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FÄLLT DIE STADT AUSEINANDER?
Fritz Hirzel, Fällt die Stadt auseinander?
TagesAnzeiger, Zürich, 2. Juli 1983, nachkorrigiert
.
Zürich an einem Samstagabend. Andere waren mit dem Auto aufgebrochen, hinaus in die Umgebung, vielleicht zu einem Gartenlokal, in dem sie mit Freunden bei einem Weissen sitzen
und plaudern konnten.Immerhin, es war Sommer, die
Nacht nicht allzu warm, einladend genug aber noch draussen
verweilen zu wollen. Wir hatten, es war neun geworden,
eigentlich nur vorgehabt im Quartier eine Runde zu drehen.
Mehr als zwei Stunden, voilà, sind draus geworden.
Und zunehmend schien der Bummel von einem Stadtgefühl
begleitet, das an Fremdheit, an Sonderbarkeit nichts
ausliess.
Es wer seit längerem das erste Mal, dass ich auf einer
dieser für Fussgänger in die Luft gehievten Gehpassagen stand,
die den Bucheggplatz wie eine Spinne überspannen: aus
dem Freizeitzentrum war Quartierfeststimmung zu vernehmen,
vom Nachtwind hergetragene Schunkelmusikfetzen
inmitten dieser Verkehrsanlage, Fariah-fariah und Zigeunerleben
für Zuhausegebliebene, das schien uns, die wir auf
diesem Höhenpfad aus Sichtbeton standen, denn doch zuviel.
Lag hier, in unserer Kehrtwendung, der Grund,
warum wir ins Abseitige gerieten? Ich hatte am Nachmittag
einen Magazinbeitrag gelesen, in dem das Netz
städtischer Autobahnverbindungen beschrieben war; vielleicht
war es des gewesen, was in mir die Neugierde geweckt
hatte, die kaputtgefahrene Rosengartenstrasse einmal zu Fuss
wieder hinabzugehen.
Nein, besser als im Vorjahr ist es nicht geworden,
im Gegenteil. Eines der Häuser, die Fassade abgasgeschwärzt,
grüsste uns wie ein Zeuge der Verwahrlosung. Die Fenster
waren zum Teil aufgerissen, Fensterläden ragten in den Himmel,
aus dem Hauseingang starrte das Gespenst der
Verlassenheit, nur zuoberst im Treppenhaus brannte
eine Glühbirne.
Und doch, voller Geheimnis, so faszinierend kam das Bild
mir vor, auf das wir bei der Quartierbeiz, dem Käferberg,
stiessen, die jetzt Zorbas heisst und als griechische Taverne
Zuspruch findet! Im Mattglas des Türfensters drehte
sich, die Köpfe der beiden vergrössert, nur im Schattenriss
zu erkennen, intim wie eine Grossaufnahme, ein
tanzendes Paar. Es war ein Bild, beredt, wie ich es aus dem
französischen Kino der Zwischenkriegsjahre zu kennen
glaube. Die Musik, vom Autolärm überdeckt, war für
uns, die wir auf der Strasse standen, nicht zu hören. Wir
mussten sie uns vorstellen!
Fünfspurig drehte der Verkehr sich auf die Hardbrücke
herunter, zum Bucheggplatz hinauf, aber viel schien in dieser
Nacht nicht los. Trotzdem war es da, das Gemisch
aus Lärm und Abgas. Wenn das alles sein sollte, so war
es verdammt wenig geworden, was die Benutzer
der Häuser an diesem abschüssigen Strassenstück noch
mit der Erlebniswelt derer verband, die pausenlos
in ihren Wagen hier durchfuhren und allenfalls die Turmuhr
der Wipkinger Post wahrnahmen.
Den Salon einer Coiffeuse sahen wir, die ein Schild
ans Fenster gehängt hatte: ihre Ferien, sie waren schon fast
um. Vor der offenen Tür eines Motorradgeschäfts war
ein Mann anzutreffen, der mit Stablampe auf dem Trottoir ein
Vehikel untersuchte, dessen Fahrer daneben stand.
Zuletzt kamen wir vorbei an einem Laden, der mit Pokalen
reihenweise vollgestellt war. In sämtlichen Grössen und
Preislagen waren sie zu haben, diese mit Zierrat überzogenen Glitzerkübel der Sportvereinskultur.
Der Mopedfahrer, der um eine Hausecke geprescht kam,
war es nicht gewohnt, dass Fussgänger ihm plötzlich
im Weg standen: fast hätte er mich angefahren. Dann hatten
wir es geschafft, die Rosengartenstrasse in ihrer
Nachtbeleuchtung lag hinter uns, doch irgendetwas hatten
wir mitbekommen, ein Gefühl, das uns besonders
auffiel in der Stille der Limmatstrasse und das mir in dieser
Art neu war, etwas wie ein leiser, stichelnder, in den
Ohren lokalisierbarer Schmerz.
Vorher noch, am Escher-Wyss-Platz, zwischen den mit
Sprüchen vollgesprayten Wänden der Fussgängerunterführung,
hatte ein Betrunkener hinter uns hergepöbelt: Alle
an die Wand stellen, erschiessen!
Die Langstrasse, für Durchgangsverkehr in dieser
Nacht gesperrt, erlebten wir im Ausnahmezustand. Die Utopie
vom Quartierleben, hier war sie real, in Nu erfüllt
von Italienerfamilien, die draussen in Geselligkeit noch
herumsassen. Die SBB-Unterführung war der
Bauarbeiten wegen definitiv dichtgemacht, Abschrankungen
und Wachpersonal wiesen Passanten zurück.
Andächtig fast verfolgten Zuschauer, wie Zugverkehr
und Bauarbeiten ineinandergriffen. Ein Car der
Fröhlich Reisen AG fuhr vor, Leute stiegen aus, einige der
Zuschauer nahmen in ihm Platz. Auf einer
Anzeigetafel war geschrieben: Gratisfahrt nach
Militärstrasse.
Am Limmatplatz bestiegen wir, die Füsse müdgelaufen,
den VBZ-Bus Richtung Bucheggplatz und harrten ungeduldig
auf der Plattform aus, um nur wieder herauszukommen.
Einige Rocker hatten rauchend mit ihren Bräuten die letzten
Plätze eingenommen und verkündeten gröhlend,
wessen Schwanz sie in der Bustür einzuklemmen vorhatten.
Fällt die Stadt auseinander?
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