NACHSPEISE
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel I
HEBEN SIE DIE INSTRUKTIONEN AUF, DIE SIE MIT IHREM
Rauchmelder bekommen, sagt die Stimme, aber das
bedeutet nur, Rike Mohaupt ist so früh sonst nicht unterwegs, kein Mensch auf der Strasse, zwei Tauben, ein Paar vielleicht,
denkt sie, als sie ihre Wohnung tief in Brooklyn verlässt, auf den
Bürgersteig tritt, sich niederbeugt und unter den Toyota
schaut, ehe sie einsteigt. Die Zwei-Zimmer-Wohnung ist ihre
erste eigene Bleibe, sie hat sie vorletztes Jahr gemietet,
es hat alles gepasst. Im Hausgang, aus dem sie kommt, ist noch
Licht, das Ristorante im Erdgeschoss, auch der Friseur,
reglos, dunkel, verschlossen, der Waschsalon im Nebenhaus
wellblechverriegelt. Sie startet. Das hier, der Hörgeräteladen,
die Reinigung, der Copy Shop, die Trattoria, ist ihre Nachbarschaft,
aber das Leben der schmalen, unablässig erneuerten,
geschäftigen 5th Avenue, Brooklyn, die sie entlangfährt, ist noch
nicht erwacht. Sie hat Jeans an, winterweiss, ein Blouson,
schwarz, ein Kurzarmtop, Baumwoll-Jersey, grey melanche, sie hat
classic red aufgetragen, den dunkleren roten Lippenstift von
Cover Girl, sie denkt, sie ist mit Autopilot aufgestanden, sie hat
die Kontrolle noch nicht selbst übernommen, ein beladener
Mann tritt auf die Fahrbahn, sie stoppt, blickt nach rechts, quert
Sterling Place, sie ist eine Frau Ende zwanzig, sie fährt
in nördlicher Richtung, sie weiss, der Horizont in Brooklyn ist zu
drei Vierteln Wasser, der Atlantic Ocean, die Lower Bay,
die Upper Bay, der East River, am Ende des Weges wartet
unsichtbar oft Wasser, Wasser, das jede Strasse zur
Sackgasse macht, Wasser, das die Brücken nach Manhattan
überwinden, die Tunnels, die Fähren, die Helikopter von
JFK, Wasser, das bei abnehmender Flut vor Häuserzeilen, Werften,
stillgelegten Lagerhallen eine Menge Dinge vor sich hertreibt,
die sie ohne Schutzanzug besser nicht anrührt, Wasser, endloses
Wasser, das ihr einmal vor Red Hook, Brooklyn, an
Pier 41 im Gewühl hochgerissener Fotohandys, Camcorders,
Kameras den Blick freigibt auf QM2, Lichter, Luken,
Rumpf, Kamin, weiss, schwarz, rot.
Heimspiel, denkt sie. Das hier, die Wein- und Spirituosenhandlung,
Kim’s Blumenladen, der Elektrogerätediscounter, das hier
ist ihre Welt. Sie macht das Radio an. GM informiert die Händler
in Kanada über Pläne das Vertriebsnetz um vierzig Prozent
zu reduzieren. Feuertreppen, Parkingmeter, Müllsäcke.
Eine Brünette im Minijupe vor dem Fahrradmarkt. GM hat 709
Händler in Kanada, die Verträge laufen im Oktober 2010
aus. Bis Ende Monat will GM den Restruktuierungsplan fertig haben
um sich die Unterstützungsgelder der amerikanischen
und kanadischen Regierung zu sichern. Ein junger Mann in Jeans
mit gesenktem Kopf auf der Bank vor dem Waschsalon.
Sie quert Park Place. General Motors, auch mal Generous Motors
genannt, wird Governmental Motors. Sie macht das Radio
aus. Das Internetcafé, der Bioladen, die Bildergalerie,
das Photogeschäft, Pizzatown, das Nagelstudio. Sie quert
Prospect Place. Zwei Restaurants, das Flawless und
das Picasso, der Spengler, der Kiosk, der neue Bioladen. Sie quert
St. Marks Avenue. Ein schwarzer Mittzwanziger mit
Einkaufstüte. Eine Latina. Ein kahler Sechziger in Shorts.
Eine Frau mit Gepäck am Kofferraum ihres Wagens.
Die Anwaltskanzlei, die Glas- und Spiegelhandlung. Eine Zwanzigjährige, zwei Schosshunde angeleint. Die
Apotheke, die Möbelhandlung. Sie quert Bergen Street. Zwei
Jahre, denkt sie, hat sie hier verbracht, ihre erste eigene
Bleibe, 5th Avenue, Brooklyn, die bescheidene
Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock, das Haus mit
Ristorante, mit Friseursalon, nichts Besonderes,
zwei Jahre hat sie hier verbracht, es sind die besten ihres
Lebens, aber so früh am Morgen kennt sie die Strasse
nicht, sie ist ihr fremd. Area Kids, Ristorante La Vedetta. Hier
hat sie gesessen mit Stephen, hier hat sie gesessen
mit Stephen Wagoner, hier, Ristorante La Vedetta, aber hat sie
hier Heimspiel? Sie zweifelt auf einmal. Der Früchte-
und Gemüseladen, die Arztpraxis, der Kundenparkplatz, die
Brandmauer. Ein silbergrauer Buick biegt in die Strasse
ein. Das Deli, coffee and bagels, die Tür ist offen, der Laden leer,
lotto beer cigarette leuchtet die Neonschrift, das Glück
grün, das Bier gelb, Lucky Strike weiss. Sie quert Dean Street.
Sie erreicht die Flatbush Avenue. Triangle Sports, das
Dreieckhaus, Digitaluhr überm Eingang. Sie biegt in die Flatbush
Avenue ein, es ist 7.22 Uhr, der Himmel gross und hell,
leichte Wolken, hinter denen die Sonne sichtbar wird, nur wenig
Verkehr, ein halbes Dutzend Wagen vorne beim Rotlicht.
Ihr fällt der Witz ein, den Stephen erzählt hat, als sie das erste Mal
mit ihm im Ristorante La Vedetta sitzt. Eine Autofahrerin
stoppt mit ihrem Wagen in Brooklyn beim Rotlicht, als die Ampel
aber auf grün schaltet, bleibt sie mit dem Wagen
stehen. Die Farbe der Ampel wechselt noch mehrfach,
rot, gelb, grün, aber die Fahrerin bewegt sich nicht
von der Stelle. Schliesslich kommt ein Polizist zu ihr herüber
gelaufen. „Was ist los, Lady?” fragt er. „Haben wir keine
Farben, die Ihnen gefallen?”
Sie folgt der Flatbush Avenue nordwärts, hat einen gelben
Truck vor sich, Best American Beer, überholt ihn, hat
einen weissen Bus vor sich, Lucky Star, und als sie auch den
hinter sich hat, spürt sie das mulmige Gefühl im Magen,
das nach Kaffee und Croissant ruft, sie hält bei Seven Up Coffee
an, beschafft sich beides, und als sie, die Tür verriegelt,
wieder im Toyota sitzt und den ersten Schluck nimmt, fühlt sie
sich besser. Manhattan Bridge. Sie quert den East
River. Die Fassadenfront der Wolkenkratzer rückt in der ersten
Morgensonne näher. Anna-Lou Shubert fällt ihr ein.
Sie war es, die sie an Stephen Wagoner vermittelt hat, Anna-Lou
Shubert, die praktische, tüchtige Einzelhandelsfrau,
die an der New York University Übersetzern German To English beibringt und das Bewusstsein für Übersetzungskatastrophen
auch mal anhand der Vorgaben für einen Rauchmelder schärft.
„Bewahren Sie amerikanische Beipackzettel auf, wenn
Sie deutsche Gebrauchsanweisungen und Werbung korrekt
übersetzen wollen, benutzen sie sie als Hilfestellung.
Heben Sie die Instruktionen auf, die Sie mit Ihrem Rauchmelder
bekommen, sie könnten Ihnen nützlich sein!” Es ist auf
dem Campus hinter dem Washington Square, wo sie eines Tages
zu Rike Mohaupt sagt: „Ich hab da vielleicht was für Sie.”
Sind das die Worte gewesen, mit denen Anna-Lou Shubert nach
der Stunde sie anspricht? „Die Gebrauchsanweisung
für einen Rauchmelder?“ fragt Rike, und Fabio Calvani, die
Klasse verlassend, lacht, aber er dreht sich nicht um
und winkt nicht zum Abschied. Anna-Lou Shubert, schwarzes
Haar, blasser Teint, verzieht keine Miene. „Einen Mann”,
sagt sie. „Weinmarketing.” Sie hat das dicke Buch aufgeschlagen,
das ihre Agenda ist. „Mr. Wagoner.” Sie notiert Namen
und Handynummer auf die Rückseite ihrer Karte, die sie Rike
mit entschlossenem Blick über den Rand ihrer Brille,
edles Büffelhorn, überreicht. Rike hat den Mann angerufen,
sie hat ihn aufgesucht. Er arbeitet, stellt sich heraus,
in einem Loft am Union Square, der Eingang überstellt mit
Weinkartons, beschädigte Displays am Boden,
verschmutzte Banderolen. Bordeaux blanc sec. It’s springtime,
it must be Riesling. Zuhinterst, ein leerer, weisser,
hoher Raum, sitzt mit Laptop und Handy Stephen Wagoner,
eine Lucky Strike in der Hand. „Wieso wollen Sie eine
Frau?” fragt Rike Mohaupt, nachdem er den Auftrag beschrieben
hat. „Wein ist doch Männersache.” Er blickt sie an, und
was er sagt, klingt irgendwie verrückt, löst aber keinen Alarm
in ihr aus. „Gerade deshalb”, sagt er. „Frauen verstehen
Männer besser.”
Sie fährt die LaFayette Street hoch. In weissem Slip ein
nacktes, schwarzes, männliches Model brandmauergross für
Calvin Klein. Sie folgt der 9th Street, quert den Broadway. Müllsackberge neben Baldachinen zweier Wohnresidenzen. Ein
Schulbus. Sie quert University Place. Ein UPS Wagen.
Sie quert die 5th Avenue, Manhattan, sie biegt in die Avenue
of Americas ein, sie erreicht die 14th Street, sie sieht
einen Parkplatz, verlangsamt und parkt ein, hundert Meter
zu Fuss, denkt sie, das ist okay, sie stellt den Motor
ab, steigt aus, wirft die Tür zu, schliesst den Toyota ab und
als sie, Handtasche am Arm, sich auf den Weg macht,
hört sie Schritte hinter sich und eine Stimme, vertraut und aus
einer anderen Welt zugleich. „Rike? Rike Mohaupt?”
ruft die Stimme. Rike dreht sich um. Ihr folgt auf dem Bürgersteig
die adrette, sommersprossige, rothaarige Frau, hauchdünner,
lindengrüner, gummierter Regenmantel. Annie Wanamaker, denkt
Rike. Wie lange hatte sie Annie Wanamaker nicht gesehen?
vier Jahre? sechs? Schon einmal, denkt Rike, in der Schule, hatte
Annie Wanamaker, das Nachbarmädchen von der Hooper
Street, Brooklyn, in ihr Leben eingegriffen, als sei sie ein
Schutzengel, und durchgesetzt, dass Rike mit ihr ins College
gekommen war. „Annie? Annie Wanamaker? Was
für eine Überraschung!” Annie Wanamaker lacht ihr strahlendes
Lachen. „Was machst du?” fragt sie. „Was machst
du hier um diese Zeit?” Rike ist zu ihr hingetreten. Sie sagt:
„Ich muss in die Gallery, die Photo Gallery, 14th
Street.” Annie Wanamaker berührt sie an der Schulter an. Ein
ungläubiger Blick. „Um diese Zeit?” Rike nickt. „Fabio
Calvani. Er hat die neue Ausstellung gehängt. Libuna. Eine
Photographin aus Prag. Gestern Nacht hat er eine
SMS geschickt. Er will mich nochmal sehen. Er geht nach
Berlin.” Annie Wanamaker tritt vom linken Fuss auf
den rechten. „Fabio Calvani? Der German to English belegt hat?
mit dir an der NYU? Dieser Fabio Calvani?” Sie blickt
die 14th Street entlang, als glaube sie Rike nicht und suche
nach der Photo Gallery, dann sagt sie: „Und du?
Du selber? Was machst du? Auch Gallery Business?”
Rike schüttelt den Kopf, lachend, energisch.
„Ich übersetze.“ „Kunst und Wissenschaft?“ fragt Annie
Wanamaker mit gerunzelter Stirn. „Weinmarketing”,
lacht Rike, sie schweigen vier Sekunden, dann sagt sie: „Sag mal,
machst du noch Hochsprung? Du warst immer so gut
in Leichtathletik. Machst du noch Hochsprung?” Wieder
berührt Annie Wanamaker sie an der Schulter,
es ist das schwarze Blouson, denkt Rike. Annie Wanamaker
schüttelt den Kopf. „Ich hab aufgehört.” Rike fragt:
„Hast du was Neues? ich meine, im Leben?” Annie Wanamaker
wiegt sich in der Hüfte, als nehme sie Anlauf für
den nächsten Hochsprung. „Wohne hier. Bin frisch geschieden.
Seit letzter Woche.” Rike blickt unschlüssig, ein wenig
ratlos. „Du hast immer gesagt, du willst Kinder. Hast du Kinder?”
Annie Wanamaker winkt ab, den Blick zum Himmel.
„Hab einen Sohn gehabt, eines Morgens ist er am Tisch
beim Frühstück vom Stuhl gefallen, tot, einfach so.”
Rike fasst nach ihrer Hand, lässt sie aber sofort wieder los.
„Und wann? Wann war das?” Annie Wannamaker,
rasch, ein betrübter Augenaufschlag: „Vor zwei Jahren.” Rike
seufzt. „Muss schrecklich gewesen sein. Tut mir ja so leid
für dich.” Annie Wanamaker dreht den Kopf. „Es war wie ein Omen.”
Rike: „Wir müssen mal wieder miteinander reden.”
Annie Wanamaker, eilig, halb im Aufbruch. „Ja, das müssen wir.”
Die zwei Frauen küssen sich zum Abschied, Annie
Wannamaker eilt in raschen, ausgreifenden Schritten davon,
Rike erreicht die Photo Gallery, schaltet ihr Handy aus
und steht im grossen hellen Innenraum. Fabio sieht sie sofort.
Er greift an die Stirn. Er steigt von der Leiter. Er küsst
sie. Er umarmt sie. Er hat Bartstoppeln. „Mein Gott, du hast
es geschafft. Du schaffst es immer. In der Nacht hab ich
plötzlich die Idee gehabt mit der SMS. Jetzt bist du da. Ich bin
fertig. Gehts dir gut? Morgen fliege ich. Ich habe Zeit.”
Sie sieht die Bilder. Sie lacht. Sie sagt: „Ich bin ganz weg.”
Sie sieht Libuna und es ist, als könnte sie dem Leben
selber über die Schulter schauen. Dabei sieht sie nur über die
Schulter von Libunas Tanzpartner und sieht oder ahnt
mehr Libunas Gesicht, das die Schulter halb verdeckt, ein
attraktives Gesicht, eine attraktive Frau. Rike sieht ihre
Hand, die Oberarm und Schulter umfasst, zwei beringte Finger, Edelsteine, eine Hand, an der die Zeit nicht spurlos
vorbeigegangen ist, von der Plackerei des Alltags einer Mutter
zu schweigen. „Schau das hier”, sagt Rike. „Einfach
wunderbar.” Fabio lächelt. Sie bedankt sich. Sie küsst ihn.
Sie treten aus der Photo Gallery.
Aus Berlin sind E-Mails gekommen. Fabio hat eine Galerie
aufgemacht. Die Stadt, sagt er, ist eine Brache, hier
muss angebaut werden. Dann passiert etwas. Rike bricht das
Herz tief in Brooklyn. Sie sitzt mit Stephen im Ristorante
La Vedetta, sie sind bei der Nachspeise. Sein Handy klingelt,
er nimmt ab. „Ja.” Pause. „Eine Kiste?” Sie beobachtet
ihn. Er sagt: „Ja, das geht.” Pause. „Kann ich machen.” Pause.
„Mit Plakat, ja.” Stephen, vornüber gebeugt: „Die Flyer?”
Er kratzt sich. „Nein, morgen geht nicht. Übermorgen?” Dann, zurückgelehnt: „Nein, mach ich nicht.” Er lacht. Er klappt
das Handy zu. Er steckt es ein. Er hat Gelati bestellt, drei Kugeln,
die allmählich verlaufen, grün, gelb, weiss, Pistazie,
Vanille und – nein, nicht Yoghurt, das sicher nicht – vielleicht
Lucky Strike? Er sieht sie an. Irgendwie hungrig, denkt
sie. Er senkt den Blick, er schwenkt das Weinglas und feierlich,
als halte er um ihre Hand an, sagt er: „Ich hab dich
mit einem Typen gesehen, morgens halb neun, 14th Street.”
Sie versteht erst gar nicht, von was er redet. Dann erst
und wie im Dämmer wird ihr klar, dass er Fabio meint, die Photo
Gallery. Eine Ewigkeit, sechs Wochen, der Atlantic
Ocean, mehr geht nicht dazwischen. Wieso hat Stephen in der
ganzen Zeit nie etwas gesagt? Beobachtet er sie? Sie
springt vom Tisch auf, die weisse Stoffserviette an den Lippen.
„Fabio? Du meinst, ich hab mit ihm geschlafen?” Sie lässt
die Serviette fallen, die im Fruchtsalat landet, den sie
nicht angerührt hat. Er hat ihr eins ausgewischt, sie weiss nicht
warum, sie zittert vor Wut. „Du bist – weisst du, was du
bist? Du bist wie der Wein, den ein Gast in der Nacht zuvor
nicht ausgetrunken hat, fad, abgestanden, sauer.”
Wagoner, Stephen Wagoner. Sie blickt ihn nicht an. Sie geht
einfach. Sie geht.
Alle mal herhören! denkt Rike, die NYU und Fabio Calvani
und Anna-Lou Shubert im Ohr. You are leaving the american
sector. German To English, das ist ein Stein, ins All
geschleudert, ein Wurf in unendliche Einsamkeit familiärer
Verstrickung, eine Biergartenlaune, ein Masskrugglück
mit german Gemutlichkeit. Buy your tickets 8 $ here for Bier,
Wurst, Brezn. Wer weiss schon was vom Urgrossvater?
Nur Rike Mohaupt, 5th Avenue, Brooklyn, Übersetzerin, die im
Ristorante La Vedetta Stephen Wagoner, Weinmarketing,
Hals über Kopf sitzen lässt und der Paarung mit ihm sich fortan
verweigert. Up Goes the Curtain. Aber es ist nicht ihr
Wiegenlied, was die Guckkastenbühne hergibt, ein vermintes
Gelände, ein Scheinwerferschwenk über Liebhaber,
Mutter und Urgrossvater hinweg, das ist die Flugbahn
der Rike Mohaupt.
Warum trittst du mir so zärtlich
auf den Fuss? Donnerstag, 24. Dezember 1914. Else Mohaupt
hat einen Feldpostbrief bekommen. August Mohaupt
schreibt an seine Ehefrau: Um dreiviertel fünf wurde heute
geweckt. Ich gehöre jetzt zum zweiten Munitionswagen,
nicht mehr zur Bagage, die an jedem Tag nur einige Stunden
bei uns ist, Lebensmittel, Pferdefutter heranbringt, wieder
verschwindet, und die von dem eigentlichen Kriegsschauplatz ganz getrennt ist. Dann, Eineinvierteljahr später, Feldwebel
Mohaupt hat Urlaub, es ist Donnerstag, 23. März 1916, er sitzt
in Uniform mit Else, seiner Ehefrau, im Theater am
Nollendorfplatz, tausend Plätze, Parkett, Erster und Zweiter
Rang, es läuft Immer feste druff! Sie beugt sich im
Zweiten Rang vor, sie findet Senta Söneland so toll, sie hat
August Mohaupt hergeschleppt, Immer feste druff!
hat sie seit Monaten sehen wollen, und nie hat es geklappt,
die Revue, eine Kriegsoperette, Text Herman Haller
und Willi Wolff, Musik Walter Kollo, ist der Renner, es läuft die
fünfhundertfünfzigste Vorstellung, Immer feste druff!
verdankt den Erfolg seinen Komödienstars Karl Gessner und
Claire Waldoff, ohne sie, hat der Dirigent des Abends,
Willy Collin, immer gedacht, wäre das nichts geworden, aber jetzt
singt die Zweitbesetzung, oben stehen Richard Senius
und Senta Söneland, und es funktioniert. Sie ist Minna, die Frau
von Max Sliephake, Portier in der Villa von Professor
Ollendorf im Berliner Westen und bald Feldwebel im Krieg,
den sie hinterher Ersten Weltkrieg nennen werden.
„Warum sitzt du denn so traurig auf dem Banke? Warum trittst
du mir so zärtlich auf den Fuss?” singt er. Und sie,
Willy Collin lächelt ihr zu, er gibt Senta Söneland den Einsatz:
„Hörst du nicht, wie uns‘re olle Panke Murmelt uns
den allerletzten Scheidungsgruss?“ Jetzt beide: „Lebewohl,
ick muss jetzt von dir zieh‘n; Bleib mir treu, wenn dirs auch
schwerfällt in Berlin.“ Willy Collin, in drei Monaten wird er vierzig,
steht am Pult, er ist der Kapellmeister, er wohnt mit Ehefrau
Hedwig gleich um die Ecke, Habsburger Strasse 11, Erdgeschoss,
ein Jahr jetzt bald schon, er geht zu Fuss ins Theater.
„Der Soldate, der Soldate Ist der schönste Mann im Staate“,
singt Richard Senius. Und Senta Söneland: „Darum
schwärmen auch die Mädchen sehr Für das liebe, liebe, liebe
Militär.“ Und oben im Zweiten Rang drückt Else zärtlich
die Hand von August Mohaupt, sie blicken sich an und küssen
einander. Er hatte Else, eine geborene Schwielow,
aus der zweiten Etage in dem Haus, wo er Hauswart gewesen war, kennen gelernt, Else war gerne tanzen gegangen, und
August Mohaupt, Fussballer, linker Verteidiger bei Hertha an der Plumpe, hatte dafür viel Verständnis und einiges Talent an
den Tag gelegt, nach einer der durchtanzten Nächte in Clairchens
Ballhaus war Else schwanger geworden, und zwölf Wochen,
bevor Klein August zur Welt gekommen war, hatten sie im Rathaus Schöneberg geheiratet, und Mohaupt, der Vater, war auf
den Stammhalter, den die hübsche Else aus der zweiten Etage
ihm geschenkt hatte, nicht wenig stolz gewesen, er sah
in dem Nachfolger mit dem viel zu grossen Kopf, den strahlenden hellblauen Augen und den emsigen, nach allem und jedem ausgestreckten Fingerchen augenblicklich die Gelegenheit, die
eigene abgebrochene Berufslehre zurechtzurücken, einen
Schlosser mit abgeschlossener Berufsausbildung, hatte der
Hauswart sich vorgestellt, als er das Bündel mit dem
frisch gewickelten kleinen Pisser erstmals in den Armen hielt,
sein Sohn sollte erreichen, was er selbst nicht geschafft
hatte, aber daraus war nichts geworden, Klein August starb, bevor
er das Schulalter erreichte, bei einem Sonntagsausflug
an die Havelchaussee hatte er leblos im knietiefen Wasser
gelegen, nicht mal ganz drei Jahre alt. ertrunken
in dem Augenblick, als seine kleine Schwester, die einjährige
Paula, schrecklich geheult hatte, nachdem ein Insekt
sie gestochen hatte, vier Wochen später war Waltraud zur
Welt gekommen, die sie Wally genannt hatten, dann
Oskar, und zuletzt Johannes Mohaupt, Rikes Grossvater,
der gelernte Schlosser, der zu seines Vaters Unwillen
zweiundzwanzigjährig nach Michigan ausgewandert war und
Miriam Snyder geheiratet hatte, ihr drittes Kind war Ireen
gewesen, Ireen Mohaupt, Rikes Mutter.
Tage später, Rike Mohaupt putzt
gerade die Zähne, läutet es unten an der Haustür. Wer mag das
sein? Sie fährt zusammen. Es ist elf Uhr nachts. Sie erwartet niemanden um diese Zeit. Ist das Stephen Wagoner? Ein Satz, italienisch dazu, das ist alles, was er in einer E-Mail schickt,
nach dem Zerwürfnis im Ristorante La Vedetta. La vedetta del porto
ha segnalato la veneta galea che a Cipro adduce gli ambasciatori.
Der Hafenwächter hat eine Galeere aus Venedig gesichtet,
mit dem Gesandten für Zypern. Ihr ist nicht wohl, als sie die E-Mail
liest, sie denkt, das ist eine Anspielung, eine verschlüsselte,
das ist keine hilflose Art sich zu entschuldigen. Dann, reflexhaft:
Eifersucht. Löschen. Sie googelt trotzdem. Verdi, Otello,
Dritter Akt Anfang, 163 Treffer, 0,52 Sekunden. Wieder läutet es
unten an der Haustür. Sie macht das Licht aus. Sie rührt sich
nicht. Nach der E-Mail hat sie zehn Tage Ruhe, dann ruft er an.
Er sagt, er hat einen Auftrag für sie. Sie sagt, eine Oper
kann sie nicht übersetzen. Noch nicht. Sie nimmt nicht mehr ab,
wenn sie seine Nummer auf dem Display erkennt. Sie
verliert ihren besten Kunden. Wieder läutet es unten an der
Haustür. Sie tappt im Dunkel zum Schlafzimmerfenster,
von wo sie auf die Strasse sehen kann. Sie hebt den Vorhang.
Sie späht hinunter. Ein fremder Mann, kariertes Hemd,
Basecap. Erschrocken tritt sie vom Fenster zurück. Hat er sie
gesehen? Was will ein fremder Mann von ihr nachts
um elf? Hat sie sich zu sicher gefühlt in ihrer Wohnung im
zweiten Stock? Sie ist letztes Wochenende nach
Mitternacht heimgekommen, sie hat Shorts getragen, ein knappes Oberteil, sie ist aus der Dusche ins Schlafzimmer gelaufen
ohne Kleider in der Meinung, der Vorhang sei gezogen,
kein Wunder ist ein fremder Mann hinter ihr her. Letzte Woche
ist zwei Blocks entfernt eine Frau vergewaltigt und
ermordet worden. Sie sichert die Fenster, sie schaltet den
Air-Conditioner aus, sie holt ein Messer, sie schläft
unruhig ein. Am andern Morgen stellt sie fest, dass ihre
Brieftasche weg ist, dann geht ihr ein Licht auf,
sie läuft zum Briefkasten an der Haustür. Da ist sie, die
schwarze Lederbrieftasche, ein wenig zerknautscht,
als sei ein Auto drüber gefahren. Rike öffnet sie. Es ist alles
noch da, Bibliotheksausweis, ID, dreissig Dollar, sie
erinnert sich, dreissig Dollar hat sie in Kim’s Blumenladen
gehabt nach Bezahlung der weissen Tulpen. Nur die
Kreditkarte ist entzwei.