Rike Mohaupt   weiter  zurück



ABGEREIST



               Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel II


WENN DU’S BIS DREISSIG NICHT GESCHAFFT HAST,

schaffst du´s nie, denkt Rike. Eigentlich heisst sie Friederike, sie ist geboren und aufgewachsen in Brooklyn, dem sperrigen,

eigensinnigen Vorhof der funkelnden oberen Etage Manhattan,

in Brooklyn ist ihre Mutter zuhause, Ireen Mohaupt,

Photographin, Mitte sechzig, sie lebt in einer in die Jahre

gekommenen Atelierwohnung an der Hooper Street,

im nichtjüdischen Teil der verkehrsberuhigten, mit Autos zugeparkten

Wohnstrasse, und im frühlingshaften Licht dieses Nachmittags,

das von der Seite durch das Fenster auf den Wohnzimmertisch fällt,

sagt Rike, eigens dazu hergekommen, zu Mom: „Ich hab

mich von Stephen Wagoner getrennt.” Zuerst reagiert Ireen gar

nicht, sie öffnet umständlich die Tür zur Dunkelkammer,

die sie noch immer benutzt, greift nach dem Autoschlüssel, den sie

dort verlegt hat, dreht sich um, lächelt und fragt: „Hat er eine

andere?” Rike wirft den Kopf herum, verlegen, nervös.

Daran hat sie noch gar nicht gedacht. Stephen Wagoner? eine

andere? Sie weiss, er hat sich an Mom herangemacht

von Anfang an, er hat sie auf seine Seite gezogen. Rike sagt:

„Nein. Hat er nicht.” Mit Schulter und Oberarm stemmt

Ireen gegen die Dunkelkammertür, die seit Jahren klemmt, kehrt

ins Wohnzimmer zurück, in der Hand den wiedergefundenen

Autoschlüssel, den sie in die Schale auf der Kommode fallen lässt.

Ireen sagt: „Was ist es dann?” Diese Fragen, denkt Rike

erstaunt, dann ärgerlich. Muss das sein? Mom neigt zu einfachen,

direkten Erklärungen, schon immer, aber Rike hat alles

gesagt, alles, was es zwischen Tochter und Mutter dazu zu sagen

gibt. Sie hat Lust aufzustehen und einfach zu gehen,

rasch und wortlos zu gehen, obwohl sie doch gerade erst

gekommen ist. Abwehrend sagt Rike: „Es ist – ich kann

nicht mehr, er frisst mich auf.” Ireen, sprachlos: „Er –” Sie reisst

ab, schweigt betreten. Fällt ihr jetzt nichts mehr ein?

Rike blickt zu Boden. Hat Mom sich das anders vorgestellt,

das mit Stephen Wagoner? Rike gibt sich einen Ruck,

sie sagt, scharf diesmal: „Ja. Er frisst mich auf.” Sie wischt eine

Haarlocke aus dem Gesicht, die Geste der Hand zärtlich,

sie lächelt, dann legt sie nach. „Es ist imgrunde nie etwas

gewesen. Nicht zwischen uns. Nicht wirklich.” Ireen löst sich von

der Kommode, sie fährt mit der Hand durch das ergraute,

blondgefärbte, kurze Haar, eine hastige Bewegung. „Nimmst

du eine Tasse Tee?” Rike will nicht solange bleiben,

sie wehrt ab, Ireen lässt sich in den Sessel am Fenster fallen,

sie sagt, erschöpft: „Das sind Neuigkeiten.” Rike steht

vom Tisch auf, sie macht einen Schritt Richtung Fenster, zögert,

Blick auf die augenblicklich menschenleere Hooper

Street, sie tritt mit hängenden Armen an den Sessel, in den

Ireen versinkt. Als sie, denkt Rike, hier aufwuchsen,

sie und Annie Wanamaker, gabs hier noch auf der Strasse

spielende Kinder. Sie sind verschwunden, denkt Rike,

abgeholt, zur Nachhilfe abgestellt. Rike sagt: „Ich werde nach

Berlin gehen. Ich werde als Übersetzerin arbeiten.”

Ireen hebt den Kopf. Sekundenlanges Schweigen, dann sagt sie:

„Berlin? Bist du sicher, dass du da hinwillst?” Mom,

denkt Rike. Erst reagiert Mom verblüfft, dann nachdenklich,

mit Vorbehalt. Zuletzt sagt Ireen: „In Berlin hat August

Mohaupt gelebt. Dein Urgrossvater. Er ist Portier gewesen.

Portier und Hauswart. Im Bayerischen Viertel. Von ihm

hat es geheissen, er hat einen gewissen Willy Collin erschlagen,

einen Kapellmeister. Aber das stimmt nicht. August

Mohaupt, dein Urgrossvater, hat Fussball gespielt.” Rike lacht

ein abgerissenes, dünnes Lachen, sie tritt dicht ans

Fenster, sie fragt sich, schliesst das eine das andere aus?

Ireen schüttelt den Kopf, stemmt den Körper aus dem

tiefen, abgegrabschten Sessel, seufzt vernehmlich, stellt sich

neben die Tochter, ihr einziges Kind, ans Fenster,

umfasst ihren Arm, ihren Ellbogen. Zuletzt nimmt Rike die Hand

von Mom, hält sie fest und sagt: „Und wer – wer ist Willy

Collin, dieser – dieser Kapellmeister?” Ireen schüttelt den Kopf,

als hätte sie das alles längst vergessen, Ireen sagt:

„Ich weiss es nicht. Es heisst, er hat bei Humperdinck studiert.

Es heisst, er hat Wagner dirigiert.” Rike fragt: „Ein Jude?”

Ireen drückt die Hand ihrer Tochter, leise sagt sie: „Wie’s aussieht,

haben erst die Nazis ihn zum Juden gemacht.” Eine seltsame

Geschichte, denkt Rike. Alles solange her. Sie zieht die Hand

zurück, die Lippen verzogen, legt Ireen den Arm um die Schulter

und sagt: „Mom, mach dir um mich keine Sorgen. Das

mit Stephen Wagoner – Das ist einfach nur schief gelaufen.

Glaub mir. Wirklich.”


Schief gelaufen, das kann passieren, denkt Rike. Sie muss

sich nicht hinterfragen. Absturz, Neustart. Das gibts andauernd.

Dienstagmittag ist sie in Berlin-Tegel gelandet, unbesorgt.

Fabio Calvani, American abroad, Firmengründer, holt sie am

Flughafen ab, er ist nicht überrascht, denkt sie, er sperrt

die Galerie zu, aber er trägt sie nicht über die Türschwelle, und

als er sie nach Hause bringt, stellt Rike fest, es ist in

Berlin-Moabit, wo er die Wohnung hat und ihr einen Teil davon

überlässt, Quitzowstrasse 107, Vorderhaus, viertes OG,

ein Wohnzimmer mit Aussicht, Westhafen im Blick, abgewickelter

Güterbahnhof, das wird Teil der Brache sein, von der

er geschrieben hat. Jetzt, es ist Freitagabend, sie steht am Wohnzimmerfenster, ein grosser Nachthimmel, eine

Maschine im Anflug auf Tegel, sie denkt, sie sitzt da selber drin,

sie ist so neu hier, der Blick aus dem Fenster so fremd,

sie ist abgereist, sie ist nicht angekommen. Die Wohnung hat Morgensonne, für ein Balkonfrühstück ist die Strasse

zu laut, es ist alles, wie sie es sich vorgestellt hat, als sie am

Morgen nach der Ankunft auf den Balkon tritt, der

Hauswart fegt, der Lump tritt aus dem Haus, zwei Mädchen

gehen vorbei, nur dass sie Fabios Stimme im Ohr

hat, die ihr zuflüstert: „Das ist Hans Buhlicke, der Hauswart.

Buhlicke, die Plaudertasche.” Es sind vier grosse,

helle, hohe, leere Zimmer, die Fabio, was ihr entgegenkommt,

nicht eingerichtet hat, eigentlich hat Rike Lust die

Erkundungstour durch die Wohnung nochmal zu machen,

aber gleich kommt Vivian vorbei, Vivian Kretschmar,

Galeristin, also geht Rike zu Fabio, der in der Küche steht.

Sein Handy geht, er nimmt ab, er sagt: „Perspective?

I don’t know.” Er lacht. Er hat, denkt sie, immer viel gelacht,

aber seit er in Berlin ist, lacht er noch mehr. „No, no. It’s

Brunnenstrasse.” Das ist, wo er die Galerie hat. „Yes, it’s tough.

But we move on.” Er steckt das Handy weg, er sagt nicht,

von wem der Anruf gewesen ist, er steht am Tisch, in der Hand

eine Flasche Bordeaux, die er mit dem Sackmesser

öffnet, er stösst zwei Gläser aneinander, die er dem Einbauschrank

entnommen hat, ein tiefer, voller Klang, dazu Rikes kurzes,

helles Lachen, ein schöner Augenblick. Sie ist für Fabio eine Art Zwilling, denkt sie, auch sie American abroad, sie hat ihm

erzählt, was Mom über Grossvater gesagt hat, ihren Urgrossvater,

sie hat sich Fabio anvertraut. „Noch ein Nazi?” Er hat

gelacht, und sie hat genickt, als sei’s das Selbstverständlichste

der Welt, sie hat genickt und zu Boden geblickt, sie stellt

fest, es fällt ihr leichter, über August Mohaupt zu reden als über

ihren Ex, den sie einem unwiderstehlichen Impuls folgend

so plötzlich verlassen hat, Stephen Wagoner, dem sie

davongelaufen ist nach seinem Eifersuchtsanfall im Ristorante

La Vendetta, sie denkt, das ist eine Feststellung wert,

jetzt, hier in Berlin, wie sie bei Fabio so in der Küche steht,

liegen die Karten auf dem Tisch, sie ist übergelaufen

zum Gegner, ist sie das nicht, übergelaufen zum Gegner?

Sie zwirbelt mit der linken Hand an einer der blonden

Haarlocken, sie blickt Fabio von der Seite an, sie sagt: „Ich hab

mich, weisst du, gefragt, wer ist dieser August Mohaupt,

dieser Portier und Hauswart? Ich weiss, er ist mein Urgrossvater,

sicher, aber – erst hab ich gedacht, es ist solange her,

irgendwie gruftig, und doch –” Sie sieht Fabios Gesicht, ein

skeptischer Blick, sie ist ihrer Sache nicht sicher.

„– sag mal, gibt’s dieses Berlin noch, in dem er gelebt hat? dieses Bayerische Viertel? diese grossbürgerlichen Berliner

Haushalte, wo er Treppenhaus und Bürgersteig gekehrt hat?

Weisst du, ich hab mich gefragt, was hat es auf sich mit

diesem Hauswart, von dem’s geheissen hat, er hat jemanden erschlagen?” Fabio schenkt Wein ein. „Erschlagen?” fragt

er verwundert. Rike sagt: „Einen Juden, einen Kapellmeister, einen Willy Collin.” Fabio fragt: „Und wann soll das gewesen sein?”

Rike wischt die blonde Haarlocke aus dem Gesicht, ein verhuschtes Lächeln, sie sagt: „Er hat Fussball gespielt. Erschlagen,

das stimmt nicht, sagt Mom. Er hat ihn nicht erschlagen, diesen Kapellmeister. Ein Gerücht, eine Verleumdung, das alles.”

Wieder fragt Fabio: „Und wann soll das gewesen sein?” Rike

steht hinter dem Küchentisch, die Schultern gezuckt.

„Irgendwann. Naziterror. Zweiter Weltkrieg. Was weiss ich.”

Sie ist angekommen, denkt Rike, sie hat die Zweifel

derer, die angekommen sind. Und Fabio? fragt sie sich, als sie

sieht, wie er das Sackmesser zuklappt. Nervt sie ihn?

Arbeit musst du in Berlin nicht suchen, hat sie ihn heute Morgen

scherzen hören, Fabio, den Firmengründer, für den sie

jetzt in der Galerie arbeitet. Sie denkt, sie ist geworden. was

sie nicht hat werden wollen, eine unausgelastete

Übersetzerin. Sie hat Zeit sich zu fragen, was ist dran an dem,

was Mom erzählt? Sie schwingt aus der Hüfte, wie Annie

Wanamaker aus der Hüfte geschwungen hat, aber sie nimmt,

denkt Rike, nicht Anlauf für einen Hochsprung, sie wirft

einen Schatten auf den leeren weissen Küchentisch, sie wirbelt

die Gene durcheinander, die Mohaupt-Gene, denkt

sie, sie zaudert, sie sagt: „Alles so gruftig. Alles so vor 911.

Eigentlich will ich da gar nicht hin.” Fabio hebt das gefüllte

Weinglas, als sei das für ihn das Stichwort, er schwenkt

es, Rike hat gedacht, das tut nur Stephen Wagoner, sie hat sich

getäuscht, Fabio riecht sogar daran, er sagt: „Weisst

du was? Dieses Berlin, in dem er gelebt hat –” Sie hebt den

Blick, ihre Augen treffen sich eine Sekunde. „– das gibt

es alles nicht mehr.” Sie schweigt, sie blickt zu Boden. Er sagt:

„Alle reden von dieser Stadt, die es nicht mehr gibt.“

Sie, schnell: „Ich nicht.“ Er: „Sondern?“ Sie, einfach mal

so hingeworfen: „Familiengeschichte, Spurenanalyse,

DNA.” Sie ist selbst erstaunt, sie hat das einfach

mal so hingeworfen, als seis ihre eigene und nicht die Botschaft,

mit der The DNA Ancestry Project an Grufties appelliert.

Suche deine Wurzeln. Grabe nach deinen Vorfahren. Entdecke

deine Familiengeschichte. Werde Teil der Geschichte.

Sie hat das einfach mal so ausprobiert, Familiengeschichte,

Spurenanalyse. DNA, als seis eine Zahlenreihe im Lotto.

Aber, denkt sie, es tönt nicht schlecht, es hört sich plausibel an.

Sie sieht Fabios Gesicht, ein amüsierter Blick,

sie sagt: „Keiner glaubt mir.” Er sagt: „DNA? Und Urgross–”

Fabio sagts, als rede er vom Knochenfund eines

ausgestorbenen Rinds. „–Urgrossvater? Ist etwas weit hergeholt,

findest du nicht?” Sie zögert, sie sagt: “Ich habs

mir überlegt. Zwei Generationen, das ist der Kampf. Drei

Generationen, das ist die Versöhnung. Aber vier

Generationen, das ist das, was unter der Haut läuft, in den

Genen.” Er reicht ihr das gefüllte Glas, er sagt:

„Was unter der Haut läuft? Du meinst subkutan?” Er lacht.

„Na! Also dann, willkommen in Berlin, da bist du ja hier

genau richtig, in der Ruine des Übermenschen.” Es läutet an der

Haustür unten, er entnimmt dem Einbauschrank

ein drittes Glas, er hält es prüfend ins Küchenlicht, er sagt:

„Das ist Vivian. Lässt du sie rein?” Rike betätigt den

Türöffner, aber Vivian, Ende dreissig, kurzes, kräftiges, schwarzes

Haar, leuchtende grüne Augen, bläuliche Lippen,

Zeichnungsmappe unterm Arm, steht bereits vor der Wohnungstür.

„Ich hoffe, ich störe nicht”, sagt sie. „Ich hab was

mitgebracht.” Sie küsst Rike auf Anhieb, sie küsst auch Fabio,

sie stehen in der Küche, Fabio reicht Vivian das dritte

Glas, sie stossen an, er sagt, mit feierlicher Grimasse: „Auf alles,

was kommt.” Es ist dieser Toast, denkt Rike später, weswegen

sie Erkundungen anzustellen, Skizzen anzufertigen sich

vorgenommen, es ist dieser Zwiespalt, weswegen sie Spuren nachzugehen sich entschlossen hat, Spuren, von denen sie nicht weiss, was ihr Ergebnis sein wird, der von Mom bestrittene

Totschlag des Kapellmeisters durch den Hauswart

oder der Rempler eines Fussballgotts.



                                   Der Lump tritt aus dem Haus.

Montag, 31. August 1925. August Mohaupt ist Hauswart und

Portier gewesen erst Am Karlsbad 15, dann Schwäbische

Strasse 11. Jeder hat einen Ehrgeiz, denkt Mohaupt. Er hat sich

zum Verwalter aufgeschwungen, aber es hat nicht geklappt.

Jetzt ist er ohne Stellung. Er ist Statist in Babelsberg. Er hat gehört,

sie suchen einen Hauswart für eine Szene. Er soll

den Bürgersteig kehren. Frühmorgens ist er in Babelsberg. The

Blackguard. Der Lump. So heisst der Film. Eine Schlange.

Hundert Bewerber. Keine Chance, denkt Mohaupt. „Alter?“ fragt

Oskar Kowalski, an dessen Tisch die Schlange endet.

„Siebenundvierzig.“ „Was sind Sie von Beruf?” fragt Kowalski.

„Hauswart.” „In Stellung?“ „Jetzt gerade nicht.”

„Arbeitszeugnis?” Mohaupt reicht ihm das Papier. „Was können

Sie sonst noch?” „Fussball.” „Wo das?” „Hertha.” Kowalski

sieht ihn an. “Dieser Mohaupt?“ Kowalski blickt auf das 

Arbeitszeugnis und reckt den Kopf. “August Mohaupt?” fragt er.

“Das sind Sie?” Mohaupt nickt. „Ist lange her”, sagt er.

„Das mit Hertha.” Zwanzig Jahre, denkt er. Eine Ewigkeit.

„Und sonst?”, fragt Kowalski. „Was haben Sie sonst

noch drauf?” „Schlosser.” „Mit abgeschlossener Lehre?” fragt

Kowalski. „Mit abgebrochener”, sagt Mohaupt. „Berliner?”

fragt Kowalski und blickt ihn von schräg unten an. Mohaupt

schüttelt den Kopf. „Ich hatte es zu eilig nach Berlin

zu kommen”, sagt er. „Um Gottes willen”, sagt Kowalski. „Von

wo?” Mohaupt: „Sachsen-Anhalt.” Kowalski greift sich

ans Kinn und sieht ihn an. „Sie haben ihn”, sagt er. „Den Job?”

fragt Mohaupt. „Nein, den Tunnelblick”, sagt Kowalski

und lacht. „Melden Sie sich da drüben.” Er gibt ihm

das Arbeitszeugnis zurück. Mohaupt wird eingekleidet.

Er bekommt einen Besen. Er wartet. Zwei Mädchen

warten auch. Sie wissen, was gedreht wird. Eine Strassenszene.

Sie kennen das Skriptgirl. Der Beleuchter baut das Licht

auf. Der Kameramann schaut prüfend zum Himmel. Der Regisseur

ist nicht zu sehen. Nach zwanzig Minuten tritt ein Alfred

Hitchcock, der nicht mal sein Assistent ist, zu den Wartenden.

„Sie müssen heute mit mir – wie sagt man? begnügen?”

Jetzt ist plötzlich auch der Schauspieler da. Der Hauptdarsteller.

Der Lump. „Wollen wir?” sagt Alfred Hitchcock. „Eine schöne

Szene. Niemand weiss etwas. Der Hauswart fegt. Der Lump tritt

aus die Haus. Die Mädchen gehen vorbei. Das ist alles.”

Er ergreift das Megaphon, ruft den zwei Mädchen, die Mohaupt

auf dem Bürgersteig kreuzen sollen, zu: „Lippen lecken.”

Das tun sie. Und dann, sich umdrehend: „Alle bereit?” Und dann:

„Achtung. Kamera läuft.” Mohaupt fegt und fegt und fegt.

Die Mädchen sind längst vorbei gegangen. Endlich tritt der Lump

aus dem Haus. Da prallt er aber gleich mit Mohaupt

zusammen. Hitchcock ruft:  „Schnitt.” Die Szene, besser als das

Drehbuch, ist im Film nicht zu sehen. Aber das weiss

Mohaupt nicht. Das weiss auch Hitchcock nicht.


Schöne Beine hat sie. Mittwoch, 12. August 1936. In einer

halben Stunde findet im Reichsministerium für

Volksaufklärung und Propaganda, Wilhelmplatz 8/9, die tägliche

Pressekonferenz statt, aber Hans Hinkel ist damit nicht

befasst. „Der Präsident der Reichskulturkammer –”, diktiert

er in seinem Büro. „Haben Sie das?” Fräulein Erna

Blum nickt und lächelt unsicher, denn sie ist der Meinung,

Präsident der Reichskulturkammer ist Minister

Goebbels. „– an Herrn Wilhelm Cohn (gen. Collin): Auf Ihre

Beschwerde –” Hinkel, ein Papier in der Hand, hat beide

Namen buchstabiert, Klammer und Doppelpunkt benannt, die

Abkürzung vorgegeben und etwas über Juden unter

falschem Namen gezischt,  was Fräulein Blum nicht ganz

verstanden hat. Sie ist die neue Sekretärin, sie tippt in

die Schreibmaschine. „Auf Ihre Beschwerde vom 25. August 1935

und den ergänzenden Bericht vom 3. September 1935

teile ich Ihnen mit, dass ich mich nach Prüfung –” Schöne Beine

hat sie, denkt Hinkel, legt das Papier ab und geht um

Fräulein Blum herum in der Hoffnung noch mehr Bein zu sehen.

„– nach Prüfung Ihrer Eingabe nicht veranlasst sehe, den

gegen Sie verfügten Ausschluss aus der Reichsmusikkammer

zurückzuziehen. Zwecks weiterer Berufsausübung

verweise ich Sie an den Reichsverband der jüdischen

Kulturbünde, Berlin SW. 19, Stallschreiberstr. 44. Im Auftrag gez.

Hinkel.“ Er wird ein langer Tag werden, der heutige

Mittwoch, ein aufreibender, klärender, erneut Massstäbe

setzender Tag. „Geben Sie her.” Hinkel unterschreibt.

In Berlin sind Olympische Spiele. Hinkel muss früh weg. Das

Konzert! Im Olympiastadion ist Handball-Endrunde, 15 Uhr

Österreich–Ungarn, 16.20 Uhr Deutschland–Schweiz, 20 Uhr

Baseball-Vorführung und Konzert. Hinkel hat Gäste.


Ein Hauswart lebt von Trinkgeld. Freitag, 5. Oktober 1938.

August Mohaupt ist Haberlandstrasse 7 als Hauswart

und Portier in Stellung. Er hat die 20er Jahre mitgemacht hier,

grossbürgerlich-jüdische Adresse. Die neue Zeit, von der

die Nazis reden? Vergiss es, denkt Mohaupt. Er steht im Parterre

am Fenster und blickt hinaus. Ein Mann geht vorbei.

Ein Hund. Ein Kind. Mohaupt glaubt, er ist auf Augenhöhe

mit der Strasse. Er hat die Fahne gehisst, als sie mit

Blaskapelle und Eintopf die Strasse umbenannt haben. Die

Nazis? Er verachtet sie, glaubt er. Aber zahlt sich

das aus? Er dreht die rechte Hand. Ein Hauswart lebt von

Trinkgeld, nicht von Mieterwechsel. Er hat sie alle

überlebt. Die Herrschaften, die vor Jahren, als er die Stelle

angetreten hatte, hier Mieter gewesen waren. Daniel,

der Bankier? Freund, der Fabrikant? Sie sind weg. Und Grün

und Kallmann und Rahmer? Jeder ist hier Kaufmann

gewesen, mindestens. Und Dr. Klee, der Kammergerichtsrat,

der Universitätsprofessor? Die Witwe Oberhaupt?

Von Reuther, der Legationsrat? Sie sind alle weg. Mohaupt

sieht, wie der Hund zurückgelaufen kommt und das Kind

ihm hinterher. Nur er, denkt Mohaupt, ist noch hier, und ballt

die rechte Hand. Er, der Hauswart im Erdgeschoss,

und Schmitz im vierten OG, Schmitz, der Senatspräsident a. D.

Es läutet. Mohaupt geht zur Wohnungstür. Im Treppenhaus

steht eine Frau mit leuchtenden Augen. Eine solche Begeisterung,

denkt Mohaupt. Er fragt: „Wie sind Sie überhaupt ins

Haus gekommen?” „Von Fürich hat mir aufgetan.” Sie ersucht

um Spenden für die Winterhilfe. Mohaupt sagt: „Wir

haben nichts. Wir haben alles schon gegeben, was wir entbehren

können.” Die Frau sagt: „Wir nehmen auch Geldspenden.”

Mohaupt gibt ihr eine Kleinigkeit. Die Frau bedankt sich und sagt:

„Bald gehört uns die ganze Welt. Vergessen Sie das

nicht.” Er gibt ihr noch eine Kleinigkeit, räuspert sich und

schliesst die Wohnungstür. Von Fürich ist der neue

Mieter. „Hier! Meine Karte”, hat er bei seinem Einzug gesagt.

Als Mohaupt einen Blick drauf wirft, ist er angewidert.

Bruno von Fürich, Reichsbankbeamter, Nördlinger Strasse,

Berlin-Schöneberg, Telefon usw. Haberlandstrasse!

denkt Mohaupt. Sechs Wochen später haben die Nazis die Strasse

umbenannt. Haberland ist der Gründer und Entwickler des

Viertels. Die Nazis tilgen den Namen. Er ist jüdisch.



                                   Es sind die letzten Tage der

Ausstellung Libuna, die Fabio Calvani aus der Photo Gallery, 14th

Street, Manhattan, übernommen hat. Zur Vernissage in der

Berliner Galerie, die er in hellen, hohen Räumen eines renovierten

Altbaus an der Brunnenstrasse eröffnet, hatte er die Photographin

eingeladen, und sie war zusammen mit Libuna aus Prag

angereist, Fabio hatte die zwei Frauen am Ostbahnhof abgeholt

und im Hotel Bogota an der Schlüterstrasse einquartiert,

einem Gründerzeitgebäude, in dessen obersten zwei Etagen Yva,

die Photographin und Lehrmeisterin von Helmut Newton,

Atelier und Wohnung und in dessen zweiter Etage Hans Hinkel

im Jahr, als sie Yva in Majdanek ermordet hatten,

mit Einzug der Reichskulturkammer sein Büro gehabt hatte.

Es läutet, als Fabio an diesem Mittag die Galerie

aufsperrt und Rike Mohaupt einlässt, gerade das Telefon,

und da er mit Bildern, die Vivian Kretschmar am

Samstagabend an die Quitzowstrasse gebracht hatte, beladen ist,

nimmt Rike ab, indem sie sagt: „Carter & Domori. Ich bin

Rike Mohaupt. Was kann ich für Sie tun?” Und Fabio ist so verblüfft, dass er gleich sagt: „Wow! Kannst du das immer so machen?”


Später, es ist Oktober geworden, ein Tag, der rasch eindunkelt,

ein Mittwoch, Rike steht, Telefon am Ohr, Quitzowstrasse 107,

Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf Westhafen, Bahnareal, Lagerhallen, Containerfrachter, langsam durchquert ein S-Bahn-Zug

mit Licht die Brache im Halbdunkel. Ist das die Ringbahn?

Rike denkt, sie weiss zu wenig. Am Telefon ist Mom. Ireen Mohaupt

ist in der Brooklyn Public Library gewesen, sie hat Bücher

zurückgebracht, eine junge Frau hat die Bücher durchgesehen,

plötzlich niest sie laut und heftig, ihre Kolleginnen und Ireen

drehen sich erschrocken um. Hat sie die Schweinegrippe? fragt

sich Ireen, schliesslich sagt sie: „Gesundheit”, die

Bibliotheksangestellte sagt: „Ich glaub, ich bin allergisch

auf die staubigen, alten Dinger. Das ist der Grund,

warum ich nie Bücher lese. Nie!” Rike weiss nicht, warum

Mom in Brooklyn das in aller Ausführlichkeit erzählt,

und Ireen, ihre Mutter, weiss es auch nicht, eigentlich will sie etwas

anderes sagen, stemmt Kopf und Oberkörper aus dem tiefen,

abgegrabschten Sessel in die Mittagsonne, die durch das Fenster

der Atelierwohnung an der Hooper Street dringt, sie hat ein

Photoportrait in einer Hand, in der andern das Telephon, drahtlos,

drauf hat ihre Tochter beim Kauf geachtet. Die staubigen,

alten Dinger! Rike lacht stumm, lässt den Blick Richtung Anflug

auf Tegel wandern und verzieht den Mund. Plötzlich fragt

Ireen: „Du schreibst über den Mann?” „Den Mann? Wen meinst

du?” fragt Rike, die ihrer Mutter am Telephon die Skizzen

vorgelesen hat. Ireen sagt: „Den Kapellmeister. Gehört er nicht,

ich meine – gehört er nicht auf die Seite der Opfer? Aber

dein Urgrossvater, August Mohaupt, das hab ich dir gesagt, ist

kein Täter. Er hat den Kapellmeister nicht erschlagen.”

Rike sagt: „Ich hab keine Ahnung, wer August Mohaupt ist.

Aber wenn ich Glück hab, finde ich’s vielleicht heraus.”

Ireen sagt: „Glück brauchst du in der Liebe, nicht im Herausfinden.” Pause. Und dann: „Und was ist das? das mit dem Brief?

ist das erfunden?” Rike sagt: „Nein. Der Brief, der ist echt. Den

gibt es.” Echt, denkt Rike. Schöne Beine hat sie,

die Echtheit. Eigentlich hat Rike zuerst gedacht, Germany

nutzt 1936 für eine Imagekampagne, eigentlich hat Rike

zuerst gedacht, wenigstens für die Tage der Olympischen Spiele

stoppt Germany kurzfristig die Judenverfolgung,

eigentlich hat Rike zuerst gedacht, Germany hat einen Reichspropagandaminister, und dem ist die Reichskulturkammer

doch unterstellt, eigentlich hat Rike zuerst gedacht,

Germany nutzt die internationale Öffentlichkeit, die sich

in Berlin trifft, und hofiert die Auslandpresse, aber

dann hat Rike die Briefkopie in der Hand gehalten und festgestellt,

Germany betreibt zwar window dressing für die Gäste

aus dem Ausland, aber im selben Augenblick schliesst der

Geschäftsführer der Reichskulturkammer ohne

Wimperzucken Willy Collin aus der Reichsmusikkammer aus,

was für den Kapellmeister gleichbedeutend ist mit

Berufsverbot, und keinen der internationalen Gäste in Germany – keinen scheint sowas irgendwie interessiert zu haben.

„Es ist alles solange her”, sagt Ireen, ihre Mutter, die jetzt,

wie Rike sich vorstellt, am Fenster steht und auf die

augenblicklich leere Hooper Street hinausblickt. Es ist alles

solange her. Aber, denkt Rike, gehört der Satz nicht

in den Rollentext der Tochter? Doch plötzlich, als hätte sie das Wichtigste beinahe vergessen, sagt Ireen: „Ach, was ich

sagen wollte – ich hab das Bild gefunden, das Portrait mit August

Mohaupt, es ist, denke ich, vielleicht von 1925.” Seltsam,

denkt Rike. Sie kann sich nicht erinnern, so ein Bild in der Kindheit

gezeigt bekommen zu haben. Ireen sagt: „Ich schicke

es dir. Der Hauswart und Portier! Er sieht drauf wirklich gut aus,

weisst du, mit Schnurrbart und jung für sein Alter und

keck und alles, dabei –” Ireen lacht. „– er geht da wohl schon

auf die fünfzig zu.” Jung. Und keck. Und alles. Rike fragt

sich. was ist das, was in Moms Stimme auf einmal mitschwingt?

ist das Stolz? ist das Glaube? ist das Zuversicht? ist das

Vertrauen? Vertrauen in den Lauf der Dinge? „Bist du noch da?”

fragt Ireen, ihre Mutter, geschieden, allein erziehend,

ihr Ex, Dick Greenaway, war Pilot gewesen und nach einem

Unfall Magaziner bei der Air Force, und sie, die gegen den

Vietnamkrieg gewesen war, war von einem Luftwaffenstützpunkt

mit Dick Greenaway zum andern gezogen, bis sie

irgendwann genug davon gehabt hatte.


Rike Mohaupt   weiter  zurück