheint
der nordische Mann von allen Männern am wenigsten Weibliches
in sich zu tragen. Umgekehrt ist das nordische Weib die fraulichste
unter allen Frauen, wenn man nach den Hormonen urteilt, die
in ihrem Organismus kreisen. Hedwig Collin fasst ihren Ehemann
unter, sie treten weiter zurück. Eine Frau. Ein Mann. Sie sagt:
„Ist denn von der Ufa keiner hier?” Er sagt: „Doch, da drüben, der
Mann im Regenmantel.” Sie sagt: „Der soll von der Ufa sein?”
Er reagiert mit Schulterzucken, er sagt: „Und wer sind Sie?” Sie
sagt: „Ich war ihre Schneiderin.” Sie treten weiter zurück,
Hedwig Collin drückt ihren Ehemann am Arm, sie sagt: „Wir gehen
nach Hause.” Das sieht Willy Collin genauso, er dreht sich
um, er winkt, er grüsst, er sagt: „Frau Kalin, wie geht’s?” Die Frau
sieht ihn an, sie steht allein, sie schüttelt den Kopf, sie sagt:
„Mein Name ist Brühl. Ich war ihre Pflegerin. Ich hab sie gefunden.
Kein schönes Bild.” Willy Collin sagt: „Nein, kein schönes Bild.”
Er blickt zur Friedhofskapelle mit dem Kuppelbau zurück,
der den Krematoriumskamin kaschiert, er ist mit Hedwig Collin am
Ausgang angelangt, ein Trupp Hitlerjungen zieht hinter den
Gitterstäben über die Berliner Strasse davon, er dreht sich um.
Ein älteres Paar steht bei der Seitenhalle, am Rand, apart,
es ist August Mohaupt mit Ehefrau Else. Willy Collin kennt das
Paar nicht. Sie heult wie ein Hund, August Mohaupt steht
daneben, er wirkt leicht verdrossen. Jetzt heult sie, denkt er. Und
alles nur, weil sie weiss, dass sie die einzige auf dem Platz
ist, die alle Filme von Senta Söneland aufzählen kann. Nein, denkt
Else Mohaupt, es kann nicht sein, und mit dem Sturzbach
der Tränen heult sie alles aus sich heraus. Abenteuer in Tunis.
Arm wie eine Kirchenmaus. Ballhaus goldener Engel.
Benjamin, der Schüchterne. Das Geheimnis um Johann Orth.
Das lustige Kleeblatt. Das Publikum singt mit. Der Draufgänger. Der
Durchschnittsmann. Der Gattestellvertreter. Der Greifer.
Der König von Paris. Der Onkel aus Amerika. Der unbekannte Gast.
Der Weg nach Rio. Die Bräutigamswitwe. Die gestörte
Hochzeitsnacht. Die Konservenbraut. Drei von der Kavallerie.
Ein tolles Mädchen. Fräulein Pfiffikus. Fritzis toller Einfall.
Goldblondes Mädchen, ich schenk Dir mein Herz. Gutgehendes Geschäft zu verkaufen. Harry & Co. Hasenklein kann nichts
dafür. Hochstaplers Polterabend. Karikaturen. Man nehme. Mein
Herz sehnt sich nach Liebe. Nordpol - Ahoi! Pension Lampel.
Reserve hat Ruh. Sag' mir, wer Du bist. Seiner Hoheit Brautfahrt.
Sie und die Drei. Skandal in der Parkstrasse. Susanne
macht Ordnung. Trara um Liebe. Wiener Wald. Zwei glückliche
Tage. Zwei gute Kameraden. Sie schluchzt nurmehr leise,
auf einmal hält sie inne. sie fasst ihren Ehemann unter, sie sagt:
„Sie hat sich in der Klapsmühle umgebracht.” Sie hat die
Filme von Senta Söneland alle gesehen, alle mit Ausnahme von
Hasenklein kann nichts dafür, wo sie die Abgeordnete
Dr. Anita Murr ist, sie hat sich das aufgespart, denkt sie. Er gibt
ihr einen Klaps auf die Schulter, er sagt: „Jetzt heule nicht,
Else, du hast ihn noch vor, den besten Film von Senta Söneland.“
Tatsächlich wischt Else Mohaupt die Tränen aus dem
Gesicht und verstummt, zuhause wird sie den Ausschnitt aus dem
Film-Kurier, den sie beiseite gelegt hat, auf die Rückseite einer
Portraitfoto von Senta Söneland kleben, der Ausschnitt, von
Hans Wegenast verfasst, was sie nicht weiss, geht wie folgt: Die
Söneland hat für immer die Augen geschlossen. Mit dem
Tode des Mannes der Künstlerin tat sich in der eigenartigen Frau
ein Riss auf, der sich nie mehr schliessen sollte. Seit Monaten
wurde Frau Söneland von seelischen Erschütterungen heimgesucht,
die ihre Schaffenskraft erlahmen liessen. Der scharfbeobachtende
Freund erlebt zuletzt mit ihr auf der Bühne, wie sich zusehends
das tragische Schicksal eines heroischen Künstlermenschen vollzog.
Nur noch äusserlich war die früher zwerchfellerschütternde
Komik der Söneland, die innerlich verblutete. Im März dieses
Jahres trat die Katastrophe ein. Seelisch vollkommen erschöpft
musste die Künstlerin ein Nervensanatorium aufsuchen, aus
dem sie nicht mehr zurückkehren sollte. Die Berliner Theaterwelt
verliert viel mit der Söneland. Eine seltsame Auslese rafft
Schnitter Tod! Adalbert, Falkenstein, Pallenberg und jetzt – die
Söneland. Der Theater- und auch der Filmfreund ist mit
Trauer erfüllt. Else Mohaupt blickt auf, gerade kommt ihr Ehemann
zur Wohnzimmertür herein, sie sagt: „Das mit Max Pallenberg,
das war ein Flugzeugabsturz, und das mit Senta Söneland, das war
ein Absturz, aber ich finde schon noch heraus, ob da nicht
jemand nachgeholfen hat.“
Rike Mohaupt hat die Putlitzbrücke
erreicht, sie hat zu laufen begonnen, sie spürt die leichte
Herbstbrise im Gesicht, sie hat die Gedanken an Stephen
Wagoner und Fabio Calvani verbannt, sie hat sie dem
Berlin-Warszawa-Express mitgegeben, der gemächlich, kein halbes
Dutzend Wagen, mausgrau die Geleise passiert, die in der
Brache unter ihr liegen, sie denkt, jedes Mal ist es die Putlitzbrücke,
sie ist die Schanze, die sie bei der täglichen Runde in Schwung
bringt. Annie Wanamaker fällt ihr ein, die sie an der 14th Street
getroffen hat, das Nachbarmädchen, ihr Schutzengel,
wie sie vom einen Fuss auf den andern tritt, sich in der Hüfte
wiegt, als nehme sie Anlauf für den nächsten Hochsprung
und in raschen, die ausgreifenden Schritte davoneilt, sie hat Annie
Wanamaker nicht getroffen, sie hat mit ihr nicht geredet,
sie muss sich bei ihr melden, denkt sie. Bald hat sie den S-Bahnhof Westhafen hinter sich gelassen, sie läuft am Nordufer dem Schifffahrtskanal entlang, ein Lastkahn, die Mauer am Campus
des Virchow-Klinikums der Charité, der Parkweg, einsam,
lärmig, dem Kanal entlang, im Westhafen eine Rangierlok
in Bewegung, umgewälzter Schrott, auf der Seestrasse stehender
Autoverkehr, sie läuft an der JVA Plötzensee, am S-Bahnhof Beusselstrasse, am Berliner Grossmarkt vorbei, eigentlich läuft sie
um den Westhafen herum und über die Beusselbrücke zurück,
aber sie ist vorsichtig geworden, wenn sie die Laufstrecke schildert,
die gleich vor der Haustür in Berlin-Moabit liegt, sie sagt
Beusselbrücke, nicht Beusselstrasse. Als sie Vivian das erste
Mal davon erzählt, Vivian Kretschmar, der Galeristin, die
ungeniert genug ist, bei der Finnissage Party auch mal schnell
den Freund der britischen Künstlerin zu vernaschen, blickt
Vivian entsetzt. Vivian sagt: „Was, du läufst in der No-Go-Area?“
Und dann, mit hellem Auflachen einlenkend: „Oder brauchst
du den Kick?” The german Angst, denkt Rike, der Schrecken des
Beusselkiez, aber das ist lächerlich, läuft sie nicht mit iPhone
im Ohr? läuft sie nicht im Sendegebiet von NPR?