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KAPITEL I



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Bis zur Häuserzeile drang ein Pfiff über die Geleise hinweg,

gefolgt vom Schlenkergeräusch eines Eisenbahnzuges, der kurz

vor Mitternacht Zürich-Hauptbahnhof verliess. Bob sass

in seinem Zimmer und schrieb, über die Schreibmaschine gebeugt.

Wie gerne er in einem der erleuchteten Wagen mitfahren

würde – Richtung Amsterdam, Richtung Ventimiglia, wo immer

die Reise hinging! Einen Augenblick lang dachte er, wie

verrückt und sinnlos es war, auf das Leben selbst zu verzichten

und soviel in dieses Buch zu stecken, aber dann las er die

letzten Sätze wieder und stellte fest, dass sie gelungen waren.

Leise stapfte er in die Küche und setzte Kaffeewasser auf.

Bevor er ans Fenster trat, löschte er das Licht. Über dem Geviert

der Altbauhäuser, die dem Schienenareal entlang überlebt

hatten, hing die Wärme eines Augusttages. Die Neufrankengasse,

die am Ende unversehens einen Bogen machte, war

menschenleer. Aus einer der Kneipen hörte Bob Stimmengewirr.

Eine Autotüre wurde zugeschlagen, ein Motor sprang an.

Bob beobachtete, wie einer der Zuhälter einen weissen Pontiac

Trans Am aus der Parklücke steuerte, an der Wirtschaft

im Eckhaus vorbei glitt, die Bauwand mit den Reklametafeln

passierte, ebenso die Tierhandlung, vor der sich

Abfallsäcke stapelten, und bevor er in die Langstrasse einbog,

die Bar mit den Stripperinnen.

      Unten, bei der Mopedhandlung im Haus gegenüber, sah

Bob noch immer den Mann stehen, der im Halbdunkel des Hofgangs

wartete und zu ihm herauf starrte. Die Hausfassade, vom

Licht der Strassenlampe notdürftig erhellt, wirkte düster mitsamt

dem Schaufenster, das zu dieser Stunde unbeleuchtet

war. Es war ein Mann in den Sechzigern, der mit vorgereckter Brust

dastand, brüchig und angespannt, als drohte er bei der

leisesten Berührung umzufallen. Er trug einen alten Tweedmantel,

den er bis obenhin zugeknöpft hatte, obwohl die Nacht

draussen warm und einladend war. Er sah aus wie ein Mann,

der mit den Träumen sein Selbstwertgefühl verloren

hatte. Nur der Blick, der zu seinem Stoppelkinn passte, war

ihm geblieben. Es war der Blick eines Mannes, der

es aufgegeben hatte sich den Erfordernissen des Lebens

in nüchternem Zustand zu stellen.

      Wer ist das? Was will er hier? fragte sich Bob, als er

im Dunkeln, schräg hinter dem geöffneten Fenster, stand und

zu ihm hinabschaute. Er hatte plötzlich den Eindruck,

der Mann unten könnte ihn gesehen haben, und trat einen Schritt

zurück. Will er etwas von mir? Bob fühlte sich nicht

gut. Mit jedem Gedanken beschäftigte ihn der Mann mit dem

Stoppelkinn stärker und stärker. Es war, als würde Bob

weggezogen von seinem Buch, hinab in ein Revier zerronnener

Hoffnungen. Und niemand konnte ihm sagen, wie er dort

wieder herauskam. Seit er bei Helen, seiner Tante, gewesen war,

hatte Bob diese Ahnung, dass eine Vergangenheit ihn

einzuholen begann, die er überwunden zu haben glaubte. Er hatte

sich aus New Jersey abgesetzt, um zu schreiben und

zu sich selbst zu finden. Doch jetzt kam es Bob vor, als könnte

er zuschauen, wie ihm die Hoffnung auf ein eigenes Leben

genommen wurde.

      Bob nahm die Pfanne mit dem Wasser vom Herd,

aber statt den Kaffee anzugiessen, liess er die Tasse stehen,

die er für sich vorbereitet hatte. Er trat ins Treppenhaus,

verharrte ohne Licht zu machen und horchte ins Dunkel hinein,

aber es war nichts ausser dem Knarren der Holzplanken

unter seinen Füssen. Die ersten Treppenstufen nahm er, indem

er sich der Wand entlang drückte. Das Mauerwerk roch

nach Fäulnis. Behutsam gelangte er hinunter in den ersten Stock,

tastete sich vorbei am Sicherungsbrett und erreichte im

Parterre die Wand mit den Briefkästen. Er stand einen Augenblick

lang ruhig und zwang sich durchzuatmen. Die Haustüre

war zu, aber nicht verschlossen. Er riss sie auf und sah, wie

gegenüber, aus dem Schatten des Hofgangs eine Gestalt

heraussprang.

      Der Mann im Tweedmantel bewegte sich erstaunlich behende,

obwohl er mit dem rechten Fuss bei jedem Schritt einknickte. Schwankend bog er um die Ecke, doch Bob folgte ihm und sah, wie

er die Strassenseite wechselte. Bei einem der Häuserblocks,

eine Querstrasse weiter, verlor Bob ihn aus den Augen. Der Mann

war in einem Innenhof verschwunden, verriet sich aber

durch die Geräusche, mit denen er sich an abgestellten Autos,

Baumaterial und einer Abfallmulde vorbei zwängte. Zuletzt,

als er kurz ins Licht einer Strassenlampe geriet, machte er mit

seinem Körper eine Bewegung, als wollte er ein Stolpern

auffangen. Er torkelte und verschwand jenseits der Strassenbiegung

in der Türöffnung eines Abbruchhauses, das am Ende der

Strasse lag, unmittelbar am Rand des Geleiseareals.

      Bob ging auf das Haus zu. Sein Schritt war zügig. Das Haus

sah alt aus, verwahrlost. Anscheinend stand es leer. Die

Fassade, abgasgeschwärzt, hob sich gegen den Nachthimmel

ab, die Konturen ein Schattenriss. Gerüststangen markierten

die Umrisse des Neubaus, der an dieser Stelle geplant war. Eines

der Fenster im zweiten Stock war aufgerissen, das Glas

zerschlagen. Ein süsslicher Gestank lag in der Luft. Die Finsternis,

die hinter dem Eingang herrschte, liess Bob zögern. Ein

herannahender Zug war zu hören, das schlagende Fahrgeräusch

im Sog der Geleise gesteigert, als biete das Mauerwerk

keinen Schutz.

      Der Lärm überschlug sich, als Bob die Haustür

aufstiess. Im Lichtwurf des vorbeiratternden Zuges konnte er

einen kahlgeschorenen kräftigen Burschen erkennen,

der sich im Flackerlicht gegen ihn erhob, als erleuchtete ein

Stroboskop seine Gestalt, die sich in Einzelbildern

bewegte, wie verlangsamt. Es war ein nackter muskulöser

Oberkörper, der mit dem Kopf aus dem Dunkel heraus

auffuhr. Es war ein tätowierter Arm mit einer Hand, die eine

leergetrunkene Weinflasche am Türbalken zerschmetterte

und mit dem Scherbenhals auf Bob losging. Die Augen blickten

kalt. Eine drohende Stimme rief:

      „Hau ab!“

      Gross leuchtete, brutal verzerrt, das Gesicht auf.

Der Kahlhäuptige stiess zu – frontal, wie ein Wachhund, dann

von der Seite. Bob hatte an ihm vorbeigewollt, die

Rechte schützend vorgehalten. Es ging nicht. Im Handrücken

spürte Bob einen stechenden brennenden Schmerz,

der ihn zurücktaumeln liess, zurück in die Sackgasse, die verlassen

da lag. Die Haustüre war zugeknallt, der Widerschein

des Zuges abrupt erloschen, das Getöse sich in der Entfernung

verlierend.

      Bob hatte Blut an seiner Hand.

      Ein Bus überholte Bob in der Seitenstrasse und hielt an.

Eine Italienerin stieg aus der hinteren Tür. Sie hatte zwei Bambini

bei sich. Sie starrte Bob an. „La festa, la festa”, quengelte

das Mädchen. Ängstlich nahm die Mama es bei der Hand. Der

Junge in ihrem Arm war eingeschlafen. „E finita, la festa”,

erwiderte die Italienerin. Bob verdeckte seine Hand. In raschen

Schritten ging er davon.

      Zu Hause war Licht. Fränzi, die Bob das Zimmer überliess,

in dem er sich mit seiner Schreibmaschine eingerichtet

hatte, war heimgekommen. Bob spürte den zweifelnden Blick

von Fränzi, als er ihr erzählte, was geschehen war.

Fränzi sagte:

      „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du morgen Zeit hast,

mir im Klub zu helfen. Ich brauche jemanden an der Theke.”

      „Ich weiss nicht, ob ich dir eine Hilfe sein würde.” Bob

betrachtete seine Verletzung, während er auf einem Stuhl hockte

und den Handrücken ins Licht hielt, damit Fränzi die

Schnittwunde reinigen und desinfiszieren konnte.

      „Es ist alles Wahnsinn, ich weiss”, sagte Bob, als sie fertig

war. „Es könnte der Mann sein, der gestern von der Polizei

aufgegriffen worden ist. Ich glaube, sie machen ihm Schwierigkeiten,

weil er keinen festen Wohnsitz hat. Möglich, dass sie ihn

gefragt haben: Und was ist mit den Angehörigen? und da, stell

dir vor, sagt der Mann, er sei mein Vater.”

      „Woher weisst du das?”

      „Die Polizei hat angerufen.”

      „Hierher?”, fragte Fränzi. Ihre Stimme tönte ungewohnt,

geradezu fremd. Bob kam es vor, als hätte Fränzi das von weither gesagt, wie durch einen Filter hindurch. Am liebsten wäre Bob

fort gewesen, fort und unerreichbar. Wie bin ich da hineingeraten?

Bob starrte auf die Wunde, die Fränzi ihm mit einem

Heftpflaster bedeckte. Sie war nicht tief, aber länger, als Bob

befürchtet hatte. Geradezu respekteinflössend sah sie aus.

Sie haben mich verwundet, dachte Bob. Jetzt kann es jeder sehen.

      „Die Polizei hat hier angerufen?” fragte Fränzi.

      Bob schüttelte den Kopf. „Das war bei Helen. Sie war

gerade nicht dort. Heidi, sie war dort – sie hat mich ans Telefon

gerufen.”

      „Hattest du einen bestimmten Grund ins Grütli zu gehen?”

      „Wieso?”

      „Einfach so. Schliesslich hat’s eine Weile gedauert, bis du

überhaupt einmal hingegangen bist. Und das war meinetwegen.”

      „Ich hatte einen Grund”, begann Bob zögernd. „Ich wollte

Helen das Geld zurückgeben, das sie mir geliehen hatte.”

      Fränzi räumte Merfen, Leukoplast und Schere beiseite, um

sich zu Bob zu setzen. Sie trug Jeans. Darüber hatte sie

ein schwarzes T-Shirt an, unter dessen Stoff sich ihre Brüste

abzeichneten. Noch immer blickte Franzi sehr erstaunt,

ihre dunklen lebhaften Augen von Bob nicht abwendend. Glaubt

sie mir nicht? dachte er.

      „Und von der Polizei”, fragte Fränzi. „Wer war am Apparat?”

      „Ich weiss nicht. Ein Detektiv, Schubiger oder so.”

      „Was hat er denn genau gefragt?”

      „Er hat sich erkundigt, ob ich das bin – Bob Franey? Dann

hat er wörtlich gefragt: ,Kennen Sie jemanden, der Zimmerli

heisst – Zimmerli Hermann, Jahrgang 1921.’ Ich hab nein gesagt.

Und darauf hat Schubiger sich entschuldigt und hinzugefügt:

,Es tut mir leid, aber der Mann hat gesagt, er sei ihr Vater’.“

      „Und was hast du darauf erwidert?”

      „Ich hab ihm gesagt, das könne nicht stimmen. Mein Vater

lebt nicht mehr. Er ist vor Jahren umgekommen. Bei einem Verkehrsunfall. Ich war dreijährig damals. Das geschah alles, bevor

Mutter nach New Jersey ging, wo sie Bert geheiratet hat.”

      „Mein Gott! Das hast du Schubiger alles gesagt?”

      Fränzi drehte Bob unverwandt ihr Gesicht zu. Sie hatte die Mundwinkel auseinander gezogen, als wollte sie lachen. Wie

Fränzi dasass, irgendwie unnahbar! Bob fand sie begehrenswert.

      „Nicht alles. Nur den ersten Teil.” Bob wischte sich eine

Träne aus dem Auge. Bin ich ein hoffnungsloser Fall? Jetzt lachte Fränzi wirklich. So finde ich Fränzi am schönsten, dachte

Bob. Wenn sie nachdenkt! Und wenn sie lacht!

      „Woher hat Schubiger gewusst, dass du im Grütli bist?”

      „Keine Ahnung. Er hat’s einfach versucht, nehme ich an. Mir

kam’s allerdings merkwürdig vor. Und sogar Heidi, die –

wie sagt man, Serviertochter – war einigermassen verwirrt, als sie

zu mir kam und sagte: Da ist jemand, der sich nach dir erkundigt.”

      „Hat sie nichts von Polizei gesagt?”

      „Ich bin nicht sicher, ich glaube nicht. Sie war ganz

durcheinander, noch als ich zurückkam.”

      „Heidi?”

      Bob zuckte die Schultern. „Möglich, dass sie verlegen war.

Oder sie wollte diskret sein.”

      „Vielleicht hat Heidi zu spät gemerkt, dass sie einen

Fehler macht. Nervös war sie, sagst du? Heidi ist neugierig. Sie

hat ein schlechtes Gewissen gehabt, glaube ich. Sie hat

sich, ich weiss nicht – gegenüber einem Bullen hat sie sich sehr

ungewöhnlich verhalten. So beflissen. Kann sein, dass

Schubiger sie eingeschüchtert hat. Ich glaube, Heidi hat einen

Fehler gemacht. Der Bulle – nein, er wollte nicht Bob

Franey an den Apparat, sondern Helen. Und bestimmt hätte sie –”

      Das Flackern in Fränzis gross gewordenen aufmerksamen

Augen! Bob senkte den Blick. Die rührende Aufmerksamkeit, die

Fränzi für mich aufbringt! Bob starrte auf seine Hand, die

verpflastert war. Monströs verpflastert.

      „– anders reagiert?”, fragte Bob. Er sah auf. „Das ist doch,

was du sagen wolltest. Der Bulle hat geglaubt, dass Helen

ihm einen Hinweis gibt. Das hab ich nicht getan, das stimmt.”

      „Du – ich weiss nicht. Ich frage mich nur, ob Heidi

sich nicht ganz in deinem Sinn verhalten hat.” Fränzi sah Bob

an. Sie lächelte.

      Bob wurde verlegen. „Wie meinst du das?”, fragte er.

      „Warum bist du nach Zürich zurückgekommen?”

      Bob spürte, wie die Frage ihn beschämte. Zuinnerst.

Ausgerechnet Fränzi, dachte er. Wie konnte sie ihm

diese Frage stellen! Bob hatte nie die Absicht gehabt hierher

zurückzukommen, nie. Das hatte er Fränzi mehrmals

gesagt. Zürich ist für mich die Stadt, aus der meine Mutter

kommt. Bob hatte nicht vorgehabt, hier länger zu bleiben.

War er in Milano Centrale nicht in den Zug gestiegen wie ein

Ahnungsloser, in den Zug nach Zürich, zugegeben,

aber wie hätte er ahnen können, dass er in diesem Zug

Fränzi kennenlernte?

      Bob erinnerte sich, wie Fränzi ins Abteil getreten war,

eine Zeitschrift in ihre Handtasche geklemmt. Er sah Fränzi, wie

sie ihm gegenüber am Fenster sass. Ein offenes

freundliches Lächeln, die Züge sanft, eine Spur rundlich, ohne

die Kanten um Nase und Stirn herum zu verwischen.

Sie hatte eine helle zarte Haut. Ihr Haar war hellbraun. Fränzi

trug es am Kopf zurückgesteckt. In ihrem Blick las Bob,

als sie ins Gespräch kamen, Neugierde und Erwartung. Fränzi

schien mühelos zu überspielen, was das Leben ihr an

Ernüchterung oder Enttäuschung gebracht haben mochte. Diese

Lebendigkeit, diese Ungebrochenheit, die Bob in ihren Augen

sah: ist es das gewesen, was mich sogleich zu ihr hingezogen hat?

Mochte sein, dass ihr Gespräch dadurch begünstigt

wurde, dass Fränzi zufällig Helen, Bobs Tante, und die Wirtschaft

kannte, die Helen in Zürich führte. Trotzdem ist Fränzi

es gewesen, die mir dieses Zimmer angeboten hat, dachte Bob.

Ist es also nicht auch für Fränzi offenkundig, dass ich

ihretwegen hier geblieben bin, allein ihretwegen?

      Bob senkte den Kopf. „Ich bin nicht zurückgekommen,

Fränzi. Ich bin hier, weil der Zufall es gewollt hat. Oder meinst du,

es sei kein Zufall, dass wir uns kennengelernt haben?”

      „Und wenn du diesem Mann nachläufst, der sagt, er sei

dein Vater? Willst du nicht herausfinden, was es damit

auf sich hat? Bob, du gehst einer Spur nach, einer Vermutung.

Das ist es, was dir keine Ruhe lässt. Und ich glaube,

deshalb hast du dich entschlossen herüberzukommen.”

      „Das ist es nicht, im Gegenteil. Ich bin aus meinem Job ausgestiegen, weil ich wegkommen wollte aus New Jersey und

allem, was Mutter und Bert aus mir gemacht haben.”

      „Das muss kein Widerspruch sein.”

      Bob schüttelte den Kopf. „Was soll ich mit all dem im Sinn

haben? Ich hab die Vergangenheit nicht gesucht. Das hat alles erst

angefangen, nachdem ich im Grütli gewesen bin.”

      „Hast du Helen von diesem Anruf erzählt? Von diesem Bullen?”

      „Ja.”

      „Und wie hat Helen drauf reagiert?”

      „Mir ist sie überdreht vorgekommen, beinahe schrill. Helen hat

sich über die Polizei mächtig aufgeregt, über diesen Schubiger:

was der sich herausnehme, mich an ihrem Telefon zu belästigen!

Zu Zimmerli war aus ihr kein Wort herauszubekommen.

Helen hat ihn nicht gesehen, sie hat nichts von ihm gehört. Ihr ist

es unverständlich, wie der Mann auf den Gedanken kommt,

mein Vater sein zu wollen. Das sei so schwachsinnig, darüber rede

sie nicht.”

      „Ist das alles?”

      „Ich hab mich gefragt, während ich auf Helen wartete:

Wer ist dieser Zimmerli? Wie weiss er überhaupt, dass ich hier bin?

Da ist mir etwas wieder eingefallen. Es war bei unserem Besuch

im Grütli. Erinnerst du dich an den Betrunkenen, der zu uns an den

Tisch gekommen ist, nachdem Helen uns allein gelassen hat.”

      Der Mann hatte so unauffällig am Nebentisch gesessen, dass

er ihnen im Durcheinander nicht aufgefallen war. Für Bob

hatte es im Grütli anderes gegeben, was seinen Blick staunen

machte, als er von Helen eine Sekunde in Ruhe gelassen

wurde und das Bierglas hob. Vom Tisch aus konnte man durch

das Wirtshausfenster sehen, wie die Rangierlok riesengross

sich langsam nähernd im Halbdunkel der Dämmerung

Eisenbahnwagen hinter sich herzog – dicht, gross, übermächtig,

lautlos im bierpfützigen Gelärm, als wollte sie nächstens

selber im Lokal drinstehen.

      Unversehens war der Mann dagestanden.

      „Mich hat er übergossen mit seinem Redeschwall”, sagte

Fränzi. „Und erst, was er erzählt hat! So rasch werd ich das nicht

vergessen.”

      Ist der Mann nicht bei Trost gewesen, als er bei Fränzi

sich aufgebaut hat, den Blick auf mich gerichtet? dachte

Bob. Ist der Mann nicht ausser sich geraten, als er auf uns beide

eingeredet hat, seinen Einer Roten bedrohlich in der Hand

schwenkend? Bob hatte Mühe gehabt ihn zu verstehen. Der Mann

war betrunken. Er versuchte zu erzählen, wie seine Mutter

als junge Frau ihren Mann verloren hatte. Und er seinen Vater. Der

Mann hatte blasse knochige Hände, die nicht zu übersehen

waren, da er mit ihnen beredt herumfuhr. Den Arm hielt

er abgewinkelt, während er mit dem Zeigefinger die Bier- und

Rauchluft zerteilte. Weihnachtstag sei gewesen, bis ins Tal

hinab hätte es geschneit. Mutter sei von der Frühschicht gekommen,

eine der Textilarbeiterinnen bei Heberlein in Wattwil. In der

Fabrik hätte auch der Vater gearbeitet, der Färber gewesen sei.

Die Mutter, rüstig, sei den Hang hinangestiegen zu ihrem

Heimetli, zu dem ein Stück Boden gehörte, welches sie nebenher

bewirtschafteten. Es sei nachmittags gewesen, da hätten

sie den Vater gebracht – auf einer Trage liegend, kaum mehr

ansprechbar. Ein Arzt, der mitgekommen sei, hätte der

Mutter eine Flasche gegeben, die Medizin. Hier machte der Mann,

ins Hochdeutsche fallend, mit der Hand eine Bewegung,

die gestochen scharf ausfiel: die Medizin, einfach die Medizin,

so haben sie dem Zeug gesagt! Jede Stunde einen Löffel

voll. Das kommt schon wieder. Nur warm muss er haben! Sie

hätten den Vater unten auf die Ofenbank gebettet, das

Schlafzimmer im oberen Stock sei ungeheizt gewesen. Weil sie

aber doch Weihnachten gehabt hätten, sei Mutter noch rasch

ins Dorf einkaufen gegangen – das Nötigste nur, um baldmöglichst

bei ihrem Mann zurückzusein. Mit brechender Stimme,

den Wein verschüttend, kam der Betrunkene zum Schluss.

Hansueli! Hansueli! hätte sie gerufen, aber ihr Mann sei

schon tot gewesen. Der Betrunkene machte, während er mit stierem

Blick dastand, eine Pause; schliesslich fügte er hinzu,

hundert Franken hätte sie noch bekommen, weil ihr Mann in der

Betriebsfeuerwehr gewesen sei.

      „Eigenartig”, sagte Bob. „Der Betrunkene hatte seinen

Auftritt, als Helen gerade nicht in der Beiz war. Ich hab sie auf den

Mann angesprochen. Sie sagt, sie weiss nicht, wer damals

am Nebentisch gesessen hat. Ich hab versucht den Betrunkenen

zu beschreiben. Da hat sie kurzerhand abgewunken. So einen

kenne sie nicht.”

      „Sonst hat Helen jeden im Auge, der bei ihr über die

Schwelle kommt. Weisst du, was sie zu Dora, ihrer Vertretung,

gesagt hat, als sie nach Jahren das erste Mal einen Abend

ausgegangen ist? Hör zu, hat sie zu Dora gesagt, das Wichtigste

ist: Nie den Hintern zur Türe drehen! Immer die Tür im Auge

behalten!”

      „Seltsam”, sagte Bob. Er seufzte. „Was willst du machen?

Sie sagt, sie kennt den Mann nicht.” Ungeduldig rückte Bob auf dem

Stuhl herum. Hoffnungslos! Es war Bob klargeworden,

dass er bei Helen nicht weiterkommen würde, zumindest nicht

im Augenblick. Noch etwas fiel Bob ein. Ist in der Nacht

nicht etwas anderes noch gewesen? „Ich erinnere mich, dass

der Mann nach seinem Auftritt plötzlich weg war, wie

verschwunden aus der Beiz. Erst beim Weggehen, als wir auf

der Strasse standen, habe ich den Mann nochmals gesehen.

Er trat aus einem Hinterhof, wir waren beim Neubau dort stehen

geblieben. Hast du gesehen, wie er gegangen ist?”

      „Ich war erleichtert, als wir den Mann los waren. Ich habe

ihm nicht nachgesehen.”

      „Du hast nicht gesehen, ob er hinkt?”

      „Hinkt? Nein.”

      „Du hast nicht zufällig –”

      „Hab ich nicht gesehen, nein.”

      Schade. Bob war nicht sicher. Letzte Nacht hatte er

den Mann nur im Abstand einiger Meter gesehen, mit Stoppelkinn,

im Tweedmantel, verwahrlost. Das war aber nicht, worauf

Bob hinauswollte. Er sagte:

      „Ein, zwei Minuten vor ihm ist ein zweiter, jüngerer Mann

aus dem Hinterhof herausgekommen, erinnerst du dich?

Du hast ihn gegrüsst. Du hast im Scherz zu ihm gesagt: ,Was

machen denn Sie hier?’ Und er hat im Vorbeigehen

geantwortet: ,Das frage ich mich auch.’ Dann ist er lachend in einen

BMW gestiegen und weggefahren.”

      „Das war Flühmann. Max Flühmann.”

      „Ich hab die Idee, die zwei könnten im Hinterhof miteinander verabredet gewesen sein. Merkwürdig, was?”

      „Wenn du mich fragst, ja.”

      „Dieser Flühmann. Woher kennst du ihn?”

      „Aus dem Klub”, sagte Fränzi. “Flühmann – er gehört zu den Mitgliedern, mit denen du reden kannst. Wenn du verstehst,

was ich meine.”

      Bob schwieg.

      „Er – Flühmann gibt dir nicht das Gefühl, du seist

ein Dreck, nur weil du im Klub arbeitest. Und was er an der Theke

anschreiben lässt, bezahlt er ohne dumme Sprüche.”

      „Was hat Flühmann in jener Nacht dort gemacht?”

      Fränzi lächelte skeptisch. „Ich hab keine Ahnung. Im Klub

gibt es Leute, bei denen ist Flühmann sehr umstritten. Es hat mit

den Dingen zu tun, die er beruflich macht. Übrigens, er ist

häufig drüben in  den Staaten.”

      Bob spürte, wie seine Wunde zu schmerzen begann. Er hielt

die Hand leicht abgerückt, als befürchtete er mit ihr anzustossen. Unvorstellbar, wie ich mit dieser Hand eine Kaffeemaschine

bedienen soll! Andererseits weiss Flühmann vielleicht, was es mit

diesem Zimmerli auf sich hat.

      „Du brauchst jemanden, der dir morgen an der Theke hilft,

hast du gesagt?”

      „So ist es.”

      „Und wann soll das sein?”

      „Du kannst nach dem Mittagessen kommen. Sagen wir um zwei.”

      „Ich werd dort sein.”


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