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DIE ERSTEN FELDER DER FREIHEIT
Fritz Hirzel, Die ersten Felder der Freiheit,
Magazin, TagesAnzeiger, Zürich, 1. November 1975
Nie habe ich den Schnee durchlebt wie in den Wintertagen
meiner Kindheit. Ich sehe die riesigen Haufen vor mir, die Strassen
und Trottoirs aufs Widersinnigste versperrten, mehr nicht als
ein Durchschlupf zwischen ihnen, durch den die Passanten sich
hüpfend auf die andere Seite retteten, für uns Gebirge, die
mit Eroberergeheul bestiegen werden mussten. Ja, wir konnten,
obwohl wir mitten in der Stadt zuhause waren, auf den
Skiern beinah vor die Haustür fahren, mit gefrorenen Fingern
die letzten hundert Meter heim zum Ofen taumeln, Briketts
auflegen. Und ich frage mich, während ich über der Tastatur der Schreibmaschine die Nacht belausche, wo dieser Kinderschnee geblieben ist, wo der verbotene Rasen des Stadtparks, durch
den ich gelaufen bin im Frühlingsregen, als ich zu spät zur Schule
kam. Ich frage mich, warum diese frühen Bilder, auftauchend
hinter den stummen Fakten eines Bewerbungsschreibens, von dem
ich weiss, dass ich es nie werde abschicken können, so viel
stärker sind als alles aus dem späteren Leben. Von keinem Anblick
kann ich sagen, er wirke stärker als der erste, gänzlich
ungewohnte, und sei er so bewusstlos aufgenommen worden wie
nur möglich. Kommt es daher, dass ich klein war damals und
alles um mich herum umso grösser, umso erregender? Kommt es daher, dass es die ersten Bilder waren, die ich aufgenommen
habe, Eindrücke, die nur zugedeckt, nicht überholt mehr werden
konnten? Auf dem Papier, das vor mir eingespannt ist,
steht: geboren in Romanshorn, 1945, aufgewachsen in St. Gallen,
in den Fünfzigerjahren... Was sagt das schon, gehört das
mir allein, Erinnerung, die nicht ohne ein Gefühl der Scham mich
überkommt? Vom Land in die Stadt verschlagen zu werden,
das liess zwei Welten ineinander auf- und untergehen – das Gemäuer
der Gassen, in die ich eines Morgens, hoch oben neben
dem Führersitz des Möbelwagens, chauffiert wurde, ohne dass
ich ihre Namen hätte lesen können, hinter mir die Fähren,
die tutend im Nebel versanken, die Möwen am grauen Himmel,
die Waschfrauen, die Berge von Kies und Sand auf der
Hafenmauer. Alles steigt auf in der Erinnerung, als sei es gestern
erst gewesen, stubeneng wie die Glocken der Heimat,
die am Samstagabend aus dem Radio schallten, begleitet vom
Geläut der Klostertürme und vom Badewasser, das meine
Mutter einlaufen liess für uns. Alles ergreift, verfolgt mich, wird von
mir fortgetragen wie ein bleierner Stafettenstab, den keiner
übernehmen will. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass
ich ihn selber tragen musste. Noch Jahre später, als ich
aus dem Fensterloch eines Kursflugzeugs die Landschaft erblickte,
in der ich geboren wurde, unendlich weit und ruhig den
Bodensee hinab, hat es an mein Hirn gepoltert: Warum haben
sie dich da hinabgestossen?
Einer unserer Lehrer sagte: Seid froh,
dass ihr Schweizer seid, die haben es am besten! Ich war
überzeugt davon, ich hatte keine Worte, aber Augen hatte ich, und
deshalb sind meine frühesten Erinnerungen Bilder ohne
Unterschrift. In ihnen liegt die Kälte, die abenteuerliche Lust, die
Angst der Kinderjahre, aus denen ich gekommen bin; und
die Nachkriegswelt erscheint mir, denke ich zurück an meine Bilder,
auf eine feindliche Art zugenagelt, handkehrum gespenstisch
aufgerissen. Einer, der mit mir im Kindergarten war, Erich, glaub
ich, hiess er, ein knochiges, bei den Grosseltern behaustes
Elend, malte die ganze Zeit Schlachtschiffe. Einmal, zum
Pflichtbesuch in einer Villa, ganze Batterien Zinnsoldaten auf dem
Estrich, die Herrensöhne lagen auf dem Bauch und
kommandierten: Feuer! Was habe ich vom Krieg gewusst?
So gut wie gar nichts damals, mit zehn dann aus dem
Gruselkabinett des braunen Adolf allerhand Geschichten, die
in Phantasien ungeheuer weiterwucherten. Nazi-Greuel
verschlangen wir wie Donald Duck und seine Neffen. Der Vater
eines Juden musste in die Schule kommen, um seinem
Sprössling Hetzereien zu ersparen. Wie enorm mir damals selbst
die kleinste Reise vorkam! Ich erlebte eine Weltreise,
als der Milchmann mich auf dem Kutscherbock mitnahm in die
Hinterhöfe, die zu seiner Tour gehörten. Es war, als
würden wir einen fremden Planeten betreten, als wir den Fuss zum
ersten Mal auf deutschen Boden setzten, sei es nur für
einen Stundenaufenthalt im schäbigen, staubigen Friedrichshafen,
von dem meine Schwester erzählte, sie hätte es, vom
Dach unseres Hauses in Romanshorn aus, brennen gesehen.
Wir bestellten Glace im Gaststättenbetrieb auf einer
Terrasse, Eiskrem hiess das, die war gross und billig; dass sie
gut sei, hatten wir zu Recht gar nicht erwartet;
dann begann es zu regnen, und das Schiff stand schon bereit.
Im Säli eines Restaurants, das Wildeggli hiess, erlebte
ich den grössten Schweizer Sieg, an den ich mich erinnern kann,
direkt aus dem Frankfurter Waldstadion. Drei zu eins mit
einem Sonntagsschuss von Hügi und fünfzigtausend auf den
Rängen, die miterleben mussten, wie Deutschland über
alles unterging; welch eine Kulisse! Da sassen, zusammengerangelt
wie ein Verschwörerzirkel, Bierschaum vor dem Maul,
Rauchschwaden über ihren Schädeln, erwachsene Männer und
starrten zu einem Apparat hinauf, dem die Serviertochter
nach einem misstrauischen Blick auf die rauschenden Bilder
jede Tauglichkeit abgesprochen hatte. Es war mein erster
Fernsehtag; und der an den Knöpfen drehte, der Zauberer, das
ist uns „Knöpfen“ nicht entgangen, war der Brühler Dürr,
später YB, später Lausanne. Wir gingen mit gestelztem Schritt
nach Hause, in dem sicheren Gefühl, einer historischen
Stunde beigewohnt zu haben.
Sonntags stand ich, dem
Familienspaziergangsritual noch kaum entronnen, am Steilhang
hinter dem Maschendraht im Espenmoos oder an einer
morschen Bretterwand im Krontal draussen, Bratwurstdüfte
in der Nase, und wartete im Lautsprechergeschepper,
bis niemand schaute, dann ging es hasenflink hindurch und in die
Leute ab. Fussball war die erste Gegenwelt, die ich mir
selber wählte, frei von der Familie, frei von der Schule, ganz für
mich allein, und ich spürte, dass Geschichte klebte an der
alten Holztribüne, aus deren Kabinen es nach Dul-X roch, wenn
eine Türe aufgerissen wurde, an den Stehplatzrampen, wo
die Stumpenraucher standen, knorrige Alte, die es immer schon wussten, dass es so enden würde, an der Spieluhr, deren
Zeiger gegen die länger werdenden Gesichter vorrückte, und an
dem Totomatgerüst, von dem herunter Junioren Tafeln mit
Zahlen schwenkten, auf die das Publikum mit nickendem Gleichmut, nicht selten aber mit Verwunderung reagierte, die sich in schadenfrohen Rufen äusserte. Der erste Match, den ich gesehen
habe, war eine Niederlage, eins zu vier gegen Schaffhausen;
kurz darauf stieg St. Gallen ab, wurde drittklassig, und es war jedem klar, um was es ging, um den Wiederaufstieg nämlich, um die
Wurst, wie einer jener Alten es sagte, und darum ging es eigentlich
der ganzen Stadt, die in der Stagnation ertrunken war.
Es kamen die Herbsttage, wenn wieder Olma war und die Stadt
unter dem Trubel der Fremden noch einmal auflebte, ehe
der Winter sie zudeckte, und ich frühmorgens auszog, um aus
dem regenschweren Geäst Kastanien herabzuschlagen,
die ich in meinen Säcken in die Schule trug, als seien sie mein
einziger Besitz. Tag für Tag hatte ich gesehen, wie im
Stadtpark, durch den mein Schulweg führte, die Hallen gebaut
wurden, wie die Bretter auf dem Rasen lagen, ganze
Stapel, auf denen herumzufedern sich immer lohnte, hatte gesehen,
wie sie unter den Hämmern der Arbeiter sich zu Böden
schlossen, die herrlich hohl widerhallten, wenn man so recht
darüberrasseln konnte, hatte gesehen, wie mit den
Pfeilern und Masten die Dächer entstanden, unter denen
hindurchzugehen uns ein ängstliches Gefühl von
Wichtigkeit verlieh, hatte gesehen, wie die Drahtgitter aufgepfählt
wurden und an den Eingängen Securitaswächter Stellung
bezogen, während die Aussteller ihre Stände mit Apparaten und
Maschinen bestückten, hatte gesehen, wie ich plötzlich
ausgeschlossen war und mir die Hallen meinen Weg versperrten.
Wie hatte ich stundenlang gestanden vor diesen Eingängen,
wenn die Olma eröffnet war und die Menschenmengen sich von
Halle zu Halle schoben, hatte am Gitter gestanden in der
Hoffnung, ein müder Heimkehrer möge das Billett herausrücken,
damit ich mich an den Securitaswächtern vorbeimogeln
konnte, das verlorene Gelände zu erkunden!
Aus der Schreibmaschine schaut
das leer gebliebene Blatt Papier; ich falte die Zeitung
mit dem Inserat zusammen, lehne mich zurück und zünde eine
Zigarette an. Kurzer Lebensabriss und Zeugnisse sind
beizulegen... Manchmal, wenn das Geschrei von einem Schulplatz
mich erreicht, bleibe ich stehen und schaue verloren
den Helden nach, die nach geschlagener Pausenschlacht unter
Sieger!-Sieger!-Rufen im Gewölbe der hohen Mauern
verschwinden und verstummen. Einmal, am Samstagvormittag,
stand unser Erstklasslehrer schwammig vor der Tafelwand,
und jeder durfte gehen, der ein Wort von dem entziffern konnte,
was er mit Kreide vor der letzten Stunde hingeschrieben
hatte. Es wurde immer leerer, immer banger in dem Zimmer, durch
die Fenster würgte uns ein wunderbarer Weekendhimmel,
das Gejubel der Befreiten, die längst schon hinter einem Ball
herjagten, doch von der Tafel glotzten unentrinnbar
Buchstabenrätsel, vor denen wir gequält auf unseren Bänken
rutschten. Anna schlaf! Paul schlaf! Rösli schlaf! Anna
ist brav. Paul ist brav. Rösli ist brav. Anna auf! Paul auf! Rösli auf!
Anna hat Kirschen gern. Ist Paul brav? Paul ist auch brav.
Rösli ade! Rösli hat Kirschen auch gern. Der Hahn kommt. Die
Henne ist auch da. Anna kommt. Kommt, Bibi, kommt!
Bibi, kommt brav! Ist der Hahn da? Der Hahn ist im Stall. Die
Henne ist im Nest. Schwitzend gelang es mir, eins der
Ungetüme herauszustottern, und wortlos bin ich abgezogen aus
dieser Stätte der Ordentlichkeit und der Sauberkeit, über
die frisch geputzten, leeren Fliesenböden, die feierlich erhallten,
wenn man darüberging, in den Ohren noch die unglaubliche
Drohung des Lehrers: So, ihr Pappenheimer, wollt ihr dableiben
übers Wochenende? Die ersten Felder der Freiheit waren
Fussballfelder, und auf dem Vorplatz war die schönste Kickerei
im Gang; wir spielten überall, bis wir vertrieben wurden;
an ein Beizenfenster in der Engelgasse, sogar an die Sakristei
der Klosterkirche knallten unsere Bälle, solange keiner
kam und schrie: Könnt ihr nicht lesen, Fussballspielen verboten!
An gewissen Nachmittagen, wenn oben auf dem Rosenberg
sich Institütler blicken liessen, reiche Amerikaner mit Rugbybällen
und knielangen, engen Hosen, kam es zu verbissenen
Kämpfen; wir spielten gegen den Rest der Welt, Fussball war unsere
Subkultur; wer abseits stand, wurde zurückgepfiffen,
aber nur wenn er den Ball bekam.
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