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DER LANGSTRASSE ENTLANG
Fritz Hirzel, Souvenirs von der Langstrasse, Magazin,
TagesAnzeiger, Zürich, 16. Juli 1977, nachkorrigiert.
Nach Erscheinen des Beitrags meldet sich Hanni
Müller-Naef mit einigen Fotos und der Getränkekarte
des „Café-Express Sport-Restaurant Neue Welt,
Albert Naef, Zollstrasse“. Bild: Stammgäste feiern 1928
Emil Richli, als er mit Willy Rieger das Frankfurter
Sechs-Tage-Rennen gewinnt.
Durch die offene Tür der Bar an der Ecke dringt mit dem Sanftmut
ihrer Unglückseligkeit die Mädchenstimme aus der Musikbox:
Don‘t cry for me, Argentina! Wenn die Langstrasse Siesta
hält, pausieren entlang der Fahrbahn die abgestellten Fahrzeuge;
nur vereinzelte sind unterwegs, reibungslos im Abgussrohr
des Stadtverkehrs, das zu dieser Stunde abgestumpft
und colorhaft ausschaut wie unsere Welt in Super-8, ausgetastet
von der Mittagssonne, die auf den Asphalt brennt. Unter
den Storen auf dem Trottoir gegenüber eine Passantin, die an den Stellagen in den Fähnchen blättert; Stoffballen liegen aus,
geblümelt und im Panthermuster; die Blusen kosten keine zehn,
die Hosen keine zwanzig, die Kleider keine fünfzig Franken;
Ausverkauf ist hier das ganze Jahr, nur samstags bleibt der Laden
zu. Ich hatte mir Photos zeigen lassen, Dokumente eher
der Beschaulichkeit als der Bedürftigkeit, Strassenszenen aus den
Vorkriegsjahren und aus dem Leben um 1900, da hingen
Kleider schon an dieser Stelle auf dem Trottoir; Photos, trügerisch
vielleicht, ich weiss nicht, doch Photos einer Vorstadtexistenz,
da waren die Wirtshäuser, schien es, so zahlreich, wie sie heute
sind, aber undenkbar inzwischen eine solche Gartenwirtschaft,
wie sie es damals gab. Der Bus zieht, als er in die Strasse einbiegt,
gelenkarmig an den Leitungsdrähten; mit hüpfenden Brüsten
springt ein Mädchen über die Fahrbahn. Vor dem leeren Spielsalon
stehen zwei Ledermänner, wortlos lauernd an die Mauer
angelehnt. Don’t cry for me, Argentina!
Wenn es so aussieht manchmal, als gingen hier die
Uhren anders, so trügt der Blick der Passanten,
der Blick auch, der das Leben aus der Distanz des Fensters
wahrnimmt und die Flüchtigkeit des Eindrucks zum Strassenbild
einfrieren will. Schräg gegenüber, wo sich ein zweiter
Spielsalon befindet, war ein Geschäft für Haushaltartikel, dessen
Inhaber seinen Namen zum Ausdruck gebracht hatte,
indem er die Silhouette eines Fuchses über dem Eingang
anbringen liess. Die Ladenänderungen, der Trend zum
Nepp, zur Filiale, Hand in Hand mit der Austrocknung der Refugien
des Kleingewerblichen, sind für die Strasse typisch,
obwohl der erste, obere Teil, der sich von der Badenerstrasse
bis zum Helvetiaplatz erstreckt, ihr bestes Stück darstellt,
das nicht gerade einlädt, aber trotz Verkehr ausreicht in der Offenheit und Breite, um bei den Tea-Rooms und der Lucky Bar
im Sommer auf das Trottoir hinauszustuhlen. Es sei hier freier,
luftiger und sonniger, sagt Schuler, der mir die Häuserzeile
zeigt und Bauarbeiter war, als er vor drei Jahrzehnten einzog hier.
Heute zahlt er, obwohl er vergleichsweise günstig dasteht,
das Fünffache des Mietzinses von damais. Seit das Haus, in dem
er mit seiner Frau zusammen eine grossräumige Wohnung
hat, umgebaut wurde, ist die Vibration spürbar, wenn ein Laster
durchfährt unten. Die Schlafzimmer liegen nach hinten,
nachts stört ihn der Verkehr nicht. Die Langstrasse, sagt Schuler,
der sich im Ruhestand befindet, sei nicht mehr das, was
sie gewesen sei; die Langstrasse sei früher die Geschäftsstrasse
der Arbeiterschaft gewesen, das sei sie nicht mehr;
auch der Arbeiter gehe heute in die Stadt einkaufen. Heute
nimmt Schuler, obwohl er gern zu Fuss geht sonst,
der Abgase der zitternd sich vorwärts rackernden Autokolonnen
wegen den Bus der VBZ, wann immer er die Strasse
hinunter muss, an der er wohnt.
Nachts um elf, wenn beim Forum
die Seitenportale sich öffnen und die Filmmusik orchestriert sich
zum Finale steigert, sagt Schuler, höre er unter dem
Jungvolk, das Sekunden später aus dem Kino auf die Strasse
tritt, nur noch Italienisch. Auf dem Trottoir lichten sich die
Reihen der längs und quer gestellten Mopeds im hochgedrehten
Startgelärm, nachhaltig stichelnd in der Schallkulisse, die
sich dehnt und abbricht; Iuftzerreissend bleiben die schweren
Maschinen im Geknatter der Motoren stehen, um endlich
abzudonnern; das Gewirr der Stimmen verliert sich im Ciao, Ciao
der Abschiedsrufe und in der Dunkelheit der Strasse,
die nach dem Kinoschluss und nach dem Abgang der Besucher
verlorener als vorher daliegt, wie es scheint, und nächtlich
hohl sich streckt. Good-bye, Bruce Lee, der Karatewelle letzter Kantenhieb, steht im Programm und füllt das Colosseum des
Zelluloids nicht im entferntesten. Am Eingang gehen die Lichter
aus, die Vorankündigung im Seitenfenster, Safari-Express,
auf dem Plakataushang Ursula Andress, Giuliano Gemma und
Jack Palance, liegt im Dunkeln. Vor ein paar Wochen,
als ich die Eingangssperren an der Kasse, die arenahaft das
Bild des Massenandrangs suggerieren, zum letzten Mal
passierte und mit Pisa treppauf durch das geplättelte Foyer
zum Balkon ging, um einen Blick mit ihr hinabzuwerfen
in den Orchestergraben, aus dem zu unserer Väter Zeiten das
Blech der Musiknoten geschmettert hatte, wenn auf der
Bühne ab und zu noch Wiener Blut und ähnliches gegeben
worden war, da sassen wie im Traum so fremd die paar
Besucher in der Unberührtheit ganzer Reihen des Parketts.
Wie wenige tatsächlich unten sassen, sahen wir erst,
als der Film, in den wir eingetreten waren, zu Ende war und Pausenlicht, bevor der zweite Film anging, den
Riesensaal nicht allzusehr erhellte. Mit einem Mal hatte das unabweisliche Gefühl mich befallen, wir hätten uns verirrt
in eine Welt, die seit geraumer Zeit schon nicht mehr existierte,
so greifbar war die Diskrepanz dieser Halle und der Filme,
die sie hätten füllen sollen. Auf der Leinwand hatte ein Professore
sich angeschickt, die herbeigerufenen, gänzlich unaufgeklärten Vertreter der Presse im Stil des Dozenten über die Gefahren der Syphilis aufzuklären, was dem Mann gestattete, mit zum
Lachen seriöser Miene verschiedene Filmepisoden vorzuführen,
deren eine darin gipfelte, dass ein römischer Rentner sich
von einer Dame in deren Absteige locken liess, wo er sie neben
dem Sofa kniend auf den Mund zu küssen hatte, ehe er in
den Genuss kam, auf dem Sofa sitzend ihr zu Tangotakten bei
einem Striptease zuzuschauen, in dessen Verlauf sich
herausstellte, dass es sich bei der Dame mitnichten um eine
Dame, sondern um den Transvestiten der letzten Episode
handelte, der angeblich syphilitisch war. Im Gangstermelodrama, welches das Doppelprogramm zu vervollständigen hatte
und sich in einem Amerika zutrug, dessen Wiesen und Bäume
sämtlich von überaus apenninischen Farben und Formen
geprägt waren, trat der Held in das Hinterzimmer des Spritzendoktors, der tot auf seiner Patientenpritsche lag, nahm das Telefon
und sprach zum Mörder: Bist du es, Johnny? Ich bin der Mann,
den du suchst. Das Blatt hat sich gewendet. Jetzt bin ich
der Mann, der dich sucht!
An das Gebäude des Forums, das
Ende der 1920erjahre eröffnet worden war, an- und
eingebaut sind ein Kiosk sowie der Schnellimbiss der Silberkugel. Gegenüber, auf der anderen Strassenseite, befindet
sich ein Tea-Room, das sich Broadway nennt und dem Glamour
seines Namens soweit zumindest nachkommt, als er,
mit Ausnahme vielleicht des Kakadu, wo die verlassenen Männer
vor dem Fernseher sitzen und der kleinen Ingrid, die
manchmal in Klimbim noch für sie lächelt, in die Spitzenwäsche
schauen, eines der wenigen, wenn nicht das einzige Café
der Langstrasse ist, das auch nachts, wenn gassauf, gassab der Alkohol regiert, noch offen hat. In diesem ersten, obersten
Teilstück, das beim Helvetiaplatz zu Ende geht, gibt es nicht
weniger als vier Schuhläden, ein Sportartikelgeschäft,
fünf Kleiderläden insgesamt, eine Stoffiliale, zwei Coiffeursalons,
ein Geschäft für Farben und Tapeten, einen Uhrenladen,
zwei Spielsalons, eine Fernseh- und Photohandlung,
eine Apotheke und, was eine Seltenheit darstellt, eine Filiale wenigstens der Kantonalbank. Das andere Café nennt
sich Atlantis; ihm gegenüber, beim alten Schulhaus mit dem Pissoir
vor dem Wieschen, das zugleich das einzige Rasenstück
der Strasse ist, liegt die Lucky Bar. Davor steht, als ich eines Nachts
vorübergehe, ohne dass es spät geworden wäre, und die
Entleertheit des Lokals im Türausschnitt sich mir entgegenstürzt,
eine schwarze Limousine; durch deren Fenster ein laszives
Bild, wie Photos allerletzter Strumpfreklamen und Dessous, Sie im hochgeschobenen Abendkleidchen, Er im schwarzen Anzug,
fast verloren, wie das Paar bei Iaufendem Motor im grossen Wagen
atemlos zusammen- und ineinanderhängt; alles sieht nach
Geld und Luxus aus, sogar und vordringlich dieses Aroma der
Geilheit, die das Erotische vollends aufs Accessoire
verlagert hat.
Für die Amüsiergesellschaft, die an die Langstrasse
kommt, sei es um im Trubel der Lokale zu verschwinden, sei
es um in einer Ecke still sich vollaufen zu lassen,
beginnt das Revier der Versprechungen hinter den Ampeln,
wo linkerhand die Drogerie, rechterhand die Volksbank
sozusagen das Einfallstor markieren, durch das, auch
wenn die Ampeln Rotlicht zeigen, mit wehenden Bändern im
Haar die Piraten des Asphalts einbrechen, um im Kult ihrer Männlichkeit auf knatternden Motorrädern dem Publikum entlang
der Fahrbahn einen Vorgeschmack des Schreckens
einzuhämmern. Dass dies nicht so die feine Gegend ist, war
mir von Anfang an bewusst; dennoch war ich erstaunt,
Schritt für Schritt zu sehen, wie streng die Trennungslinie
verläuft. Nicht nur, dass die Langstrasse von Filialen
der Grossbanken frei ist; für Kleinkreditinstitute, für Privatbanken
und Holdingunternehmen mit Transaktionen, deren Charakter
nicht mehr zweifelhaft zu nennen wäre, scheint die Umgebung der Spielklubs und Massagesalons geradezu abschreckend
zu wirken; eher passt hier schon, wie im ersten oder zweiten
Stock des Kollerhofs, das Büro eines Privatdetektivs
zu der Adresse. In diesem zweiten Teilstück, das zwischen Helvetiaplatz und Hohlstrasse liegt, befinden sich vier
Kleiderläden, ein Coiffeur, ein Restaurant, zwei Schuhläden,
eine Lederwarenhandlung, zwei Uhrengeschäfte, ein
Stehimbiss, die Filiale des LVZ, ein Fernseh- und Photogeschäft
und ein Kiosk. Ein Stand mit Früchten und Gemüse,
von einem Italiener geführt, der einen breit gekrempten Hut
aufhat und sonntags ebenfalls, vermutlich nicht am
schlechtesten, verkauft, steht vor der zweiten Beiz, dem
Aargauerhof, wo ich mit Ella am Tisch bei Fridolin
und einer Frau, die auch nicht mehr die jüngste war, eine
Fleischsuppe mit Mark und Lauch serviert bekommen
habe, die ich nur empfehlen kann.
Ich war mit Ella im Krokodil verabredet gewesen, aber sie war nicht gekommen, und als ich den
Sport gründlicher als üblich durchgesehen, aber nicht die Absicht
hatte, Il Dovere und Libera Stampa, die der Wirt, ein Tessiner, abonniert hat, dranzunehmen, war ich aufgestanden und gegangen.
In den Tagen, als es im Krokodil noch Tingeltangel gegeben
und Fredi Scheim im Schmierensketch Die Fremdenlegionäre sich produziert hatte, wobei die Künstler, und die sich dafür
hielten, nach der Nummer an die Tische traten und zur Kasse
baten, muss das Lokal beträchtlich grösser ausgesehen
haben. Kaum war ich gegangen, stand Ella da und zeigte mir
auf der anderen Seite die Wohngemeinschaft, in der sie
ein Vierteljahr gelebt hatte. Die fünf Zimmer, vom Eigentümer
renoviert, die Waschmaschine in der Küche, kosten die
jungen Leute zwölfhundert Franken. Ella hatte erzählt, ein paar
Schritte von hier eine Schaschlikbude entdeckt zu haben,
doch als ich mit ihr hinging, stellten wir fest, dass es keinen
Schaschlik gab, wohl aber einen Speck, den Edi, der den
Stehimbiss betreibt, auf seinem Grill ausbreitet. Edi kennt die
meisten, die bei ihm verkehren; mit Überschwenglichkeit
begrüsst er Ella, um strafend im Ton der Ablehnung zu fragen:
Wieso bist du nie mehr gekommen? Das Milieu, das sich
an diesem Ort zusammenrauft, hat seine eigenen Gesetze. Da ist
der Seebär, der wankend in der Runde steht, und da ist der
andere im T-Shirt, der seinen tätowierten Arm herzeigt, sich mit
Johnny vorstellt, aber sich bei mir erkundigt, bevor er Ella
küsst. In diesem Hin und Her, in diesem Auf und Ab taucht von
der Strasse her, blond, coiffiert, der Zuhälter auf, erregt,
beginnt gleich auszurufen; ein Wort, das fällt, bleibt zwischen Rauchfang und Stühlen hängen: Lampehüehner! Hinter ihm
erscheint, zum Wackel aufgetakelt, den Busen hochgepuscht, in
rosa Mini die Beine ausgestellt, die Zweihundertfrankenhure,
die auf den Stöckelschuhen mit misslaunigem Gesicht durch die
Leute gestakst kommt, um nach einem Gläschen wortreich
von der Stätte abzuziehen; Geschäfte, Geschäfte!
Am selben Ort, wo heute dieser Neubau mit seiner Imbissecke
steht, war früher eine Arbeiterwirtschaft, die Sonne.
und nichts könnte den Abstieg und die Veränderung, die das
Quartier erfahren hat, deutlicher anzeigen als der
Vergleich mit der Vergangenheit, fast wie in einem Brennglas überdeutlich. Hier, an der Ecke zwischen
Langstrasse und Hohlstrasse, war es zu Beginn der 1930erjahre,
als die Heizungsmonteure ihren Streik beschlossen
hatten, zu Demonstrationen gekommen; hier, in unmittelbarer Nähe
der Sonne, war bei den Demonstrationen, erzählt mir Schuler,
ein Arbeiter erschossen worden; hier, in dieser Gegend, waren die Fröntler abgeschlagen worden, als sie in der Krise der
1930erjahre mit ihrem Umzug durch die Langstrasse hatten
marschieren wollen. Heute, zu einem Zeitpunkt, wo
wieder das Gespenst der Arbeitslosigkeit aus manchen
Zimmerfenstern schaut, gehört das Quartier, das
damals Schauplatz der politischen Auseinandersetzung war,
zu den schwächsten und hilflosesten, wenn es darum
geht, seine Bewohnbarkeit gegen Lärm und Abgase des Durchgangsverkehrs zu verteidigen. Die Arbeiter sind
weggezogen, stadtauswärts in die besseren Lagen, dem unteren
Mittelstand. dem Kleingewerbe folgend, nachgerückt sind Fremdarbeiter; junges Volk lässt sich vorübergehend nieder und
findet es vielleicht gar schick hier einmal auch gewohnt
zu haben; wer bleibt, das sind die Fremdarbeiter, die unsicher
geworden sind und sich nicht wehren; wer bleibt, das ist
die Ansammlung der Hilfsarbeiter, die billig unterkommen müssen
und zur Flasche greifen, wenn sie nicht schlafen können;
wer bleibt, das sind die Alten, die seit Jahrzehnten hier wohnen
und von der Rente leben, asthmatisch wie der pensionierte
Eisenbahner, der im fünften Stock haust und die Ersteigung der
Treppen mit Zwischenhalten gerade schafft, nachts
immer wieder aufgeschreckt, dann schlaflos durch die Zimmer
knarrend, halb taub, als hätte das Hörorgan dem
Geschmetter, das pausenlos aus dem Verkehr der Strasse
hochgetragen wird, durch Rückbildung sich angepasst.
Sogar im dritten, innersten,
fiebrigsten Teil, der sich von der Hohlstrasse mit einem halben
Dutzend Wirtslokalen an die Militärstrasse hinuntersenkt,
gibt es Gebäude, die zu Wohnzwecken und nichts anderem
vermietet werden. Am unteren Ende, in einem der
Eckhäuser, dessen Mauerwerk das Motorengelärm beidseitig
sich stauender Autokolonnen durchzittert, wohnen nach
den durch Weg- und Zuzüge stets überholten Angaben des
Adressbuches ein Hilfsarbeiter, eine Geschäftsinhaberin,
ein Maurer, ein Hausbursche, ein Student, ein Kellner,
ein Versicherungsangestellter, ein zweiter Student, ein weiterer Hiilfsarbeiter, eine alte Frau, ein Privatier, ein Chefmonteur,
ein dritter Hilfsarbeiter, ein Automechaniker, noch eine Frau, ein
vierter Hilfsarbeiter und ein Güterarbeiter. Acht Wohnungen
gibt es im Haus; also sind darunter Mieter, die wieder Untermieter
haben. Unter den Bewohnem sind, den Namen nach
zu schliessen, die Schweizer mit ihrem knappen Drittel in der
Minderzahl. Zu viele ungelemte Arbeiter: zu viele Mieter
ohne Beruf: das deckt, so denke ich, zumindest auf, wieso
an dieser Lage keiner protestiert. Das Haus, dessen
Fassade alt und abgewrackt aussieht, befindet sich im Zustand
der Verwahrlosung. Entschliesst der Eigentumer sich
zu einer Renovation, so werden die Mieten so sehr steigen,
dass die jetzigen Bewohner sie nicht mehr bezahlen
können. Die Menschen leben hier auf Abruf, sie leben um der
niedrigen Miete willen hier, sie kommen, und sie gehen,
und wenn sie bleiben, dann, weil sie nichts finden
und zu alt sind, sich noch loszureissen und dem Schrecken
zu entfliehen. In der Häuserzeile gegenüber ist die
Lage, nehmen wir das Wort, das mehr verdeckt, als es erhellt,
saniert; zwei Geschäftsneubauten sind errichtet worden,
im ersten, dem Elysee genannten, wird Damenkonfektion verkauft;
im zweiten blieben die Räumlichkeiten lange Zeit
unvermietet, bis dann vor kurzem Pinocchio, ein über zwei
Stockwerke angelegter Spielsalon, einzog.
Und doch kann es an einem
Sonntagmittag hier unheimlich ruhig sein. Ich sehe vor mir noch
den Vogel, diesen Täuberich, der vor der geschlossenen
Glastür der Metzgerei, einer Bell-Filiale, hin und her ging, mit
ruckendem Kopf, grau und rosa an der Brust, mit
trippelndem Schritt, den Kopf ans Glas anschlagend, in dem
er sich, ich weiss nicht, vielleicht gespiegelt sah;
dann, Tage später, liegt er im Strassengraben, die Beinchen
weggestreckt, nicht derselbe, hoffe ich, ein Artgenosse
aber. Am Wegstück, das sich zur Militärstrasse hinzieht, gibt
es nach dem Krokodil einen Tabakladen, zwei Kioske, ein
Reinigungsgeschäft, zwei Cafés, sechs Bekleidungsgeschäfte,
das Kino Maxim, einen Optiker, zwei Schuhläden,
die Miniatur einer Lebensmittelhandlung, die Restaurants
Gambrinus und Rothus sowie das Kino Roland.
Am selben Wegstück, aber auf der anderen Seite, befinden
sich zwei Uhrenläden, die Filiale eines Wein- und
Spirituosendiscounts, vier Bekleidungsgeschäfte, ein
Vorhangladen, drei Restaurants, darunter der Schweizerdegen
und, mit der Würstchenbude, das Longstreet, das mit
Diskothek und Bar ein Dancing betreibt, in dem Vertreter verschiedensten Alters zu verschiedenster Musik auf
verschiedenste Art und Weise sich urn die Hüften wackeln.
Dem Longstreet folgt ein Schuhladen, eine Drogerie,
ein Uhrengeschäft, ein Coiffeur, besagte Metzgereifiliale, ein
Spielsalon, eine Apotheke, zwei Femsehhandlungen
und die zweite Filiale, die der LVZ an der Langstrasse unterhält.
In der Eingangstür zur Reinigung liegt schon um neun
Uhr abends ein Betrunkener, Mitte Dreissig wohl, liegt quer
auf diesen Stufen und rappelt sich allmählich auf, indem
er Sätze ausstösst, die ein und denselben Schluss zu haben
scheinen: Uf d Chappe schysse!
Im Kino Maxim geht das Licht
aus, die letzte Vorstellung beginnt. Es öffnet sich der graue
Vorhang, und Dunkelheit deckt alles zu: die rote, von
zwei Säulen rechterhand im Saal gestützte Decke, die gelben
Vorhänge der blauen Seitenwand, die beigen Stühle,
die Papierkörbe aus gelbem Plastik. Im Saal zwei Dutzend
Männer, nicht eine Frau, und auf der Leinwand alle fünf
Minuten der Traum der Männerhand, die in die Damenhöschen
einer eben noch so gut wie Unbekannten greifen darf,
die auf den Augenblick nur wartet, den Kopf zurücklegt und
die Augen schliesst, um sehnsuchtsvoll zu stöhnen
anzufangen, obgleich der Herr Eroberer noch in der Unterhose
steckt. Ich schaue hin, obwohl ich sehe, dass die nur
hecheln und so tun, und ich den Regisseur beinahe rufen höre:
Jetzt, jetzt! Den Höhepunkt erreicht die Handlung
im Sous-sol einer Boutique, wo zwei Lesben es miteinander
haben, sich aber von dem Duo der Mechaniker, das
sie dabei erwischt, bereitwilligst bekehren lassen. Vor zwei,
drei Jahren brachte es ein Sexfilm im Maxim, das seit
Ende der 1920ahre besteht, auf fünf Wochen; heute muss
der Geschäftsführer froh sein, wenn er vierzehn Tage
macht. Seit das Modern, das auch Volkstheater hiess und Union,
geschlossen hat, ist das Roland, das 1914 eröffnet
worden war, unter den Kinos der Langstrasse das älteste.
Das Haus ist renoviert, an der Fassade leuchten
die Regenbogenfriese in den schönsten Jahrmarktsfarben;
die Decke, über den unheimlich hohen Saal gewölbt,
hat gelbe, grüne Längsstreifen bekommen; an die Wände sind
die alten Portraithelgen aus dem alten Hollywood
zurückgekehrt, Rock Hudson, Tony Curtis, Burt Lancaster,
Gregory Peck, vier Säulenheilige; der Balkon hängt
so hoch im Saal, dass es eine Ehre sein wird, ihn eine Galerie
zu nennen.
Zuletzt war ich mit Pisa dort, Freitagnacht zu Winifred
Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914-75,
in einer der Vorstellungen, die dort das Film In gibt,
fünf Stunden lang zu Gast in Bayreuth bei der Bienenkönigin,
die daumendrehend vor der Kamera sitzt, von ihrem
Wolf erzählend, der Hitler war, ursprünglich Schickelgruber,
und gewöhnlich zweimal zu den Festspielen gekommen
sei, meistens am Schluss nochmals zur Götterdämmerung.
Wir alten Nationalsozialisten, sagt sie, und so, wie
sie es sagt, tönt es beinahe ungezwungen, also die Winifred
Wagner und andere, deren Namen sie nicht sagt,
die also nennen ihn zwecks Tarnung heute USA, was
soviel heisst wie: Unser Seliger Adolf. Es sind die Prototypen
dieses grauenhaften, von Fluggesellschaften und
Computerkonzernen perfektionierten Zwangs, Namen
zu Buchstaben zu verkürzen, dieses stramme KdF,
Kraft durch Freude, und das noch strammere BdM, Bund
deutscher Mädchen, die mir am nächsten Morgen
noch im Kopf herummarschieren, als ich auf der Josephswiese
diese Schiessbude betrachte, an der gemalt steht:
Freude durch Gewinn. Vierzehn Tage später sitze ich am
Tisch mit zwei Ehemaligen des FC Industrie. zu denen
der Wirt, auch er einstmals Verteidiger, sich gesellt, als plötzlich
einer schroff erklärt, nachdem der andere nach dem
Namen eines Eintretenden ihn gefragt hatte: Mit Leuten, die
freiwillig zur Waffen-SS gehen, rede ich nicht!
Die Reizschwelle, behaupte ich, ist hier beträchtlich
dünner als in anderen Gebieten. Polizeistunde wird geboten,
auf einmal geht es los. Am Nebentisch, in einem
der Lokale, oben an der Querstrasse, fallen Stühle, und die
Männer gehen aufeinander los. Zwischen erhobenen
Fäusten Wortgeschwall, erhitzt und überschwappend: Porco
dio, Svizzeri! In Augenblicken sind die Männer im
Gemenge festgekeilt, nur Schläge fallen keine mehr, es
fallen Flüche, die Wut ist abgelassen, Erwiderungen
folgen, lautstark, von der Gegenseite, Verständigung beinahe.
In der Wirrnis geht es, soweit ich sehe, um eine Frau,
die als Schweizerin nicht müde wird, den Erregten wortreich
zu versichern: Schönes Land, Italia! Maccheroni!
Spaghetti! Ich mache Ferien in Italia! Wie Beleidigung,
denke ich, hört sich das an, auch wenn sie es gar
nicht so meint. Das Grundmuster ist stets dasselbe, wenn
die Gewalt losgeht; die Linie des Hasses verläuft
entlang der Grenze zwischen Eingeborenen und Fremdarbeitern.
Ein zweites Mal bleibt es nicht bei der Szene. Zwei
ltaliener, erzählt Anker, der in die Schlagerei geraten ist,
hatten erst an die Frau gelangt, dann an ihre
Handtasche, die Frau hatte losgeschrien: Sautschingg!
Einer der ltaliener habe sie genommen, durch die
Glastüre getragen und auf der Strasse abgestellt, was für
die Schweizer im Lokal das Zeichen abgegeben
habe, auf die zwei Italiener loszugehen, wobei sie Gläser,
Flaschen, kurzum alles von den Tischen gefegt
und auf die Italiener eingeschlagen hätten, bis einer der
beiden, mit inneren Blutungen vermutlich, liegen
geblieben sei, erzählt Anker, der auf die Kreiswache
gelaufen ist, die zwei aus dem Tumult und
der Gewalt herauszuholen und zu verhindern, was
damals, in einer der Querstrassen, mit tödlichem Ausgang
sich zugetragen hat, als ein Italiener in einem Lokal,
das Stirnimaa geheissen hatte, zusammengeschlagen, vor die
Tür geworfen und liegen gelassen worden war.
Unten, im letzten Abschnitt vor der Unterführung,
befindet sich die Kreiswache der Polizei. In diesem kurzen,
letzten Teilstück, das zum Kreis 4 gehört, gibt es fünf Bekleidungsgeschäfte, einen Uhrenläden, eine Apotheke,
eine Würstchenbude, vier Restaurants, darunter ein
so eingesessenes wie den Strauss, und am äussersten Punkt
der Häuserzeile, mit gutem Sound, die Ole Ole Bar,
Treffpunkt der Hell‘s Angels; darunter, in den Baracken bei
den Geleisen, den Obststand und den Schlüsselservice,
in der Strassensenke ein Pissoir. Im St. Pauli, wo früher in Dekorationen einer Hafenkneipe wechselnde Kapellen
spielten, ist eine Diskothek mit Dancing für Teenager entstanden.
In den ersten Morgenstunden, wenn die ianggezogenen,
pfeifenden Hupsignale vom Rangieren auf den Geleisen die
Nacht zerreissen, ist die alte Frau, deren Mann gestorben
ist, schon auf den Beinen und trägt Zeitungen aus. Sie hat im
vierten Stock gewohnt. Als ich hingehe, finde ich
das Haus eingerüstet; an der Haustür fehlt ihr Name.
Die Unterführung, die den Kreis 4 verbindet mit
dem lndustriequartier, bildet sozusagen einen Trennungsstrich;
historisch ist der Bau der Eisenbahn der Ausgangspunkt,
der zu beiden Seiten die Langstrasse und ihre Bauart heute noch bestimmt, im Kreis 4 mit Gebäuden, die aus den
1890erjahren stammen, im Industriequartier, das jünger ist,
mit Häusern aus den 1910erjahren.
Kreis 4 und lndustnequartier.
sagen die Leute mir, und es sind Leute, die hier aufgewachsen
sind, Leute, die an dem Viertel hängen, Kreis 4 und
Industriequartier, sagen sie, die hätten immer diesen Ruf
gehabt, Chrais-Chaib und Scherbenviertel, sie sagen
es mit Lachen, und was sie meinen, sind die Wirtslokale und
die Trunkenheit, mit der die Gäste sie verlassen.
Mir fehlt der Grund zu der Entwicklung, die Herkunft sozusagen.
Ich habe mich gefragt, woher der schlechte Ruf, der Ruch
der Gegend kommt, der fortlebt im Revier und auf ihm lastet,
als hätte er mit diesem Ort zu tun, nicht erst seit gestern,
von altersher, schon seit der Zeit, als hier noch Sümpfe waren,
ein ungesundes, tiefgelegenes Terrain, Aussersihl,
die Langstrasse hinunter, jenseits des Flusses, der für die
Bürger seit Jahrhunderten die Grenze bildete, die
sie nicht überschritten, es sei denn, sie hätten etliches sich
zuschulden kommen lassen und hätten sich verstecken
und verkriechen müssen. Die ganze Stadtplanung, bis in die
Gegenwart hinein, ist darauf angelegt, das Übel aus
den Innenteilen der Kommune auszugliedern und hier, jenseits
des Flusses, abzusondem, angefangen bei dem
Siechenasyl, in das die Aussätzigen verbannt wurden,
und der Hinrichtungsstätte, deren Spektakel sich
hier entfaltete, bis zur Verpestung, die mit der Ansiedlung
der frühen Industrie begann, mit Rauch und Russ der
Eisenbahn, den Dämpfen einer Seifenfabrik, der Dunstwolke
der Brauerei, dem Rauch der Kehrichtverbrennung,
kurzum dem Lärm und der verschmutzten Luft, die hier, im
tiefsten Punkt der Stadt, in der Engnis der Häuser,
sich nicht verflüchtigten und hängenblieben wie heute Staub
und Blei der Abgase, die der durch die Langstrasse
gepresste motorisierte Verkehr ausstösst.
Hinter der Unterführung,
wo die Nachtbummler bis zur Fortsetzung der Strassenflucht
den rauhen Wind zu spüren bekommen, der aus der
Röntgenstrasse fegt, liegt das Hofbräuhaus, das Sammelpunkt,
so höre ich, der Velofans gewesen sei, als es noch
Neue Welt geheissen babe. Heute ist es das letzte, das
einzige Lokal der Strasse, in dem die wechselnden
Kapellen, mit Maja, Brit und Eric und wie sie alle heissen,
ihr Repertoire abtingeln, mal Movie Star, Movie Star,
mal Rund um dä Säntis, unterbrochen durch den Auftritt der Solotänzerin, die als Sonja vorgestellt wird oder als
Go-go-Girl aus Ghana und mit maskenhaftem Gesicht ihre
Nummer und den BH abzieht, während ich mit Max
an einem der Tische sitze, an meinem Cigarillo sauge und bei
der Serviererin ein Bier bestelle. Nachdem die Tänzerin
zum dritten und zum vierten Mal erscheint und wir die einzigen
geworden sind, die klatschen, fragt sie mich, als sie
abgeht, ob ich denn morgen wiederkomme. Ich sehe, wie sie verschwindet und zurückkommt, im Kleidchen nun,
sich bei den Männern an die Bar stellt, den Reissverschluss
noch offen. Erst, als ich nach einem Monat wiederkomme
und mich auf die Seite gegenüber stelle, an die Bar, bemerke ich,
dass ihre Garderobe tatsachlich nur die Garderobe war,
die Kleiderhaken in der Ecke bei den Männern an der Bar, und
ich vermisse, während das Lokal sich mit Japanern füllt,
die einen gewaltigen Pokal voll Bier bekommen, die Sängerin
mit dem so wunderlich kaputten Charme, eine reifere
Blondine, die den Schlagzeuger mitsamt dem Gitarristen zu
Komparsen macht, wenn sie an der Tastatur sich durch
den Pflichtteil ihrer Schnulzen singt und ab und zu als Lady
Saxophonist sich produziert.
Als ich durch die Türe gehe und die Fahrbahn überquere,
steht auf dem Trottoir, bei einem Mustang oder einem
ähnlichen Gefährt, ein Strassenmädchen, und die
gutgewachsenen Beine, die sie hat, sind kaum verdeckt
von einem Hängerchen, so weiss wie die Unschuld
und auf dem Pflaster der Nacht erkennbar an der Helligkeit,
die Engeln und anderen Himmelsfaltern zugeschrieben
wird. Ein Mann steht bei ihr, sie reden miteinander und machen
Aufbruchsgesten. Fährt er nun, denke ich, ist es ihr
Zuhälter; fahrt sie, ist es ihr Kunde.
An einem Freitag knallen hier um zehn, sofern der Himmel
trocken bleibt, die ersten Flaschen in den Rinnstein.
Als Franz, der in einem der Abbruchhäuser wohnt und mich
in seinem Gästezimmer, einer schrägen Dachmansarde,
übernachten lässt, hier einzog, kam anfangs regelmässig der
Detektiv aus dem Revier, der sich nach einem Rocker
umsah und die Adresse im Gedächtnis hatte; eines Abends,
als Franz zuhause sass, trat ein Herr mit einem
Aktenköfferchen ins Zimmer, um sich vorsichtig zu erkundigen,
ob hier nicht ein Massagesalon sei; und eines Morgens
dann, als Franz aus seiner Wohnung kam, lag auf dem Teppich,
mit dem Franz seine Gangetage ausgelegt hatte, ein
Clochard und schnarchelte, in einen Mantel eingewickelt,
vor sich hin. Franz erzählt dies, während er aus
dem Backofen eine Wähe holt, nicht ohne Lachen, hinterher
zumindest; nach und nach hat er versucht sich
durchzusetzen, Obwohl er um die Rolle weiss, in der die
anderen ihn sehen, die das Revier geschluckt und
nicht mehr ausgespieen hat: nicht ernst zu nehmen, ein Vorübergehender, auf Abruf in ein Abbruchhaus
verschlagen. Das schlimmste, sagt er, sind nicht die kaputten
Leute, nicht die Betrunkenen, die an den Strassenrändern
stehen; das schlimmste, sagt er, ist die Lärmkulisse
des Verkehrs, der pausenlos hier durchgeht, bis in die Nacht,
bis in den Schlaf hinein und in die Träume; es ist so
schlimm, sagt er, es kann nicht mehr schlimmer werden.
Hinten, in einem der Seitenhöfe,
teilen die Kinder der Italiener, wenn sie spielen wollen,
die Beengtheit des Platzes mit einem Mopedhändler, der seine
Räder hier aufstellt und beobachtet, wie die Kinder, die
hier wie überall nur stören und selbst bald schon gestörte sind,
ihm auf den Hofplatz scheissen. An diesem Teilstück,
das sich von der Unterführung bis zum Limmatplatz erstreckt,
gibt es drei Kioske, ein Farbengeschift, drei Schuhläden,
ein Geschäft für Bébéartikel, drei Tabakläden, einen
Nähmaschinenhändler, drei Tea-Rooms, darunter das Kakadu,
einen Coiffeur, fünf Bekleidungsgeschäfte, einen
Elektrogerätehandel, drei Souvenirläden, einen Optiker und
die Filiale einer Sex-Shop-Kette. Entlang der Strecke,
die in beiden Richtungen befahren wird, zähle ich im weiteren
zwei Würstchenbuden, eine Papeterie mit Lederwaren,
drei Uhrengeschäfte, eine Apotheke, zwei Teppichläden, einen
Supermarkt, zwei Drogerien, eine davon jene des
Präsidenten des Ouartiervereins, der selbst nicht im Kreis 5
wohnt, eine Lederwarenhandlung, zwei Reinigungsablagen,
einen Spielsalon, ein Fernsehgeschäft, eine
Sportartikelhandlung, den Stand mit Blumen und Spielwaren,
einen Schuhmacher sowie neun Restaurants, dabei so grundverschiedene wie das Hofbräuhaus, das Popolo, quartier-
und völkerbindend in einem der lnnenhöfe gelegen,
das Blaueck, Stammlokal des FC Industrie, ein Chez Nous,
die Kyburg und, zuvorderst, am Limmatplatz, dort,
wo das Kornhaus stand, an dessen Ochsengespanne sich Eingesessene noch erinnern, das Kornhaus, wo der
Einzelkämpfer, der eines Nachmittags hereinkommt, mir
versichert, er sei vorbestraft; sie hätten ihn zwar
immer erst nachher bestraft, aber es heisse trotzdem
vorbestraft. Aus einem der Tabakläden tappt,
als es auf Feierabend zugeht, der Bless heraus und kann
es nicht erwarten, bis die Ständer mit den lllustrierten,
den Gazetten und den Comics-Heften hereingeschafft sind
und die Türe zugesperrt ist, endlich.
Nicht wenige der Mieter, die an diesem Abschnitt
wohnen, schlafen in Zimmern, die zur Strasse gehen, weil sie
sich an die Regelmässigkeit der Störung, die von
der Strasse kommt, eher gewöhnen als an den Nachtlärm
in den Hinterhöfen, für den die Gäste eines
Renommierklubs sorgen, die ihre Wagen dort abstellen
und gröhlend dann und türenschlagend nachts
abziehen. Anker, einer dieser Mieter, hatte sich beschweren
wollen, doch sagt er mir, sie hätten ihn von der Polizeiwache
zum Streifenwagen, von dort zur Lärmbekämpfungsstelle
und von der Lärmbekämpfungsstelle zur Polizeiwache geschickt.
Eines Tages hat Anker, der vor zwei Jahren mit seiner
Frau an die Langstrasse gezogen ist, siebenhundert Flugblätter
gedruckt und verteilt, mit denen die Geschichte der
Gegenwehr, zunächst rund um den lnnenhof, beginnt; eine
Mietergruppe hat sich, auf Ankers Initiative hin, gebildet
und will, in einem ersten Schritt, für Nachtstunden
im Innenhof ein Parkverbot durchsetzen. Als ich bei ihm
zuhause sitze, zeigt Anker mir den Mietvertrag,
den er für die Wohnung hat unterschreiben müssen; es ist
ein Mietvertrag für gewerbliche Räume, das lese ich
gedruckt, umfassend ein möbliertes Büro, ein Atelier, zwei
Wohnzirnmer mit Wohnküche, WC und separatem Bad,
das lese ich in Schreibmaschine. Später, als ich Franz noch
einmal treffe, stellt sich heraus, dass seinem Mietvertrag
der Zusatz beigefügt ist, der Mieter nehme zur Kenntnis, dass
es sich um ein Abbruchobjekt handle, und verpflichte
sich, die Wohnung im Falle eines Abbruchs oder einer
Kündigung anstandslos zu räumen. Frau Ballinari,
sagt Franz, sei heute nicht reklamieren kommen; die Spülung funktioniert, das Wasser läuft im ersten Stock nicht über.
Und dann, Tage nach meiner
Nacht im Abbruchhaus und den Stichen jener Fahrgeräusche,
die mich im Schlaf begleiteten, sitze ich in diesem hellen
Institut der ETH den Experten gegenüber, die in jenem Teilstück Messungen an Lärm und Luftverschmutzung vorgenommen
und, wie sie sagen, Daten aus dem Bereich der Grenzwerte
erhalten haben, wie sie in Deutschland und in den USA gelten,
den Experten, die in Umfragen an der Langstrasse
ermittelten, dass zwei Drittel der Anwohner zu den Kunden
von Ohropax und Mogadon gehören; und ich sehe
vor mir, steil herab aus dem Mansardenfenster, das Bild der
Strasse, und ich sehe, in den Stunden nach Mitternacht,
wie auf der Strasse jedes zweite Fahrzeug eines der Taxis ist,
die sämtliche nach Kunden suchen; und dann, in der Frühe
nach dieser Nacht, als der Wunsch nach Badewasserwärme mich
nach Hause treibt, herunter auf die Strasse, sehe ich,
wie unvermutet, mit einer Einkaufstasche, Max dort um die
Ecke kommt; die Überraschung ist gewaltig, ihn habe
ich so früh am Samstagmorgen nicht erwartet, doch Max erzählt,
sie hätten ihn geweckt, ein Zentnerweib mit Hunden an
der Leine und einem Gigolo im Schlepptau sowie zwei andere
Gestalten, die früh um fünf im Seitenhof aus jener Tür
dort gepoltert seien, wo dieser Spielklub ausgehoben worden
sei. Über die Strasse verstreut Zeitungen, verweht
in Einzelblatter; Pisse, die an einer Mauer klebt, Erbrochenes;
zerschlagene Flaschen auf dem Trottoir, die Souvenirs
aus der vergangenen Nacht. Vom Limmatplatz her kommt
unrasiert, doch würdevoll im Gang der Clochard,
der bei der Heilsarmee logiert, und irgendwo tönt es aus
einem Autoradio: Don’t cry for me, Argentina!
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