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BUNDESANWALT WALDER UND

DIE PORNOGRAPHIE



               Fritz Hirzel, Auf Bücherjagd in der Schweiz.  

               Bundesanwaltschaft beschlagnahmt „grob unzüchtige“

               Literatur, TagesAnzeiger, Zürich, 11. Juli 1970      


Nicht nur das Kleine rote Schülerbuch ist in die Fänge

eidgenössischer Moralhüter geraten. Die Schweizer Buchhändler

bekommen neuerdings statt bestellter Sendungen aus dem

Ausland vorgedruckte Formulare der Bundesanwaltschaft. Aus

Lieferungen an die Zürcher Dr. Oprecht AG und an Marthe

Kauers Genossenschaftsbuchhandlung beschlagnahmten Zöllner

in Basel und Kreuzlingen unter anderem Apollinaires Die

elftausend Ruten, Saltens Josefine Mutzenbacher – Meine 365

Liebhaber und Castellis Die Sauglocke. Und auch bei

Pinkus‘ Limmatbuchhandlung kam eine Bestellung Gruppensex

nie an. Der Oltener Buchhändler Peter Butz bekam statt

angeforderter Bücher eine Busse von 80 Franken, mit Strafen von

60 bis 80 Franken wurden Basler Buchhändler belegt, und

besonders empört sind die Verkäufer der Buchhandlung Stauffacher

in Bern, die es mit 250 Franken Busse auf einen neuen

Rekord brachten.

      Das Kleine rote Schülerbuch ist in der Schweiz momentan

so gut wie vergriffen. Während Berner Buchhändler vor

dem empörten Eingriff des Eingriff des Landesring-Schuldirektors

Sutermeister wöchentlich zwei, drei der Apo-Schülerfibel

absetzten, waren es darauf bis zu dreihundert in der Woche.

Mittlerweile dürften in der Schweiz etwa 10 000 Exemplare

im Umlauf sein. Die sogenannten Porno-Romane aber, die der

Schweizer Zoll mengenweise konfisziert, müssen die

Buchhändler dennoch bezahlen. So deckt sich spätestens mit

der finanziellen Verlust-Bilanz ihr Ärger mit jenem der

Kunden, denen sie nicht vor der Lust stehen wollten. Denn die obrigkeitsstaatlichen Eingriffe in die Privatsphäre

erwachsener Bürger häuften sich just in dem Moment, als die

Demokratisierung auch das Porno-Geschäft erfasste

und kostspielige Liebhaberalben durch preiswerte Volksausgaben

ersetzt wurden.

      Mochten deutsche Juristen längst den ominösen

Kunstvorbehalt ausgeräumt und die angelaufene Bücher-Lust

vorbehaltlos freigegeben haben, den Sachbearbeitern

der Bundesanwaltschaft sind die Dinge aus Dänemark. Schweden

und der Bundesrepublik nach wie vor ein Stein des

Anstosses. Sollten die Dänen mit der Freigabe von Pornographie

ruhig einen Rückgang von Sittlichkeitsverbrechen

registrieren, für sie verletzten die Sex-Import-Drucke weiterhin

Sittlichkeit, Anstand und gesundes Volksempfinden. Und

es gehört gewiss zur bösen Ironie des Zensoren-Handwerks,

dass sie sich auch diesmal kräftig vergriffen.

      Sexuelles wollen sie weiterhin nur gelten lassen, wenn es im

Bereich der schönen Künste sich zuträgt. Die drei

beschlagnahmten Titel bezeichnete Sachbearbeiter Graf auf

telefonische Anfrage hin als „grob unzüchtig“, später

kurzerhand als „eine Sauerei“.  Dass es sich bei dem 1918

verstorbenen französischen Lyriker Guillaume Apollinaire

mittlerweile um einen Klassiker der Weltliteratur handelt, den die

Zeit ihren Lesern kürzlich wieder als „genialischen Autor“

vorstellte, scheint ihnen entgangen zu sein. Bundesanwalt Hans

Walder bezweifelte gesprächsweise gar, dass es sich bei

den Elftausend Ruten um einen „echten Apollinaire“ handle. Dabei

gibt es gerade zu diesem Buch in der französischen Ausgabe

ein Vorwort, das kein geringerer als Louis Aragon

verfasst hat.

      Mit Vorworten renommierter Autoren sind auch die anderen

beiden verpönten Romane längstens abgedeckt. Castellis

um 1840 erschienene Sauglocke mit einem von Eduard Fuchs, den

Walter Benjamin in einem Aufsatz einst als einen „Pionier der materialistischen Kunstbetrachtung“ verehrt hatte, die

Mutzenbacherin mit einem des Sprachalchemisten Oswald Wiener,

der meinte, es handle sich bei dieser „Lebensgeschichte

einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt“ vielleicht um

den „einzigen sogenannten pornographischen Roman

eines deutschsprachigen Autors, den man zur Weltliteratur

rechnen muss“.

      Doch was „Kunst“ und was eine „Sauerei“ ist, entscheidet

vorderhand die Bundesanwaltschaft. In einer vorgedruckten „Verfügung“ teilte sie den Buchhandlungen per Einschreiben mit,

was die Eidgenössische Oberzolldirektion ihr jeweilen

gerade unterbreitet hat: „Die fragliche Sendung war von der

Bundesanwaltschaft unter dem Gesichtspunkt von Art. 36 Abs. 4

des Bundesgesetzes über das Zollwesen und Art. 55 der

bezüglichen Vollziehungsverordnung zu beurteilen. Da ihr Inhalt als

unsittlich im Sinne der genannten Zollgesetzesbestimmungen

qualifiziert werden muss, wird die Sendung beschlagnahmt.“ Gegen

die Beschlagnahmungen haben die Buchhändler mittlerweile

bereits Beschwerden erhoben, Beschwerden, die heute bis vor

Bundesgericht weitergezogen werden können.

      Bundesanwalt Hans Walder sieht allerdings vorläufig keinen

Grund zum Kurswechsel. „Als unzüchtig gelten Schriften,

die in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Anstandsgefühl

in geschlechtlichen Dingen verstossen.“ Dabei ist er sich

zwar bewusst, dass den Zöllnern nur ein Bruchteil der eingeführten

Porno-Literatur in die Hände fällt. „Wir bekommen nur noch

Belegexemplare.“ Immerhin, am nächsten Mittwoch wollen er und

Rudolf Riesen, der Generalsekretär des Justiz- und

Polizeidepartements, sich mit einer Delegation der empörten

Buchhändler und Verleger an einen Tisch setzen. „Im

Grunde kommt die ganze Entwicklung in Bern gegenüber anderen Ländern zehn oder fünfzehn Jahre hintennach“, erklärt Peter

Oprecht, Sekretär des Buchhändler- und Verlegervereins,

auf Anfrage lakonisch.

      Denn „das Privatleben“, so hatte der 1968 verstorbene

hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer es einmal formuliert,

„sollte nicht gegängelt, die Intimsphäre nicht beeinträchtigt

werden. Öffnen wir nicht Ventile für eine angestaute Sexualität,

so dürfen wir uns nicht wundern, dass sie auf Sexualbetätigungen

mit Kindern, auf Notzucht und andere Gewaltakte, ja auf

Sexualmord ausweicht“.


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