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PARADEPLATZ
Fritz Hirzel, Paradeplatz, Magazin, TagesAnzeiger,
Zürich, 26. Juni 1982. Die Schweizerische Kreditanstalt
nennt sich heute Credit Suisse, Bankverein
und Bankgesellschaft sind in der UBS aufgegangen.
Ich habe, eingezwängt in die Uniform einer Wach- und
Schliessgesellschaft, den Paradeplatz in den Sommermonaten 1967
Nacht für Nacht abgeklappert.
Die Stunden, in denen ich auf einsamer Tour die Büros,
die Schalterhallen und Hintertreppen zu begehen hatte,
waren warm, sommernächtlich verführerisch, was ich intensiver empfand als ohnehin, weil Andrea, meine Freundin, sich
von mir abgewandt hatte. Ich war 21 Jahre alt, abgebrannt,
ohne Schul- und Lehrabschluss, und musste trotz Hochkonjunktur
froh sein, in einem Mansardenzimmer in Aussersihl logieren
zu können. Aber stets, wenn ich nachts in den modernen Büros
einer Privatbank noch einen Prokuristen vorfand, wurde ich
als Student angesprochen. Die Angestellten der Citywelt glaubten
zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten; sie fragten nie.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich abends um neun oder zehn
begann, mit der Stechuhr die Runden zu drehen, ich
erinnere mich aber, wie beängstigend rasch sich Nacht für Nacht
der Rest von Leben am Paradeplatz verflüchtigte.
Durch die Hintertür, halb zwischen Abfalltonnen, drang
aus dem Nightclub ein Stimmengewirr, ein Lichtgefunkel.
La Puce: faszinierend, dieses Geschäker, Männer und Frauen,
Gläser in der Hand, welch eine Menschentraube an der Theke!
Es schien mir, als sei dies, bevor die Einsamkeit der Nacht
die Stunden endlos zu verlängern drohte, ein letzter Blick aufs
Leben, aufs vergnügte, die Erinnerung an ein Fortkommen
mit leichtverdientem Geld, das erst gesellschaftsfähig machte.
Ich erinnere mich an den Paradeplatz
in den ersten, kühl gewordenen Morgenstunden –
menschenleer, wie ein Hohlraum, künstlich ausgeleuchtet, ohne
dass ein Schatten sich übers Pflaster bewegt hätte. ich
erinnere mich an den muffigen, süsslich abgestandenen Geruch
der Aktenpapiere, die vergilbt und dürr unter dem Dachgebälk
im Altbau der Kantonalbank gestapelt waren. Mein Gott, wie hätte
das gebrannt! Ich erinnere mich an die Häuser, vor denen ich
den Schlüsselbund zu ziehen hatte, ans Treppenhaus
bei Sprüngli, an die Arbeitsräume der Confiseure im Hinterhof,
an Neuville und Seilaz, den Coiffeursalon, an die vor
die Tür zu stellenden Kehrichtkübel, überquellend mit halbleeren
Shampooflaschen, deren Flüssigkeit sich mit Haarresten
vermengt hatte.
Seltsam, wie diese Häuser mir fremd waren, fremd und
doch nah. Ich erinnere mich an die Elsässer Bank, an ihr
konservativ stilisiertes Interieur, ans Holz der Inneneinrichtung,
an den Stahltresor im Keller: So haben Banken ausgesehen
in amerikanischen Gangsterfilmen. Eines Morgens war es dann
soweit. Früh um fünf, als ich zum dritten Mal aus der
Tagblatt-Filiale auf die Strasse treten wollte, standen dort
zwei Männer neben einem dritten, Zivilpolizisten, die
ratlos mit dem Geschäftsinhaber ein Schaufenster betrachteten.
Nein, ich hätte nichts gesehen! Erst jetzt bemerkte ich,
dass im Laden nebenan, der nicht zu meinen Anlaufstellen
gehörte, das Juwelierfenster ausgeräumt worden war.
Vor allem erinnere ich mich an eine
Insel, die es nicht mehr gibt, an eine von Geld und Adel
eingenommene Insel, deren Eigentümer an einer kapitalistischen
Nutzung dieses Grundstücks nicht interessiert zu sein schien.
Ein paar Schritte vom Paradeplatz entfernt, jedes Mal kam es mir
vor wie der Eintritt in eine andere Welt, hatte ich die
Oase der Bodmerhäuser zu betreten. Aufzuschliessen war,
nachts um halb eins gewöhnlich, ein Eisengitter, hinter
dem sich seitlich ein Gebüsch befand. Daraus starrten funkelnd
zwei Augen, aus dem Blattwerk fauchte feindselig eine
Katze, bis sie mit einem Satz heraussprang und davonjagte.
Abzuschreiten war ein Innenhof mit gepflegtem
Rasenpark, mit Brunnen und Bäumen, umgeben von Wohnhäusern eines feudalen Stadtsitzes.
Dies alles ist Vergangenheit. Inzwischen hat die City
auch die letzte Insel sich einverleibt, die Oase der Bodmerhäuser
ist verschwunden. Eine der grössten Beethoven-Sammlungen
– das habe ich damals nicht gewusst – soll sich darin befunden
haben. Denkmalschutz als Alibi: Nachdem die Wohnwelt
des Patriziers zerstört war, liess die Stadt eines der Häuser wie
einen Campingwagen über die Strasse rollen und dort
auf Kosten der öffentlichen Hand als Wohnmuseum herrichten.
Paradeplatz 1967. Beobachtungen
von einem, der nicht dazugehört. Das war im Jahr, bevor
Demonstranten sich auf die Tramschienen setzten, um gegen
den Vietnamkrieg zu protestieren, mit Plakaten von Mao,
von Ho Chi Minh. Paradeplatz 1968. Damals war das Pflaster
noch nicht zu einer Piazza umgestaltet worden, noch gab
es die Fussgängerzone nicht, noch standen keine weissen
Tischchen, keine weissen Stühle für Touristen vor der
Schweizerischen Kreditanstalt. Inzwischen habe ich vergessen,
in welchem Jahr die Bahnhofstrasse für den Autoverkehr
gesperrt wurde, ich erinnere mich aber an die Schlagzeile, mit
der Die Tat am Vorabend die verkehrspolitische Massnahme kommentiert hatte. Ein Chaos wurde in dicken Lettern
prophezeit, aber nichts ist geschehen.
Paradeplatz 1982. Piazzastimmung eher für die Kundschaft
aus dem Ausland als für die Trambenutzer, das Strassenbild
ist scheinbar locker, auf dem Trottoir trippelt die ergraute
Fauna der Geldschickeria, massiert warten auf der Traminsel
Angestellte nach Büroschluss drauf, aus der City
wegzukommen. Freilich, das Flair einer Piazza trügt, alles
Styling und Design hilft nichts. Im Grunde genommen
ist der Paradeplatz, zumindest in seinem alltäglichen Bild, kein
Ort urbaner Öffentlichkeit, kein Schauplatz.
Wenn ich weine“, sagte Gottlieb
Duttweiler, „dann nicht im stillen Kämmerlein, sondern auf dem Paradeplatz.“
Das war 1939, als Die Tat noch in den Räumen der
Alten Universität produziert wurde, an der St.-Peter-Strasse 10,
hinter dem Gebäude von Seiden Grieder und Bank Leu,
wo sie über die Rotationsmaschinen der eingestellten Zürcher
Post lief. Duttweiler, der Migros-Gründer, der Politiker des
sozialen Kapitals: Was hat er am Paradeplatz, im Machtbezirk
der Finanzwelt, gewollt? Zwei Jahre später, 1941, zog
er mit der Tat in den Kreis 5 um. Es war der Limmatplatz, den
er eroberte, nicht der Paradeplatz.
Sie haben seine Tränen nicht gewollt.
Vierundzwanzigster Dezember 1980.
In der geschlossenen Schweizerischen Kreditanstalt,
oben in den Direktionsgemächern, ist am Fenster ein Mann,
ein Koloss, zu sehen, der zugleich telefoniert und zur
Bahnhofstrasse herabspäht, wo an diesem Samstagnachmittag
alles voller Menschen ist, die sich demonstrierend Richtung
Hauptbahnhof bewegen. Die Polizei hält sich in Bereitschaft,
verdutzte Passanten, letzte Einkäufe zu Weihnachten unter dem
Arm, machen sich davon. Es sind einige tausend
Demonstranten, welche die Polizei kurz darauf vor dem AJZ
im Hagel von Gummigeschossen, Wasserwerfern und
Tränengas auseinandersprengt. Am Paradeplatz, es ist abends
um halb fünf, warten nach Geschäftsschluss die Verkäuferinnen,
die mit dem Tram nach Hause wollen. Versprengte
Demonstranten fliehen die Bahnhofstrasse hinunter, nachrückende
Polizei nebelt die Traminsel mit Tränengas ein, eine Dusche
trifft die Wartenden, Panik greift um sich.
Paradeplatz, Weihnachten 1980.
Erfahrungen derer, die nicht
dazugehören: Sind sie, was das Kardiogramm des Paradeplatzes
angeht, von Interesse? Andererseits: Wer gehört schon
dazu? Ein Mann der Direktionsetagen: Was hätte er zu sagen,
wenn er reden wollte?
Ende der Siebzigerjahre, Besuch bei Dr. Stüssi im ersten
Stock beim Schweizerischen Bankverein: Zeit der
Terroristenfahndung, ich wundere mich, dass mein Tonbandgerät
vom Portier nicht kontrolliert wurde. Dr. Stüssi, hatte ich
auf einem Zettel stehen, war Direktor, einer der Direktoren beim
SBV. Es ging um ein Radiointerview, der Bankverein war
mit einer Publikumsaktion zugunsten von Museen aufgetreten,
Kultur als Imagewerbung. Ein helles, um nicht zu sagen
weisses Büro; an die objets d‘art kann ich mich nicht erinnern,
nur an das nostalgische Relikt einer Trämlermütze,
die Dr. Stüssi bei einem Strassenfest bekommen haben will.
Und dann, nachdem ich das Tonbandgerät abgestellt
hatte, Geplauder bei einem Blick hinab auf den Paradeplatz,
dessen Umbau abgeschlossen war. Die Piazza, von
der Direktionsetage aus besehen: Dr. Stüssi lobte das Heitere,
Leichte, Mediterrane, nahezu ins Schwärmen geriet
er. Einer, der zeigen wollte, dass ihm der neue Platz gefiel?
Er erzählte vom Strassenfest auf dem Paradeplatz,
ich versuchte mir das vorzustellen. Der Bankdirektor mit der
Trämlermütze. Es gelang mir nicht.
Welches sind die Machtfragen,
die sich am Paradeplatz, in der Männerwelt der Direktionsetagen,
stellen? Die Hierarchie an der Spitze einer Grossbank:
Wie etabliert sie sich, was hält sie aufrecht, wodurch kommt sie
zu Fall? Was geht zwischen den Beteiligten vor, wenn
hinter verschlossener Tür verhandelt wird?
Versuchen wir, und sei es aus Distanz, ein Schielen
in die Karten derer, die dazugehören.
Paradeplatz 1977.
Dr. Rudolf R. Sprüngli, Präsident und Delegierter des
Verwaltungsrats der Chocoladenfabriken Lindt & Sprüngli AG
in Kilchberg, gehörte dazu. Am Paradeplatz, im Sitzungssaal
der Schweizerischen Kreditanstalt, war er jedenfalls kein
unvertrauter Gast. Dr. Sprüngli gehörte dem Verwaltungsrat der
Grossbank an, mehr noch: Er gehörte, um es einmal so zu
sagen, zum inneren Zirkel des Verwaltungsrats.
Zumindest 1977.
Anfang Mai, als es über Nacht darum ging, den
SKA-Texon-Skandal firmenintern zu bereinigen, war Dr. Sprüngli
Mitglied der fünfköpfigen Sonderkommission.
Dieser Sonderkommission, die halb als Untersuchungsorgan,
halb als Krisenstab diente, gehörten fünf Männer an, ein
Viertel der durchwegs männlichen Verwaltungsratsmitglieder.
Neben Dr. Sprüngli waren dies folgende Persönlichkeiten:
Dr. Max E. Eisenring, Präsident des Verwaltungsrats
der Schweizerischen Rückversicherung-Gesellschaft, Zürich,
Dr. E. Luk Keller, Präsident des Verwaltungsrats der
Eduard A. Keller & Co. AG, Zürich, und Peter Schmidheiny,
Präsident des Verwaltungsrats der Escher Wyss AG,
Zürich, letztere beide seit 22 respektive 27 Jahren
Verwaltungsräte der SKA.
Als fünfter Mann gesellte sich zu diesem Gremium ein
ehemaliger Generaldirektor der Bank: der inzwischen
gestorbene Dr. Eberhard Reinhardt, welcher bis Frühjahr 1973
als Präsident des SKA-Generaldirektion amtiert hatte.
Dr. Eberhard Reinhardt gehörte
dazu, obwohl er es gewesen war, den ein Jahrzehnt
zuvor ein Mann der Konkurrenz, Dr. Alfred Schaefer, Präsident
der Generaldirektion der Schweizerischen Bankgesellschaft,
gewarnt hatte, dass in Chiasso einmal eine Bombe
platzen würde.
Ein Jahr später, 1969, als Dr. Reinhardt noch die
Generaldirektion der SKA präsidierte, musste die
Filiale Chiasso, nachdem Steuerfahnder der Bundesverwaltung
gegen sie ermittelt hatten, eine halbe Million Franken
Verrechnungssteuer nachzahlen. Die eidgenössische
Steuerbehörde hatte festgestellt, dass die Texon eine fiktive
Konstruktion sei, um Steuern zu umgehen.
Doch 1977, als in Zürich, am Hauptsitz, die
Verantwortlichkeiten zu klären waren, gehörte Dr. Reinhardt
interessanterweise nicht zu den Verantwortlichen,
die in den Ausstand zu treten hatten, sondern zu den
Ermittelnden der Sonderkommission. Der SKA waren durch
die Texon inzwischen Verluste entstanden, die von
der Geschäftsleitung zunächst mit 250 Millionen, zuletzt aber
mit 1,2 Milliarden Franken angegeben werden sollten.
In Chiasso, wo die Fluchtgelder über die SKA an die
Texon gegangen waren, hatte die Polizei die Direktoren der
Filiale verhaftet; sie sollten der Veruntreuung,
Urkundenfälschung und Gewinnsucht angeklagt werden.
In Zürich wurde unterdessen ausgemacht,
wer am Hauptsitz über die Klinge zu springen hatte.
Acht Tage, nachdem die
Sonderkommission sich konstituiert hatte, musste Dr. Heinz R.
Wuffli, Präsident der Generaldirektion der SKA, zurücktreten.
Ganze vierzig Tage war er Präsident gewesen.
Dr. Wuffli, von 1973 bis 1976 in der Generaldirektion
für Chiasso zuständig, anerkannte in seinem Demissionsschreiben
die formale Verantwortung und bezeichnete, nachdem Art
und Umfang der Machenschaften der Filialleitung klar geworden
waren, seinen Schritt als unausweichlich.
Anscheinend war er sich aber, was die ihm zugedachte
Rolle als „Opfer-Kopf“ anging, bereits damals nicht ganz so sicher.
Hauptvorwurf der Sonderkommission: Mehr als ein
Jahr, bevor der SKA-Texon-Skandal aufgeflogen sei, habe
am 14. Januar 1976 Philippe de Weck, seinerzeit
Generaldirektor der Schweizerischen Bankgesellschaft, ihn
aufgesucht. Der Besuch, hielt die Sonderkommission
fest, habe einzig den Zweck gehabt, Wuffli auf die gefährlichen
Geschäftspraktiken der Filiale aufmerksam zu machen.
Bei dieser Gelegenheit habe ihm de Weck die Kopie einer
Kaution für Kundengelder vorgelegt, die an Texon
gegangen seien.
Bereits 1969 war an die Filiale in Chiasso die Aufforderung
ergangen, keine Transaktionen in der beanstandeten
Art mehr durchzuführen.
Macht am Paradeplatz,
Krisenmanagement im Sitzungssaal, Entscheidungsgewalt
der Verwaltungsräte: Wie wird das gehandhabt, mit
welchen Rationalisierungen, mit welchem Anteil an Verdrängung?
Werden Entscheidungen, wenn es um personelle Machtfragen
geht, im kleinen Zirkel abgekartet?
Wufflis Rücktritt, bleibt zu vermuten, sind einige Winkelzüge vorangegangen. Sonst hätte der Entlassene kaum 1979, in
Chiasso vor Gericht, so manches anzudeuten gehabt.
Insbesondere meinte er, Dr. Reinhardt trage selbst eine
formale Verantwortung für Chiasso; in der Sonderkommission des
Verwaltungsrats habe er aus Selbstschutz die Warnung
de Wecks hochgespielt, weil er kein Interesse daran gehabt
habe, „seine Verantwortung von 1969 und vorher zu
betonen“. Korrekterweise, sagte Dr. Wuffli als Zeuge aus, hätte
eine externe Kommission mit der Untersuchung beauftragt
werden müssen. Bei einer Untersuchung durch eigene
Verwaltungsräte spielten Emotionen mit. Er sei als Präsident
der Generaldirektion erst als letzter einvernommen
worden; Gegenüberstellungen habe es bei den Ermittlungen
keine gegeben. Daraus habe er schliessen müssen,
dass die Vertrauensbasis nicht mehr intakt sei.
Zuletzt, als der Präsident des Verwaltungsrats, Dr. Oswald
Aeppli, den man wie ihn kurz zuvor erst gewählt hatte,
vorgängig noch „unter Denkmalschutz“ gestellt worden sei, indem
die Sonderkommission ihn bereits am 6. Mai 1977 entlastet
habe, sei seine Stellung als Chef der Geschäftsleitung
„unmöglich“ geworden.
Kein anderer als Dr. Aeppli sollte
es sein, der am 24. Juni 1977 vor den 3000 Aktionären
in einer der Züspa-Hallen das Hauptreferat der ausserordentlichen Generalversammlung zu halten hatte, die mit dem einzigen
Traktandum „Orientierung über die Angelegenheit Chiasso“ einzuberufen war. Daraus wurde eine von den Zeitungen als Show
apostrophierte Veranstaltung, bei der die Werbeagentur Dr.
Rudolf Farner den Kopf des Redners hinter dem Podest
auf eine Grossleinwand projizieren liess.
Aeppli war durch den SKA-Texon-Skandal zu seinem
grössten Auftritt gekommen.
Doch zwei Jahre später, als Wuffli in Chiasso vor Gericht als
Zeuge aufzutreten hatte, beschuldigte er denselben Dr.
Aeppli, „seinen Anteil an der Verantwortung verdrängt zu haben“.
Von ihm hatte er zu reden angefangen, als die Frage auf
die Untersuchung gekommen war, welche die Eidgenössische Steuerverwaltung 1968-69 in Chiasso durchgeführt hatte.
Aeppli sei ab 4. März 1969 auch für die Steuerabteilung
verantwortlich gewesen, er hätte sofort nach seinem Amtsantritt
in Chiasso eine Revision durchführen sollen. Ein
Rundschreiben über die Behandlung von Treuhand-Festgeldern,
das Aeppli 1970 mitunterzeichnet habe, weise auf dessen
Kenntnis der damaligen Ereignisse hin. Damals, meinte Wuffli,
der Zeuge, habe eine Chance zur Aufdeckung der Texon bestanden.
Wollte jemand das mit noblem
Steinquader ausgelegte Parkett der Bahnhofstrasse
aufreissen, er könnte allenfalls auf ein aus Kloakendreck herauszuschälendes Stück Stadtbefestigung stossen.
Das Gebiet der Bahnhofstrasse, noch in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts Teil der Ringmauer, hatte
nicht von ungefähr Fröschengraben geheissen. Es war nichts
als ein Tümpel, in welchem „in des Wassers oder
vielmehr Schlammes tief unterstem Grund Wassermolche
schwammen und krabbelten und Frösche quakten“,
wie ein Lehrer sich 1883 nostalgisch erinnerte. Erst 1865, mit
dem Bau der Bahnhofstrasse, konnte die Stadtverwaltung
sich entschliessen, den Platz vor dem Hotel Savoy Paradeplatz
zu nennen. Der Name war, wenn wir vom Areal ausgehen,
ein Stück verklärter, militärischer Erinnerung, mehr nicht. Auf
seinem Kiesgrund mochten die Rekruten der Zürcher
Truppen exerziert haben, als Zeughaus und Kaserne noch an der
Stelle zu finden waren, wo die zwei Grossbanken
entstanden. „Säumärt“ hatte der Platz im achtzehnten
Jahrhundert geheissen, genau das, der Standort
für den Schweinemarkt, war der Paradeplatz gewesen.
Paradeplatz, ein Rechenexempel:
85 000 Franken bezahlte die Schweizerische
Kreditanstalt 1871 der öffentlichen Hand für das Grundstück,
auf dem sie am Paradeplatz ihren Hauptsitz erbauen wollte.
Der Bau der unterirdischen Toilette am Paradeplatz
kostete 1897 die öffentliche Hand 41 000 Franken.
Heute wird das Grundstück der Schweizerischen
Kreditanstalt (bei einem Quadratmeterpreis von 35 000 Franken)
auf 175 Millionen geschätzt. An der Bahnhofstrasse sind
allerdings für den Quadratmeter schon bis zu 70 000 Franken
bezahlt worden.
Frage: Was haben Neu- und Umbauten der unterirdischen
Toilette bis heute die öffentliche Hand gekostet?
1873 begann am Paradeplatz
die Schweizerische Kreditanstalt zu bauen.
Der Bau müsse, forderte Dr. Alfred Escher von seinem
Architekten, Friedrich Wanner, der Stadt Zürich ebenso zu Zierde
und Ehre gereichen wie dessen Hauptbahnhof.
Escher, die zentrale Figur des liberalistischen Systems,
sprach als Präsident des Verwaltungsrats der SKA.
Dass er Hauptbahnhof und Kreditanstalt in einem Zug nannte,
war für ihn bezeichnend, wenn nicht zwingend: nicht
nur, dass Wanner eben mit dem Hauptbahnhof fertig geworden
war, für Escher hatten sich Bankgeschäft und Eisenbahnbau
sosehr verfilzt, dass er das eine tatsächlich am anderen messen
musste.
1848, als es in Bern galt eine auf bürgerlich-kapitalistische
Interessen ausgerichtete Bundesverfassung einzubringen,
war Escher, 29-jährig, in den Nationalrat gekommen, war sogleich
Vizepräsident, im Jahr darauf Präsident geworden. Drei
Jahre später, 1852, hatte er durchgesetzt, dass der Eisenbahnbau
privatwirtschaftlich zu erfolgen hatte.
Um solche Projekte zu realisieren, brauche es „nicht bloss
Lokomotiven, sondern auch Dampfmaschinen des
Kredits“, hatte 1856, als die SKA gegründet wurde, die
Schweizerische Handels- und Gewerbezeitung
geschrieben.
Sogar der Neubau des Hauptbahnhofs
sollte an den Paradeplatz zu stehen kommen.
Erst, als die Stadtbehörden 1854 diesen von Ingenieuren
der Nordostbahn, lies Escher, vorgestellten Plan verwarf,
nahm in Zürich die Stadtplanung konkrete Gestalt an. Trotzdem
war es 1860 Escher, der im Baukollegium den Vorsitz führte,
als der Generalplan für Zürich erstellt wurde.
Fünf Jahre später, 1865, war die als Lindenallee gestaltete
Bahnhofstrasse fertig, Bollwerk und Stadtmauer abgetragen, der Fröschengraben zugeschüttet. Die Bauarbeiten für den
neuen Hauptbahnhof hatten soeben begonnen.
1872, ein Jahr, nachdem der Hauptbahnhof eröffnet worden
war, lag der Vertrag zum Bau des Gotthardtunnels auf
dem Tisch. Bis zu Bismarck waren sie gereist, um das Kapital
zusammenzubekommen.
Dabei hatte Escher sich verspekuliert.
Der Gotthardtunnel kostete mehr, als er budgetiert hatte. Sein Interessenkonflikt zwang ihn 1877, als Verwaltungsratspräsident
der SKA zurückzutreten. 20 Millionen Bundessubventionen
wurden davon abhängig gemacht, dass er auch das Präsidium
der Gotthardbahn abgebe.
Eschers Fall, auch das gehört zum Paradeplatz:
Verbittert teilte er Bundesrat Welti mit, man wäre ihm „die
Genugtuung schuldig gewesen“, ihn nach diesem
taktischen Rücktritt erneut in den Verwaltungsrat zu wählen,
man habe an ihm „ein Unrecht“ begangen, er sei
„politischem Hasse, persönlicher Eifersucht und gekränktem
Ehrgeize“ zum Opfer gefallen.
In Zürich waren die Liberalen zu Fall gebracht, das
Winterthurer Establishment, die Demokraten, in die Regierung
geholt worden, die den Liberalen „Feudalismus der
Geldaristokratie“, „Triumph der Eigensucht“, „Ausbeutung“,
„Hofschranzentum“ und „Enrichissez–vous!“
vorgeworfen hatten.
Escher, als „Alfred I.“ verspottet, als „Züri-Herrgott“,
karikiert als Löwe mit Krone und Zepter, als „Zar aller Zürcher
und Hauptstadtdrahtzieher des grossen Automatenkabinetts
im schweizerischen Athen“, sass bettlägerig im Belvoir, das ihm
sein Vater, der durch Landspekulation in Nordamerika
Millionär geworden war, hinterlassen hatte, und liess sich die
Karfunkel pflegen.
Zwölfter August 1975.
Unübersehbar die Menschenmenge, die vor dem Hotel Savoy
zum Eingang drängte. Bis auf die Strasse stand das
Volk, einige hundert Köpfe, sich unter das Storenvordach
stauend, unter dem die Glastür zugesperrt zu sein
schien. Ein Ekel mit Schlapphut wühlte sich in die Anstehenden
rücksichtslos hinein, sodass er für Augenblicke in der
Menge verschwand. Ich stand noch am Rand der Ansammlung,
schon hatte er sich um einige Körperschichten in den
Knäuel vorgezwängt.
„So hört doch auf zu drücken, seid doch vernünftig!“ rief
ein Mann im Regenmantel, der sich die Stirne tupfte.
„Das ist gar nichts“, lachte der Schüler, der an seiner Seite
klebte. „Bei der herrschaftlichen Villa das letzte Mal,
da haben sie zwei Tage vorher auf der Strasse campiert.“
Kaum bekamen die Nachrückenden den Eingang zu sehen,
pressten sie noch ungestümer gegen ihre Vorderleute.
Ein Ordnungshüter war an der Türe postiert. Er öffnete einen
Spalt. Sogleich verstärkten die Hinteren den Druck, als
wollten sie den Einlass mit Gewalt beschleunigen.
Eine Frau mit wabbeliger Fülle
presste sich an mich und tat sich hervor in ihrem
Drang, als könnte sie von der körperlichen Enge nicht genug
bekommen.
Unter den Vordersten schlug ein Mann vor Platznot
um sich, ein anderer hielt über dem Kopf die Faust, die er gerade
erst befreit hatte.
Wieder öffnete der Ordnungshüter die Türe. Einige der
Vordersten wurden im Ansturm zur Seite abgedrängt, wobei sie
in ihrer Gegenwehr das Plakat zu Boden rissen, das am
Eingang gehangen hatte.
„Heute Total-Liquidation.“ Ich wurde auf die Glastür
zugetragen, festgeklemmt zwischen dem Mann im Regenmantel,
der wabbeligen Frau und einer Mutter mit schreiendem
Kind.
„Vergessen Sie ihre gute Kinderstube nicht, meine
Damen und Herren“, sagte der Ordnungshüter, nachdem er
eingelassen hatte.
Ich ging die illustre Treppe hinauf,
um in die Beletage zu kommen. Auf dem Absatz kniete
ein Mann, der zwischen den Vorbeihastenden den Treppenläufer
in Sicherheit zu bringen suchte.
Ein Angestellter des Liquidators kam auf ihn zugeeilt.
„Was machen Sie denn da mit dem Teppich? Der ist doch schon
gekauft.“
„Ja“, raunzte der Mann. „Von mir.“ Er wischte sich den
Schweiss von der Stirn.
„Ach, Sie sind das.“
Eine Dame trat mit der Handtasche hinzu.
„Jaja“, bestätigte sie. „Der gehört mir.“
Entgeistert hielt der Angestellte einen Augenblick lang inne.
„Sie glauben gar nicht, da gibt es Leute, die nehmen
ohne zu bezahlen einfach alles mit.“
Ich durchquerte verschiedene Säle und Salons und kam
in einen Raum, wo sich Dessertteller, Silberbesteck und
Porzellangeschirr stapelten. Eine Frau im Rentenalter war auf
ein Polstermöbel geklettert und bemühte sich ohne Erfolg,
den Vorhang vom Fenster zu nehmen.
Da war der Mann im Regenmantel wieder.
Er stocherte mit einem Schraubenzieher am Louis-XV-Spiegel
herum, als sei der Rahmen blattvergoldet.
Zwei Herren stritten sich mit
der Zähigkeit von Buchhaltern um eine Broncevase, auf der ein
chinesischer Drache abgebildet war.
In der Küche strahlten drei Kippkessel im Chromstahl.
Über eine Wendeltreppe erreichte ich die Korridore
im zweiten Stock. In einem der Gästezimmer hatte ein Ehepaar
in mittleren Jahren sich installiert. Sie sass auf dem Bett,
er hatte sich in den Fauteuil aus schwarzem Leder geworfen.
Eine Familie, die einen Deckenleuchter aus Messing
und Stühle mit sich führte, harrte vor dem Lift aus.
„Jemand“, sagte die Dame mit der Handtasche, deren Mann
auf der Schulter den Läufer trug, „soll dreissig Zimmer
gewollt haben. Ich weiss nicht, ob er sie bekommen hat.“
Ich entfloh dem überladenen Lift im obersten Stock.
Zwei Herren, gekleidet in der
unauffälligen Sorgfalt, mit der Kaderleute einer Grossbank
aufzutreten pflegen, standen am Fenster.
Sie schauten über die Dächer der Altstadt.
„Haben wir es schon?“ fragte der jüngere Herr.
„Nein, noch nicht. Am Donnerstag kommt es aus. Natürlich
können wir es haben, wenn ich mehr biete.“
Der jüngere Herr hielt seinen Blick auf eine Gruppe von
Häusern gerichtet.
„Ja, welches?“ Er versuchte mit der Hand zu zeigen.
„Nein, nicht das.“ Sein Kollege machte sich ein Vergnügen
daraus ihn raten zu lassen.
„Das weisse dort, das mit dem flachen Dach?“
„Ja, richtig.“
In einer Nische entdeckte ich die
Holztreppe, die zu den Gesindekammern führte. In niedrigen,
engen, von Dachbalken abgeschrägten Mansarden
waren die Schlafstellen der Kellner und Zimmermädchen
untergebracht, vollgestopft mit Kommoden, Kästen
und Bettgestellen aus altem sperrigem Holz. Die Waschanlage,
ein anrüchig langer leerer Trog; auf dem Rost eine liegen
gebliebene italienische Illustrierte. In der Schneiderei stand
eine Nähmaschine mit Fusspedal vor dunklen, mit
Kleiderbügelhaufen überdeckten Holztischen. Mit Kreide war auf
dem Mobiliar der Kaufpreis geschrieben, aber kein Mensch
war hier zu sehen, ein Käufer noch weniger. Draussen, auf der
Blechdachzinne, fand ich einen Steg, der ins Nebenhaus,
zur Wäscherei hinüberführte.
Neunter November 1918. Generalstreik
in der Schweiz, Samstagmorgen. Seit sieben Uhr früh, heisst
es, blockierten Streikende am Paradeplatz den Tramverkehr. Die
Leute stauen sich, eine Menschenmenge hat sich
angesammelt. Zum Teil stossen Neugierige hinzu, zum Teil
Leute, die ihren täglichen Geschäften nachgehen. In der
vergangenen Nacht, wird erzählt, seien die Banken militärisch
besetzt worden. Infanterieabteilungen stehen in der
Stadt im Einsatz, die Kavallerie rückt aus. Um halb neun versucht
die Infanterie erfolglos den Paradeplatz zu räumen. Die
Menge empfängt sie mit Pfiffen, leistet Widerstand statt sich
zurückdrängen zu lassen, beginnt gar die „Internationale“
anzustimmen. Kavalleristen hauen vom Ross herunter mit dem
Säbel im Gewühl auf Leute ein. Um zehn Uhr sind
plötzlich Schüsse zu hören, die Menschen fliehen in Panik
auseinander. Vor dem Eingang zum Bankverein ist
ein Maschinengewehr aufgestellt, alle Eingänge sind abgesperrt.
Im Sperrsatz meldet die Neue Zürcher Zeitung
gleichentags: „Jeder Neugierige ist ein Demonstrant.“
Paradeplatz, Generalstreik 1918.
Hotel Savoy, ein Nachtrag:
Die Savoy Hotel Baur en Ville AG, deren Grundstück auf
mindestens 58 Millionen Franken geschätzt wird, befindet
sich zu 85 Prozent im Besitz der Schweizerischen
Kreditanstalt.
Das Savoy war das erste vornehme Hotel der Stadt,
als es am Weihnachtstag 1838 vom Hotelier Johannes Baur
eröffnet wurde.
Auch heute ein Fünf-Stern-Hotel.
Oktober 1929. Während an der New
Yorker Börse die Aktienkurse ins Bodenlose fallen und
berittene Polizei eine hysterisch reagierende Menge aus der
Wall Street vertreibt, sind in Zürich die Bauarbeiten für
den Neubau der Börse am Bleicherweg in vollem Gange.
Baukosten: Fünf Millionen Franken.
Handelskammer und Kanton Zürich sind hälftig am
Aktienkapital beteiligt.
Erste Börsensitzung: Vierter August 1930.
Weltwirtschaftskrise. Zu Beginn der Dreissigerjahre fallen die Aktienkurse in Zürich auf ihren Tiefststand. Die Mietzinse,
die für Lokalitäten im Börsengebäude zu bezahlen sind, werden
um die Hälfte reduziert. Das Grossrestaurant, mit mehr
als tausend Sitzplätzen im Parterre des Neubaus eröffnet, ist
gähnend leer.
Bis 1942 vergrössert sich der Einnahmenausfall
der Aktiengesellschaft sosehr, dass der Kanton Zürich das Börsengebäude ganz übernehmen muss.
Seiden-Grieder, Hausbrevier:
„Für das Betreten der Verkaufsräume hat unser Personal
Strümpfe zu tragen.“
„Betrachten Sie jeden Kunden als einen Gast des Hauses.“
„Wir verlangen von unserem Personal, dass es sich
im Geschäft ausnahmslos mit SIE anspricht.“
„Für die Arbeitspause steht Ihnen der Personalaufenthaltsraum
bzw. das Personalrestaurant zur Verfügung. Ein Verlassen
des Geschäfts während dieser Pausen kann indessen nicht
erlaubt werden.“
Aus: Hausbrevier der Firma Grieder & Cie. AG, Ausgabe 1964.
Grieder Les Boutiques, Brunschwig & Cie, Modehaus,
befindet sich an der Bahnhofstrasse 30. Die Liegenschaft ist
im Besitz der Peterhof AG, Immobiliengesellschaft, Zürich,
die der Schweizerischen Kreditanstalt gehört.
Der Peterhof ist 1913 eröffnet worden. Zu Beginn der
Achtzigerjahre wird der Wert des Grundstücks auf minimal 66
Millionen Franken geschätzt.
Noch gehört am Paradeplatz nicht
restlos alles den Banken: Das Sprünglihaus, 1859 vom
Zuckerbäcker David Sprüngli eröffnet, befindet sich im Besitz
von Richard Sprüngli, der in Rüschlikon wohnhaft ist.
Sprüngli, der Konditormeister, amtet nicht nur als
Verwaltungsratspräsident der Confiserie Sprüngli AG, sondern
auch der Zürcher Immobiliengesellschaften Fedmatt
und zum Baumgarten. Zudem ist er Mitglied der Aktion Freiheit
und Verantwortung, unter deren Namen Dr. Rudolf Farner
dubiose Zeitungsinserate in die Welt setzt.
Das Grundstück des Sprünglihauses wird auf mindestens 15
Millionen Franken geschätzt.
Dezember 1939. Markttag vor der
Nationalbank, eine ungewöhnliche Foto: verlassene
Stände, ein Fuhrwerk ist zu sehen, die Strasse, der Platz,
menschenleer alles, überstürzt verlassen. Nur ein
Pferd, ein angebundenes, steht noch da. Und am Bildrand ist
ein Polizeibeamter zu erkennen.
Fliegeralarm-Übung, Paradeplatz 1939.
Es ist, als sei die Sirene zu hören.
Bereits waren aus den Tresoranlagen der Schweizerischen
Kreditanstalt in der Nacht zum zwölften November mit
einem Dutzend schwerer Lastwagen Titel im Gewicht von 75 000
kg und 3 000 kg Gold nach Interlaken abtransportiert
worden. Dies, nachdem der Generalstab der Armee die
Evakuation sämtlicher Wertschriftenbestände ins
Landesinnere befohlen hatte, ins Reduit der militärischen
Verteidigung.
Ein täglicher Kurierdienst war eingerichtet worden,
um die Abwicklung des Geschäftsverkehrs trotzdem zu ermöglichen.
Der Schweizerische Bankverein hatte unter anderem
ein leerstehendes Hotel am Thunersee ausfindig gemacht, das
er als Depot für die zu evakuierenden Wertschriftenbestände
benutzte.
Damals, am zehnten Mai 1940,
als der Einmarsch deutscher Truppen in die Schweiz
angeblich bevorstand: waren die Bankhäuser am Paradeplatz
Fassaden, hinter denen es nichts zu holen gegeben
hätte?
Damals, am zehnten Mai 1940, hatten die Deutschen
ihren Angriff auf Frankreich begonnen. Der drohende Einmarsch
in die Schweiz war nichts als ein Täuschungsmanöver, mit
dem es galt, französische Streitkräfte jenseits der Juragrenzen
zu binden.
Noch einmal, Monate später, mietete die Kreditanstalt,
diesmal in Kandersteg, zusätzliche Räume, um das von ihr
evakuierte Material zu dezentralisieren.
Und dann? Frankreich war okkupiert, die Luftschlacht
über London hatte begonnen, der Dreimächtepakt
zwischen Deutschland, Italien und Japan war abgeschlossen,
da hob der Generalstab der Armee im Oktober 1940
den Evakuierungsbefehl auf, die verlagerten Effektendepots
konnten an den Paradeplatz zurückgebracht werden,
in die angestammten Depots.
Erst 1945, nach Kriegsende, als
die Alliierten Banken, die sich durch Geschäfte mit Deutschland
hervorgetan hatten, auf eine schwarze Liste setzten,
wurde die Frage gestellt, wenn auch nicht beantwortet, die
Frage, welche Rolle der Schweiz zugekommen sei
als Umschlagplatz für Devisen- und Goldtransaktionen.
Noch ein ungeschriebenes Kapitel in der Geschichte
des Paradeplatzes.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich
das äussere Bild des Paradeplatzes verändert.
Für den augenfälligsten Eingriff sorgte der Schweizerische
Bankverein, als er 1956 seinen Sitz am Paradeplatz
durch einen Neubau ersetzte. Es verschwand die Schalterhalle
mit Säulenempore und Treppenaufgängen, überragt
von der Statue der Helvetia, mit welcher das Gebäude 1899
eingeweiht worden war.
Zuletzt, Jahre, nachdem ich in der Uniform einer
Wach- und Schliessgesellschaft den Paradeplatz Nacht für Nacht
abgeklappert hatte, ist der Platz selbst, wie gesagt,
umgebaut, mit dem Design einer Piazza versehen worden.
Und mit ihm die unterirdische Toilette.
Ich weiss nicht, ob auch meine Nachfolger, wenn sie nachts
um zwölf die Toilette zusperren, noch den täglichen
Abfallsack mitzunehmen und auf die Strasse zu stellen haben.
Damals, 1967, war es noch ein Ochsnerkübel.
Auf dem blankgeputzten Tisch der Wärterin ist, vermute
ich, auch heute noch ein Stapel jener Illustrierten
zu finden, die mit Herzensgeschichten zwischen königlichen
Hoheiten aufwarten.
Über den Treppenabgang zum Pissoir hatte die
Stadtverwaltung einst den Satz schreiben lassen:
SAUBERKEIT SCHÜTZT VOR KRANKHEIT.
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