DIE FRAGE
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel VI
MENSCHEN UND BILDER FOLGEN SICH, IN DER GALERIE
an der Brunnenstrasse stehen sie einander im Weg. Alles im Soll
bei Carter & Domori, wo die Finissage Party für Aufregende
Plätze läuft und die Räume im Auftritt der Besucher, im
Geräuschpegel der Stimmen zur Bühne macht. Die Szene hat gewechselt, die Gästetraube ist verflogen, der harte Kern
zerfällt in drei Teile. Vorn stehen die britische Künstlerin der
Ausstellung, die zwei Herren aus Mülheim, eine
Botschaftsangehörige; hinten Rike Mohaupt, Vivian
Kretschmar, der Freund der Künstlerin, der Rockmusiker
ist; in der Mitte Fabio Calvani und Stephen Wagoner,
der sein Bild Leuchtturm abholt. Als Rike, die mit Vivian geredet
hat, mit Wein nochmal herumgeht, bemerkt sie, dass
ihr Ex mit Fabio den Vorschlag Art and Wine zu bereden
angefangen hat, eine „strategische Allianz”. Sie hat
schon immer den Verdacht gehabt, Stephen will eine
Weinkönigin aus ihr machen. Darum gehts bei Art and Wine
also? Er fragt nicht, kehrst du zu mir zurück? Er fragt,
wie siehts aus mit einer strategischen Allianz? Und er fragt nicht
einmal sie. Nein, denkt Rike. Sie steht daneben, ungefragt,
die Flasche in der Hand. Bordeaux. Alles in ihr sträubt sich. Sie
spürt das leise Beben der Wut. Was macht sie hier? Das
Beste, denkt sie, ist, sie zieht dem Ex mit der Flasche eins über.
Stattdessen bedient sie. Stattdessen schenkt sie Wein nach,
ihm und Fabio. Sie denkt, Stephen übertölpelt sie. Sie denkt, er
übertölpelt sie alle. Dabei greift er nur die Idee auf, die sie ihm
selbst geliefert haben. Nein, nicht sie. Fabio und Steamboat. Das
verdankt sie ihnen, das mit Art and Wine. Dabei weiss sie nicht
mal, wer dieser Steamboat eigentlich ist. Ist er Fabios Geliebter?
Sie errötet. Sie lächelt. Geht es hier nicht um sie? strategische
Allianz? wird hier nicht sie verhandelt? Sie kehrt überstürzt mit der
Flasche zu Vivian und dem Freund der Künstlerin zurück. Sie
verschüttet Wein. Eine Verhandelte, glaubt sie, eine Ertrinkende.
Sie zeigt, bei Vivian angelangt, mit dem Kopf auf die zwei
Männer. Sie sagt: „Sie haben Art and Wine zu bereden angefangen.
Sieht aus, als stehe ich gerade zum Verkauf.” Sie stellt den
Wein ab. Sie sieht, Vivian plaudert nicht mit dem Freund der
Künstlerin. Er fasst sie am Hintern an. Sie berührt ihn wie beiläufig
mit der Hand an der Hose, wo er das Geschlecht hat, hart,
bereit, hungrig. Vivian blickt hoch. Sie lächelt. Sie fragt Rike: „Hat
es noch Wein?” Rike, die daneben steht, blickt Vivian an. Sie
sagt: „Hat es. Hat es.” Stephen, denkt Rike, Stephen Wagoner!
Etwas ist schief gelaufen. Sie greift an den Kopf. Was macht
er hier? Was macht er hier wirklich? Rike schwankt. Warum hat
sie vorhin nicht zugeschlagen mit der Flasche? La Vedetta del
porto. Der Hafenwächter. Warum hat sie, als er sich in der Galerie
unter Tränen entschuldigt hat, geglaubt sich erklären zu müssen?
Warum hat sie ihn, das war sträflich, sie weiss es, jetzt weiss
sie es, eingeladen sich die Ausstellung Aufregende Plätze
anzusehen? In diesem Augenblick fragt Vivian: „Gehts dir nicht
gut?” Rike sagt, wie ertappt: „Mir gehts gut.” Sie fragt: „Wo
habt ihr die Gläser?” Sie lacht. Sie beugt sich vor. Sie hat heiss.
Ihr ist schwindlig. Sie schwankt. Die Flasche entgleitet ihr.
Sie zerschlägt am Boden. Eine Pfütze. Scherben. Wein. Ein
plötzlicher Schmerz im Fuss. Sie blutet. Vivian ist bei ihr.
Fabio ist bei ihr. Ein kleiner Auflauf. Und dann hört sie, wie aus
grosser Entfernung, wie Stephen sagt: „Die Wunde muss
desinfisziert werden.”
Und ich selber, was bekomme ich?
Dienstag, 23. Oktober 1934. August Mohaupt, Latzhose,
Schlüsselbund, hängt das Schild ins Fenster. Zu vermieten.
Auffenberg Verlag, Haberlandstrasse 7. Sie sind weg. Hardy Worm,
der Redakteur. Und Dr. Bernhard Gröttrup, der Herausgeber.
Sie sind weg. Und die Verlagsräumlichkeiten? Naja, die brauchen
einen neuen Anstrich. Mohaupt rückt mit Daumen und Zeigefinger
den Schnurrbart zurecht. Er macht im Abstellraum Licht.
Er hebt Zeitungen auf, die am Boden liegen. Was ist denn das?
Die Ente. Erscheint jeden Donnerstag. 10 Pfennig. Mohaupt
liest: Nazi-Überfall auf die Ente. 16. Februar 1933. Was in den
kleinen Gehirnen der vier Bravos, die am vorigen Donnerstag
in unsere geheiligten Verlagsräume eindrangen, vorging,
wissen wir nicht. Vier bewaffnete Nazis befanden sich einer
Übermacht von sechs mit ihren Reizen bewaffneten Mädchen gegenüber. Trotzdem fiel ihnen nicht das Herz in die Hose.
Sie fuchtelten grauenerregend mit ihren Revolvern in der Luft herum, verliehen ihren Stimmen einen männlich-rauhen Klang und
waren anmassend genug, Herausgeber und Redakteur der Ente sprechen zu wollen. Dieses Projekt zerschlug sich, weil
Dr. Bernhard Gröttrup und ich um diese Zeit bei einer Molle sassen
und darüber beratschlagten, wie man auf eine zugkräftige,
aber billige Art und Weise für die Ente Propaganda machen könnte. Eine Stunde später erfuhren wir, dass uns der Propagandaleiter
der NSDAP diese Sorge abgenommen hatte.
Und das hier! denkt Mohaupt, nimmt ein Blatt, dreht es.
Was ist das? Ist das witzig? Ist das geistig anspruchsvoll? Die
Ente, 28. Januar 1933. Stieke, Jottfried, jetzt reden wir!
liest Mohaupt. Ach, es macht wahrhaftig keinen Spass, sich mit
diesen witzlosen Burschen herumzubalgen. Diese Kerls sind
von einer so frechen Lügenhaftigkeit, Heuchelei und Anmassung,
dass sie zwölf Millionen Deutschen imponiert haben. Uns nicht.
Mohaupt schüttelt den Kopf. Und das hier! Die Ente, 2. Februar 1933. Er liest: Halleluja, der Retter ist da! Herr Hitler wird die
Versprechungen, die er gegeben hat, gewissenhaft einlösen.
Und das hier? Interview mit Adolf Hitler. Sowas gibts doch gar
nicht. Ein Interview mit Adolf Hitler? Die Ente, 10. Dezember 1931.
Endlich stellen wir Hitler, der uns im Kaiserhof hat warten
lassen, unsere Fragen. Hitler aber weiss nicht nur alles, er weiss
alles besser. „Verzeihen Sie”, wage ich einzuwerfen. „Beruht
es auf Tatsachen, dass Sie mit der katholischen Kirche ein Bündnis
abschliessen wollen?” Hitler fährt mit der Hand durch die Luft.
„Wer fest sitzen will, muss sich auf den Heiligen Stuhl setzen.” „Und
wie stellen Sie sich ein Regime äusserster Sparsamkeit vor?”
„Das ist doch sehr einfach”, sagt Hitler. „Die Arbeiter bekommen
kein Geld mehr in die Finger. Wer aber kein Geld hat, kann
keins ausgeben und wird infolgedessen zur Sparsamkeit erzogen.” „Glauben Sie, dass es möglich sein wird, deutsche Güter auszuführen, wenn Sie den Import drosseln?” Hitler stampft
mit dem Fuss auf. „Wer sich mir entgegenstemmt, den zerschmettere ich!” Jede weitere Fragebeantwortung lehnt Hitler ab, da er von
einigen Grosskapitalisten zum Frühstück eingeladen worden ist. Als
wir uns von ihm verabschieden, frage ich schnell noch, ob im
Dritten Reich auch die Witzblätter verboten würden. „Die vor allen
Dingen”, entgegnet der Führer. „Im Dritten Reich hat keiner
was zu lachen.” Stark beeindruckt gehen wir die Treppe hinunter.
Mohaupt löscht das Licht im Abstellraum. Die Ente! Er steckt
sie im Eingangsraum in den Ofen. Er verbrennt sie, die in der Eile
des Auszugs nach dem Machtwechsel liegen gebliebenen
Blätter der Zeitung Das ist alles, denkt er. Das ist alles, was zu tun bleibt. Das Satireblatt, die lahme Ente! Er richtet sich auf.
Er klatscht in die Hände, damit der Staub abfällt. Er wischt die
Hände an der Latzhose ab. Er gähnt. Er streckt und dehnt
sich. Hardy Worm, der Redakteur. Und Dr. Bernhard Gröttrup, der Herausgeber. Nein, er hat sie nicht wirklich gekannt. Es heisst,
Gröttrup ist noch im Land. Es heisst, Worm ist nach Paris geflohen.
Sie sind jung. Sie sind unerfahren. Jetzt sind sie weg. Mohaupt
zuckt die Schultern. Er tritt aus dem Haus. Er hält den Schlüsselbund
in der Hand. Er schliesst die Verlagsräumlichkeiten ab. Er
bleibt vor dem Fenster auf dem Bürgersteig stehen. Zu vermieten.
Zwei Mädchen gehen vorbei. Ist heute Sporttag? Sie tragen
Zöpfe. Sie tragen Uniform. BDM, Bund Deutscher Mädel. Das ist die
wahre Jugend, denkt Mohaupt. Er beobachtet die Lage. Er
sondiert seine Chancen. Er denkt, Schnurrbart ist im Kommen.
Er rückt seinen mit Daumen und Zeigefinger zurecht.
Ist was? denkt Mohaupt. Der Postbote kommt schwer beladen
auf ihn zu, er hält, M-hm, macht Mohaupt. Der Postbote
sagt: „Kann ich das bei Ihnen loswerden?” Mohaupt wundert sich,
er lacht, er nickt, er fragt: „Wer hat denn Geburtstag?” Der
Postbote hält die Post hoch, einen Stapel, alles vorsortiert, er sagt:
„Alles für Waldoff.” Mohaupt beugt sich vor, er nimmt
ihm die Post ab, die ganze Ladung, obenauf ein Brief, er denkt,
eine schöne Handschrift, er macht die eine Hand frei.
Absender? Er wendet den Brief. Willy Collin, Kapellmeister, Haberlandstrasse 11, Berlin-Schöneberg. Sagt ihm nichts,
denkt Mohaupt, nicht in seiner Verfassung, nicht im Augenblick.
Kapellmeister? Bedankt er sich für etwas? Verdankt er ihr
etwas? Sie ist populär, die Schauspielerin. Es heisst, sie ist
hilfsbereit. Es heisst, die Bittsteller sind hinter ihr her.
Claire heesst se! Berliner, lache Dich gesund! Humor ist die Parole.
Hinein ins Lachen mit Claire Waldoff. Sie tritt in der Scala
auf, im Wintergarten, im Europahaus, im Bellevue, im Kabarett
der Komiker. Es gibt Beschwerden, „ihre jüdischen
Schweinereien” würden „der Jugend Schaden zufügen”.
Sie hat ihre arische Herkunft bis zum Urgrossvater
nachgewiesen. Sie ist in die Reichstheaterkammer Berlin
aufgenommen worden, Reichsfachschaft Artistik,
Nummer 1230, Wortmann Claire, Künstlername Claire Waldoff,
Beruf Wortvortragskünstlerin und Schauspielerin,
Nummer 3/22963.
Mohaupt hält den Stapel fest. Briefe, Karten, Pakete.
Er hält sie mit beiden Armen fest. Ihm fällt ein, die Schauspielerin
ist nicht zuhause. Sie feiert im Kreis der Familie ihrer
Begleiterin. Sie wird fünfzig. Er fragt: „Und ich –” Er fragt
ungehalten. „– ich selber? ich bekomme was?” Der
Postbote winkt ab. Er schaut nochmal nach. Er sagt: „Heute nichts,
junger Mann.” Sechsundfünfzig ist er, denkt Mohaupt.
Aber das sagt er besser nicht. Er sagt: „Ich meckere ja nicht, wa.”
Der Postbote sagt: „Seit der Führer aufräumt, stapelt
sich das.” Mohaupt sagt: „Sie ist populär, die Schauspielerin.”
Glückwünsche, Geburtstagsgeschenke. Das will verdankt
sein. Eine Menge Arbeit, denkt Mohaupt. Er blickt über den Stapel
hinweg. Er beneidet die Schauspielerin nicht. Nicht um diese
Post. Was ist, wenn hinter jedem Gratulanten ein Bittsteller zum
Vorschein kommt? Er lacht. Der Postbote schliesst
die Tasche. Er zeigt zur Haberlandstrasse 5. Er beugt sich vor.
Er sagt: „Bei dem Juden da drüben war’s noch schlimmer.”
Er blickt, Mohaupt weiss nicht wie. Irgendwie blöde. Einstein, denkt
Mohaupt. Alles Einstein. Er geht mit der Post ins Haus.
Ilse? Die Sekretärin von Einstein, Stieftochter und Sekretärin.
Hat sie Ilse geheissen? Sonntag hat sie mal gearbeitet,
den ganzen Nachmittag, bis nachts um elf. Als er sie anderntags
auf dem Bürgersteig anspricht, sagt sie: „Die Leute sind
wirklich gänzlich von Gott verlassen ihm soviel zu schreiben. Bei
jeder Post, die durchgeworfen wird, stosse ich einen
kräftigen Fluch aus.”
Dieser Spinner”, sagt Fabio. Er meint
Marcel Zühlke, der ihn im Treppenhaus angesprochen hat.
„Sie sind so scheu”, hat der Nachbar gesagt. „Sie sind
so intellektuell.” Er redet von sich selber, hat Rike bloss gesagt.
Er ist ein Idiot. Er selber, er wäre gern intellektuell, was
immer er sich darunter vorstellt, und da es ihm dazu nicht reicht,
verwirft er den Wunsch intellektuell sein zu wollen,
entwertet ihn und macht draus scheu. Rike glaubt nicht, dass
Zühlke weiss, was Fabio an der Brunnenstrasse macht,
und sollte er von der Galerie gehört haben, was stellt ein Mann
wie Zühlke sich darunter vor?
Rike bleibt ein paar Tage zuhause. Sie erholt sich,
aber sie ist früh wach. Sie steht im Wohnzimmer. Sie telefoniert
mit Mom. In Brooklyn ist Nacht, in Berlin Morgen. Der
Sommer, denkt Rike, der August vor allem, ist ganz leidlich
herausgekommen. Sie sieht die Sonne aufgehen,
während sie am Fenster steht. Die Strasse unten. Erster
Autoverkehr. Die Quitzowstrasse. Ein Mann tritt aus
dem Haus. Ist das Marcel Zühlke, ihr Nachbar? Nein, es ist
Hans Buhlicke, der Hauswart. Sie wäre gern im
Schlachtensee schwimmen gegangen, aber nicht mit ihrem
Fuss und der Schnittwunde, von der sie Mom nichts
erzählt. Beiläufig fragt Ireen Mohaupt: „Ist er noch in Berlin?
Stephen Wagoner?” Rike sagt: “Stephen? Er ist längst
abgereist. Das will ich doch hoffen.” Ireen seufzt. Sie zögert.
Sie sagt: „Ich hoffe, du weisst, was du tust.” Plötzlich
fragt sie: „Und sag mal, wieso warst du diese Woche nicht
in der Galerie?” Rike denkt, ist das die Frage? Sie sagt:
„Geschlossen. Die nächste Ausstellung öffnet Freitag.” Moms
Frage. Rike weiss, sie kennt das, es ärgert sie
trotzdem, das Bild, das hinter der Frage steht, die Ängstlichkeit,
es ärgert die Tarnung, die unausgesprochene Besorgnis
zu versagen, die Anspielung, es hört nie auf, ein typisches,
verlogenes Mutter-Tochter-Gespräch, es ärgert das
Drumherum, mit dem Mom alles umgibt, was das Verschwinden
der Tochter auslöst, die Erwartung eines möglichen
Absturzes, denkt Rike, aber dann, auf einmal, berührt sie etwas,
etwas ganz anderes. Mom hat das Fenster zur Hooper
Street geöffnet, und in die Lücke des Schweigens dringen
Strassengeräusche, entfernte Hupsignale, in sanfter
Brise hergewehter, schläfrig gähnender Verkehr, übererregtes
Sirenengeheul plötzlich, es ist NYC, es ist der ewige
Sound der Stadt in einer Sommernacht. Rike sagt: „Ich muss
die Haare waschen.” Ireen sagt: „Hast du das Bild
bekommen?” Sie meint das Photoportrait, das sie geschickt
hat, August Mohaupt, Hauswart und Portier. Er ist ein
Nazi gewesen, denkt Rike. Wie alle anderen auch. Sie betrachtet
den verwundeten Fuss, den sie aus der Galerie
mitgebracht hat. Claire Waldoff! Bis zum Urgrossvater hat
sie die arische Herkunft nachgewiesen, bis zum
Urgrossvater also! Rike lacht ein stummes Lachen. Sie sagt:
„Danke. Ja, ich hab das Bild bekommen.” Und dann,
in der Entfernung hört sie das Sirenengeheul, das abklingt,
sagt sie: „Weisst du was? Es ist komisch. So hab ich
mir eigentlich die ganze Zeit Willy Collin vorgestellt.” Ireen stutzt.
Sie fragt: “Den Kapellmeister?”