ICH WEISS NICHT, WOVON DU REDEST
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel III
NAMASKAR HEISST WILLKOMMEN, VON EINER LEICHTEN Verbeugung mit gefalteten Händen begleitet”, sagt der Kellner,
der Huhn mit Cashewsauce aufträgt, und Rike Mohaupt, die danach gefragt hat, wirft den langen, blonden Haarschopf herum,
ein entzücktes Lachen um den rotgeschminkten Mund. „The smell
of India!” sagt Fabio Calvani begeistert. Er schnuppert.
Er reibt die Hände. Er sieht Rike an. Sie sitzt ihm an einem der
weissgedeckten Tische am Fenster gegenüber, draussen
kommt eng umschlungen ein Liebespaar die Pariser Strasse entlang,
und zärtlich legt Fabio, bevor er den ersten Bissen zu sich
nimmt, seine Hand auf ihre. Er sagt: „It’s tough. But we move on.”
Sie blickt ihn an. Letzte Nacht, denkt sie, hat sie das erste
Mal mit ihm geschlafen. Sie sagt: „Hein?” Sie lächelt.
„Ich weiss nicht, wovon du redest.” Er drückt ihr die Hand.
Er sieht ihr in die Augen. Er sagt: „Ich hab dich
geweckt, letzte Nacht im Bett, da hast du gesagt. Hein? Ich
bin ja gar nicht im Bett!” Und dann, ihre Blicke
sinken ineinander, sagt er: „Hörte sich an, als seist
du aus allen Wolken gefallen.” Sie hat ihr Lachen um die Lippen,
ihr entzücktes Lachen, sie schüttelt den Kopf, die Augen
gross, nah, fragend, verträumt, die Augenbrauen gehoben, und
seltsam sanft sagt sie: „Ich weiss nicht, wovon du redest.”
Er lässt ihre Hand los. Er senkt den Blick. Er denkt. er ist ihr
bedrohlich nah. Er denkt, er ist himmelweit von ihr
entfernt. Er sagt: „Hein? Kann ja sein, du hast festgestellt,
du bist überhaupt nicht, wo du zu sein glaubtest.
Kann ja sein, du hast festgestellt, in welcher Situation du dich
befindest. Hein? Ich bin ja gar nicht im Bett! Jedenfalls –
es hörte sich an, als erlebtest du eine böse Überraschung, nicht
die Art auf ewig Scheisse, aber peinlich – das auf jeden
Fall.” Er kratzt die Brust. Er lacht. „Wenn du nicht im Bett warst,
wo warst du dann?” Sie hat, denkt Rike, nichts festgestellt,
nichts von dem, was er ihr in Erinnerung ruft. Sie ergreift das
Besteck. Sie blickt auf den Teller. Sie nimmt den ersten
Bissen. Sie kaut. Sie spürt den Schauder der Cashewsauce
im Gaumen. Sie schluckt den Bissen Hühnerfleisch
herunter. Ein Bissen der Wohllust? Sie blickt Fabio an. Sie lächelt.
Sie denkt, in ihrem Lächeln versenkt sie seine Zweifel.
Es ist das schelmische Lächeln der Komplizin. Sie beugt sich
vor. Sie hebt beide Hände zu einer öffnenden Geste. Sie
schüttelt den Kopf. Namaskar heisst Willkommen, von einer
leichten Verbeugung mit gefalteten Händen begleitet.
Sie sagt, jede Silbe betonend: „Hein? Ich weiss nicht, wovon
du redest. Du hast mit mir geschlafen. Es war nicht
zu kurz. Es war nicht zu lang. Es war überfällig.” Er nimmt,
hungrig, mit Genuss, den ersten Bissen. Er sagt:
„It’s tough. But we move on.”
Und was gibt’s als Wachhundzulage? Dienstagnachmittag, 2. Januar 1940. Es ist Krieg, und
der Krieg hat sich gut angelassen, es ist ein Blitzkrieg, sagen
sie, es ist ein Siegeszug, und im Bayerischen Viertel
sehen sie das genauso. Der Krieg hat die Voraussetzungen
des Zusammenlebens verändert, und wer sich nicht auf
die Seite der Sieger stellt, begeistert, geschlossen, hält sich
bedeckt. Und die Einwohner der Nördlinger Strasse
oder was von ihnen übrig geblieben ist, gehen ihren durch
den Krieg erschwerten Alltagsgeschäften nach, klaglos,
entschlossen. Es ist ist frostig kalt, August Mohaupt hat sich
warm angezogen. Er denkt, der Krieg ist vier Monate alt.
Mohaupt hat nicht nein sagen können. „Es geht“, hat von Fürich
gesagt, „um das Geburtstagsgeschenk der Reichsbank
für den Führer.“ Aber das ist es nicht, denkt Mohaupt. „Seien
Sie nicht dumm“, hat von Fürich gesagt, an der Brille
gerückt und gelacht. Er verspricht Mohaupt einen Jahreslohn, wenn
er ihm das Ding beschafft. Das ist es, denkt Mohaupt. Das
Ding ist die Aufführungspartitur von Immer feste druff! und im Besitz
von Kapellmeister Willy Collin. Der wohnt Habsburger Strasse 11, Erdgeschoss. W. Israel Cohn ist er dort jetzt angeschrieben.
Mohaupt beobachtet ihn. Dienstag, hat er herausgefunden, ist der Kapellmeister im Jüdischen Kulturbund engagiert. Dienstag,
später Nachmittag, es dunkelt schon halb, steht Mohaupt mit
Schlapphut auf der Habsburger Strasse vor dem Haus Nummer 11. Niemand weiss etwas. Eine schöne Szene. Der Hauswart
lauert. Er hat Gummihandschuhe, Taschenlampe, Werkzeug
und Draht dabei. Der Kapellmeister tritt aus dem Haus,
begleitet von Hedwig Collin, seiner Ehefrau. Zwei Mädchen gehen
vorbei. Eiseskälte. Kriegsverdunkeltes Treppenhaus. Stockfinstere Wohnung. Wunderbar, denkt Mohaupt. Er steigt ein. Er sucht
und findet das Ding und behändigt es, als plötzlich Collin in der Tür steht. „Es ist die Reichsbank”, sagt Mohaupt. „Sie wollen das
Ding als Geburtstagsgeschenk für den Führer.” Er legt die Partitur
von Immer feste druff! auf den Tisch. Collin denkt, Jetzt
aber sofort raus hier! Das müsste er jetzt sagen, scharf, schreiend,
kampfbereit. Stattdessen sagt er: „Ich hab auch Lohengrin.”
Mohaupt schüttelt den Kopf. „Immer feste druff! wollen
sie.” „Und wer sind Sie?” „Mohaupt, August Mohaupt, Hauswart,
Haberlandstrasse 7.” Er will Collin die Hand reichen, hat
aber die Gummihandschuhe noch an. „Haberlandstrasse?” fragt
Collin. „Haben sie die nicht umbenannt?” „Doch, doch. Heisst
jetzt Nördlinger Strasse.” „Sie steigen in meine Wohnung ein und
–” „Ein Mieter, von Fürich, hat die Idee gehabt mit Immer
feste druff! Er ist bei der Reichsbank.” Und, Blick geradeaus: „Ich bekomme einen Jahreslohn dafür! Einen Jahreslohn! Dreitausend
Reichsmark!” „Was Sie hier machen –”, sagt Collin, lacht
abgerissen, hustet und räuspert sich. „– das ist Einbruch, Diebstahl,
Hehlerei.” „Nicht, wenn die Reichsbank bezahlt”, sagt Mohaupt,
schaut ungläubig und grinst. „Ach ja?” sagt Collin. Dufte kann
er nicht sagen, aber etwas deplatziert kommt er sich vor mit dem
Hinweis auf das Recht, das es für Juden nicht mehr gibt. Aus
dem Treppenhaus sind hastige Schritte zu hören, eine Tür fällt ins
Schloss, ein Junge schreit „Heil Hitler”. Wieder Schritte
oben, die Tür wird aufgerissen, ein Stiefelschlagen, ein Älterer
fragt: „Und was gibt’s als Wachhundzulage?” Der Junge:
„Sechs Reichsmark im Monat.” Ein klatschender Schlag. Ein Fluch.
Stille. „Das sind die Leute, die sie jetzt hier einquartieren.”
„Wem sagen Sie das.” Noch ein Schlag. Ein gurgelnder Schrei.
Ein Lachen. Mohaupt zuckt zusammen. Er macht einen
Schritt auf Collin zu. Er flüstert: „Machen wir halbe-halbe?” „Achtzig-
zwanzig.” „Siebzig-dreissig”, entgegnet Mohaupt, Tunnelblick,
Stirn gerunzelt. „Meine Frau will an die Ostsee nächsten Sommer.”
„Ostsee! Ihre Frau! Das interessiert mich nicht.” Collin blickt
leer. Er tritt vom linken Fuss auf den rechten. Er lacht. Mohaupt
zieht die Gummihandschuhe aus. „Sagen Sie das
nicht. Sie hat für Musik was über.” „Musik!” Collin greift in sein
mageres, blasses Gesicht. Er kratzt sich. Er geht zum
Tisch. Er ergreift die Partitur. „Denken sie an eine Wiederaufführung?” „Wiederaufführung? Ich hab keine Ahnung.
Ich weiss nur, was von Fürich mir gesagt hat. Es ist ein
Geburtstagsgeschenk.“ Collin nickt. „Das Geburtstagsgeschenk
der Reichsbank für den Führer. Ich habe verstanden.”
Er überlegt. „Es ist Die lustige Witwe, die Hitler liebt. Ist Lehár
in Ungnade gefallen? Immer feste druff! hat Hitler, soviel
ich weiss, nie gesehen.” Und, nach einigem Nachdenken, ein
flüchtiges Lächeln im Gesicht: „Also dann – Siebzig-dreissig.
Einverstanden.” Er lacht übertrieben. Er drückt die Partitur an sich.
Er blickt Mohaupt an. „Erst Kohle, dann Partitur.” Mohaupt
salutiert. „Das ist ein Wort. Ich melde mich.”
Rike Mohaupt denkt, sie hat
das lange nicht gehabt. Wolkenloser blauer Himmel, Liegestuhl, Sonnenbrille, Fruchtsaft. Sie sitzt in der Strandbar an
der Spree, sie hält die Beine, sonnengewärmt, nebeneinander
gestellt, gestreckt, überschlagen, sie sonnt sich im
Liegestuhl, sie fühlt sich wohl. Fabio Calvani hat ihr den
Fruchtsaft, einen Mix mit Mango, gebracht. Er sitzt
im Liegestuhl neben ihr. Sie denkt, sie ist verliebt. Sie denkt,
sie ist angekommen. Es ist früher Nachmittag, ein Tag
zum Nichtstun, ein Sonntag im Mai, ein Tag zum Träumen. Hebt
sie den Blick, sieht sie Touristen auf der Spreeprinzessin
vorm Bode-Museum, aber sie hebt den Blick nicht, sie ist ganz
bei sich. Die Zeit scheint angehalten, es ist nichts los,
alles flirrt und wird leicht, ein Flaniertag. Die Liegestühle am
Wasser sind gut belegt, links Fabio, der eine SMS
bearbeitet, rechts zwei junge Polinnen, sehr beschäftigt, wenn
sie dem glauben will, was beide sich erzählen, neue
Bekanntschaften sichten, Dates organisieren, Kontakte knüpfen,
Kontakte festigen, sich nicht aus dem Rennen nehmen,
im Geschäft bleiben, die Fäden in der Hand behalten, die ganze
Hinterlassenschaft der Nacht, Sex, Alkohol, Partnerschaft,
Studium, Berlin, Praktikum, Fortkommen, Drogen, Postgraduate,
Lebenshunger. Die Brünette, hübsche, lange Beine, raucht
und sagt: „Als ich am Morgen aufwache, steht er neben dem Bett,
angezogen, und sagt mit dünnem Lächeln, Sophie, es war
so geil, aber ich – das Ding ist, ich hab eine feste Freundin.” Die
Kollegin mit halblangem, blondem Haar und Neigung zur
Rundlichkeit lacht und sagt: „Was, der? Und ich hab gedacht,
der ist heiss. Meistens seh ich mir einen Kerl an, bevor ich
ihn mit aufs Zimmer nehme, aber der gestern hat mir was in den
Drink gemischt, ich war sowas von weg.” Sie packen ihre
Taschen, setzen beide ihre Highheels auf und stapfen den Uferweg
davon. Rike legt ihre Hand auf die von Fabio und sagt:
„Also – ich hab das Gefühl, wir sind alte Säcke geworden, wenn
ich die Jugend so reden höre. Muss echt anstrengend
sein, das mit Sex and the City heute.” Fabio blickt angestrengt
zum Bode-Museum hinüber, hebt seinen Drink zum Mund,
zieht am Strohhalm, lacht, drückt ihre Hand und sagt: „Ich weiss
nicht, wovon du redest.”
Rike hat sie mitgenommen, die Frühlingsgefühle,
den Augenblick des Einvernehmens mit Fabio an jenem
Sonntag im Mai, den Geruch der Sonnenschutzmilch,
UVsensitives Garnier Ambre Solaire, das auf der Gesichthaut
haftet, die Verheissung des Miteinanders in den
Liegestühlen der Strandbar an der Spree, die Süsse des
Fruchtsafts, den Mix mit Mango, durch den Strohhalm
eingesogen, die Erfüllung des Glücks, das ihr zu Füssen liegt,
den Duft der Blüten im Spatzengezirp, im Taumel des
Verliebtseins, den Geschmack der ruhenden, sommerwarmen,
von Zuversicht, ja Fröhlichkeit getragenen Stimmung,
den Blick auf das Wasser im Fluss, das Vorbeiziehen der
Ausflugsschiffe, das Versprechen im Kapital des
Vertrauens der unausgesprochenen, geschenkten, beiderseitigen
Erwartung. So, denkt Rike Mohaupt, als sie den Tag
in der Galerie an der Brunnenstrasse beschliesst, so könnte
es bleiben, so könnte es immerzu bleiben, ein Leben
lang vielleicht, eine ganze Weile zumindest noch. Das Telefon
läutet. Sie nimmt ab. „Carter & Domori. Ich bin Rike
Mohaupt. Was kann ich für Sie tun?” Aber dieses Mal ist es nur
Vivian, die benachbarte Galeristin, die in Eile anruft,
Vivian Kretschmar, die am Mittag vorbeigekommen war. Hat
sie den USB-Stick bei ihr liegen lassen? Nein, hat sie
nicht, sagt Rike, und als sie aufgelegt hat, blickt sie durchs
Schaufenster der Galerie hinaus auf die Brunnenstrasse,
auf der eine Art von Leben vorüberzieht, das nicht das ihre ist,
sie lacht angepickst und denkt, sie ist der Fisch,
der im Aquarium blubbert, ja, das ist sie, der Fisch, der im
Aquarium blubbert, ungläubig, stumm, fremd, sie streckt
sich, macht die Arme lang, reckt den Oberkörper, es ist kurz nach
sechs, das sieht sie am Bildschirm, sie schaltet den Rechner
aus, sie steht auf, sie ist in diesen Tagen in der Galerie
allein, Fabio Calvani ist nach NYC geflogen. Sie steckt ihre Sachen
in die Handtasche, tippt den Sicherheitscode ein, schliesst
die Galerie ab und tritt auf die Strasse.