DER BESUCHER
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel IV
EIN SOMMERABEND IM FRÜHLING, DIE CAFÉS AUF DER
Brunnensrasse wie selten bevölkert, Rike späht mit
zusammengekniffenen Augen in die Sonne, die immer noch herunterbrennt, sie fasst die Handtasche enger, sie sieht
den Bus die Strasse hochkommen, Bus 247 Richtung Nordbahnhof,
sie beschleunigt den Schritt, die Vordertür springt auf,
ein Punk, Nasenring, kahlrasierter Kopf, steigt aus, die Tür
fällt zu. Verpasst! Der Bus fährt ab, Rike sieht hinter dem begrünten
Mittelstreifen auf der Strassenseite gegenüber einen
im Schatten der Häuser geparkten weissen Opel, hinter dem
ein Mann steht. Ist das Stephen Wagoner? Sie hat den
Bus verpasst, er sieht sie, die Stehengelassene, er hat sie voll
im Visier, nackt kommt sie sich vor, sie dreht ab, sie spürt
seinen Blick im Rücken, heiss hat sie bekommen, sie eilt die
Brunnenstrasse hoch, sie knickt im raschen Schritt ein,
sie weicht einem herrenlosen Boxerhund aus, der ihr in die Beine
läuft. Ist Stephen Wagoner in Berlin? Verfolgt er sie?
Sie streift mit ängstlichem Blick die Passanten, sehr zahlreich
sind sie nicht, sie wendet sich brüsk zurück, im Rücken
den Fernsehturm am Alex. Wie eine Drohkeule, denkt sie. Wie
Gullivers Keule. Hat Gulliver eine Keule geschwungen?
Aldi Markt. Sportwetten. Automatencasino Vulkan Stern. Schlecker.
Berlin illustrated. Vive la Crise! Sie atmet heftig. Kaiser’s
Verbraucher Markt. Gewerberäume zu vermieten. Die Mutter
der Kunstgalerie ist die unvermietbare Ladenfläche.
Zehngeschossiger Wohnungsbau. Vindirect. Wein aus Frankreich. Blumenladen. Sträusse zu jeder Gelegenheit. Restaurant
Dalmacija. Apotheke. Fahrschule. Sunpoint. Wieder knickt sie ein,
sie läuft hinter dem Pavilloncafé Pasan durch, über
die Demminer Strasse, hinab in den U-Bahnhof Voltastrasse.
Fast hört sie noch den Zug einfahren, sie erreicht
treppab den Bahnsteig, der sie absinthfarben umfängt.
„Zug nach Hermannstrasse!” tönt der Lautsprecher. „Zurückbleiben
bitte!” Sie springt ins Wageninnere, die Türen schlagen zu.
Sie fährt, was nicht normal ist, mit der U8 Richtung Alex, aber der
Zug fährt nicht, die Türen öffnen wieder, Leute steigen zu,
immer mehr Leute. Sie fährt, wenn sie die Ringbahn nimmt, auf
dem Weg nach Moabit drei Haltestellen, bis Gesundbrunnen
mit der U8, bis Westhafen mit der S41 oder 42, und schon ist sie
zurück in der Wohnung an der Quitzowstrasse, drei
Haltestellen, die Kurzstrecke, aber ihr fällt ein, dass die S-Bahn
zur Zeit gar nicht fährt oder, proppenvoll, im Schwitzbad,
alle zwanzig Minuten ein Zug. Endlich, ein Ruck, der Zug fährt
an und hält im Tunnel gleich wieder. Sie ist auf der
Flucht. Es geht ihr zu langsam. Endlich rollt der Zug, fährt in den
U-Bahnhof Bernauer Strasse ein, crèmefarben, Rosenthaler
Platz, orangegelb, Weinmeisterstrasse, mattblau, Alexanderplatz,
blaugrün. Sie springt, als die Türen zuschlagen, aus dem
Wagen, verliert sich in den Trauben der Passanten, eilt durch
das Gewirr der Umsteigeplattformen, erreicht die U2
Richtung Ruhleben, springt im U-Bahnhof Stadtmitte, als die Türen
zuschlagen, aus dem Wagen, durchläuft die Passage
zur U6, zweihundert Schritte, der linke Fuss tut ihr weh, der Schuh drückt. Eine Passage? Es ist ein Kanal! Wenigstens riecht
er nicht nach Stephen Wagoner. Du bist wie der Wein, hat sie im Ristorante La Vedetta zu ihm gesagt, da ist sie mutig
gewesen, hat sich erhoben, ist aufgestanden. Du bist wie der
Wein, den ein Gast in der Nacht zuvor nicht ausgetrunken
hat, fad, abgestanden, sauer. Aber im Augenblick ist er für sie mehr
als das, er ist Gift. Auf keinen Fall will sie ihn sehen. Sie
durcheilt den Kanal. Sie weiss nicht, was sie tut. Immer eilt sie,
immer eilt sie davon. Sie rennt einen ihr im Weg stehenden,
schlanken, jungen Russen fast um, sie erreicht die U6
Richtung Alt-Tegel, springt U-Bahnhof Friedrichstrasse, als die
Türen zuschlagen, aus dem Wagen, drängt gegen den
Menschenstrom treppauf zur S-Bahn, erreicht die S7 Richtung Potsdam, springt Bahnhof Zoo, als die Türen zuschlagen,
aus dem Wagen, erreicht die U9 Richtung Osloer Strasse, und
springt Birkenstrasse, als die Türen zuschlagen, aus dem
Wagen. Sie glaubt ihn abgeschüttelt zu haben, sie glaubt es, sie
duckt sich auf der Plattform weg, bis der Zug abgefahren
und der Bahnsteig menschenleer ist, sie nimmt den linken Schuh
in die Hand, sie eilt den Treppenausgang hoch, sie zieht
den Schuh wieder an und blickt, als sie auf der Birkenstrasse
steht, sich ängstlich um. Stephen Wagoner? Sie hat ihn
abgeschüttelt, ihr Fuss schmerzt, und als sie zuhause anlangt,
steht da der Hauswart, er wischt den Vorplatz, er hebt
den Kopf, ihr fällt ein, sie hat sich nicht vorgestellt, sie sagt „Ich bin
Rike Mohaupt”, der Hauswart sagt „Buhlicke. Angenehm!”,
sie steigt die Treppe hoch, sie glaubt, sie schnappt über, sie hat
Durst, sie ist so aufgeregt, und als sie im Wohnzimmer
steht, das Mineralwasser in der Hand, die 1,5-Liter-Flasche, die
sie aus dem Kühlschrank geholt hat, kann sie nicht
trinken, so zittert sie, sie blickt aus dem Fenster, Quitzowstrasse,
Westhafen, abgewickelter Güterbahnhof, nichts bewegt
sich am Industriehimmel, nichts, sie hebt das Mineralwasser
zum Mund, will trinken, verschüttet, wischt den Mund
ab mit der Hand. La vedetta del porto ha segnalato la veneta
galea che a Cipro adduce gli ambasciatori. Das hat
er geschrieben, als sie ihn verlassen hat. Stephen Wagoner.
Ihr Ex. Der Hafenwächter hat eine Galeere aus Venedig
gesichtet, mit dem Gesandten für Zypern. Das Telefon läutet,
sie fährt zusammen, aber er ist es nicht, das sieht sie auf
dem Display, es ist Fabio Calvani, er ruft aus NYC an, sie weiss,
sie hat sechs Stunden Vorsprung. „Hast du Besucher
gehabt?” fragt er. Sie sagt: „Zwei Herren.” Er fragt: „Zwei Herren?”
Sie hört es, denkt sie. Sie hört es, wenn er denkt. Sie sagt:
„Zwei Herren aus Mülheim. Und Vivian war am Mittag kurz da und
hat am Abend nochmal angerufen.” Sie macht eine
Pause. „Und dann, als ich wegging, sah ich auf dem Bürgersteig
gegenüber einen Mann, der wartete – Stephen Wagoner,
dachte ich gleich.” Fabio sagt: „Aber – aber sicher bist du nicht?”
Sie sagt: „Nein, sicher –” Sie schluckt. Sie stellt die
Wasserflasche ab. „– sicher bin ich nicht. Ich hab ihn eine
Sekunde gesehen. Ich glaub, es war diese Haltung,
diese Weinverkosterhaltung, er stand da wie Stephen Wagoner
bei einer Degustation, mit dieser Geniessermiene.”
Fabio lacht. Er sagt: „Na, ich kann ja – ich kann ja mal nachsehen,
ob er nicht am Union Square in seinem Loft ist und arbeitet.”
Sie sagt: „Lach nicht. Ich bin so erschrocken. Ich hab auf dem
Nachhauseweg ein Dutzend Mal den Zug gewechselt.”
Kommt er mit Stern oder ohne?
Dienstagabend, 2. Januar 1940. Das ist geschafft, denkt August
Mohaupt. Er ahnt nicht, dass der mühsamere Teil ihm noch
bevorsteht. Er unterschätzt das. Der mühsamere Teil ist von Fürich.
Und der unangenehmere. Noch hat Mohaupt Zeit, aber die
Zeit läuft ihm davon. Er hat, befürchtet er, von Fürich jetzt jeden
Tag am Bein, ein Klotz, eine Fussfessel. „Es muss rasch
gehen, ohne Aufheben. Niemand darf das mitbekommen, verstehen
Sie? Niemand!” sagt von Fürich, ehe Mohaupt den Bruch macht,
den Einbruch Habsburger Strasse 11. Am Abend drauf, von Fürich
läutet an der Wohnungstür, öffnet Else, Mohaupts Ehefrau.
Sie darf nichts erfahren. Mohaupt steht sofort in der Wohnungstür.
„Haben Sie das Ding?” fragt von Fürich. „Wo haben Sie das
Ding?” Von Fürich, nein! Mohaupt will ihn nicht in der Wohnung
und nicht im Hausflur im Parterre, er nimmt ihn mit in die
Werkstatt, die er im Keller eingerichtet hat, und bereut
es augenblicklich. Von Fürich ist das erste Mal hier. „Nein, wirklich”,
sagt er. „Haben Sie es schön hier! Ich ertrage es fast nicht.
Diese Freiheit!” Er spinnt, denkt Mohaupt. Er versorgt einen Hammer,
der auf der Hobelbank liegen geblieben ist. Ein Hauswart
verschlauft sich, das weiss doch jeder. Von Fürich, an
die Hobelbank gelehnt. sagt: „Und? Wo haben Sie das Ding?”
Mohaupt: „Ich hab das Ding nicht. Collin hat es. Er will
viertausend.” Von Fürich: „Vier? Wir sagten drei.” Mohaupt: „Er hat gesagt, er will viertausend.” Von Fürich wackelt der Kopf.
„Übergeschnappt, wa?” Jetzt bellt er auch noch, denkt Mohaupt.
Er sagt: „Sie glauben, mir ist das angenehm? Ich steh in
seiner Wohnung, hab das Ding in der Hand, und will gerade gehen,
da kommt er durch die Tür herein.” Von Fürich greift
zum Kopf. Er sagt: „So ein Schlamassel.” Mohaupt denkt, redet er
jetzt auch noch Jiddisch? Schlamassel, Unglück. Massel,
Glück. Das weiss Mohaupt aus seiner Zeit bei Hertha. Er war
linker Verteidiger. Da stand er manchmal tief hinten drin.
Er macht eine abwehrende Handbewegung. Er sagt: „Ich mache hier
die Arbeit –” Von Fürich: „Ach, jetzt halten Sie mal die Luft
an.” Mohaupt: „– ja, die Drecksarbeit.” Von Fürich: „Dreitausend Reichsmark! Damit das klar ist –” Mohaupt: „– aber wissen
Sie, was mir langsam auf den Wecker geht? Ich höre immer nur
Geburtstag.”
Anderntags spricht von Fürich bei der Reichsbank vor.
Nach einigen Einwänden bekommt er zwei Tage später von
seinem Vorgesetzten den Segen. Am Abend betritt er,
Ledermappe, Schal, Gabardine-Mantel, die Werkstatt im Keller, bestgelaunt. „Viertausend. Einverstanden.” Er lacht,
reicht Mohaupt die Hand, will ihn knaufen. Mohaupt weicht aus.
Er rechnet. Viertausend Reichsmark abzüglich eintausend
Reichsmark Maklergebühr, die er für sich einsetzt, ergibt
dreitausend Reichsmark, zu siebzig-dreissig mit Collin geteilt,
ergibt für Collin zweitausendeinhundert Reichsmark,
ergibt für ihn neunhundert Reichsmark, zu denen
die Maklergebühr, eintausend Reichsmark, hinzukommt,
ergibt zusammen für ihn eintausendneunhundert Reichsmark,
sodass er mit Collin fast halbe-halbe macht. Von Fürich
nimmt die Brille ab, wischt mit dem Schal über Augen und Stirn,
an die Hobelbank gelehnt, auf die er die Mappe gestellt
hat. „Und wie wollen Sie das abwickeln?” fragt er. „Wir sind drei”,
sagt Mohaupt. „Der Verkäufer. Der Vermittler. Der Käufer. Wir
brauchen einen Ort, der als Treffpunkt möglich ist für jeden von
uns drei.” Von Fürich reisst den Mantel auf, wirft die Mappe
um und überfährt Mohaupt mit bellender Stimme: „Ich will den
Juden nicht dabei haben. Das ist deutsche Musik, von
einem deutschen Tonkünstler.” Mohaupt ergreift den Hammer,
den er Anfang Woche zum Werkzeug an die Wand gehängt
hat, und wiegt ihn in der Hand. „Die Frage ist, wo soll sie stattfinden –
die Übergabe? Bei Ihnen?” „In der Reichsbank? Übergeschnappt,
wa!” Entsetzter Blick. Von Fürich zuckt das Auge. Er nimmt
die Brille ab, wischt mit der Hand über die Stirn. Dabei – das ist
kein Vorschlag, den Mohaupt ernst meint. Die Reichsbank
befindet sich an der Jägerstrasse, die kommt schon deshalb nicht
in Frage, weil Collin keinen Passierschein hat. Der
Polizeipräsident hat einen Judenbann angeordnet, der für die
Wilhelmstrasse (von der Leipziger Strasse bis Unten den
Linden inklusive Wilhelmsplatz), die Vossstrasse (von Hermann
Göring Strasse bis Wilhelmstrasse) und das Reichsehrenmal
mit der Strasse Unter den Linden (von Universität bis Zeughaus) gilt.
„Überhaupt, der Ankauf –” Von Fürich hält die Brille über den
Augen ins Licht, behaucht sie pustend, reibt das Glas ab und setzt
sie wieder auf. „– der Ankauf...” Er hustet. „Das wird schriftlich festgehalten. Der Jude unterschreibt. Deutsches Recht, deutsche
Musik, deutsche Reichsmark, das muss in das Papier hinein.”
Strenger Blick, plötzlich Nachsicht. “Wissen Sie, das Wort Geld, ich nehm’s – es geht um den Geburtstag des Führers, verstehen
Sie – ich nehm’s nicht in den Mund, das Wort Geld, es ist zu jüdisch,
es ist zu feilscherhaft, wa!” Er lacht, greift mit der Hand nach
Mohaupt, will ihn knaufen, erfolglos. „Und was den Ort der Übergabe
angeht, so tun Sie nicht so unbeholfen. Lassen Sie sich was
einfallen, was passendes.” „Ich habe aber Sie gefragt.” „Bestellen
Sie einen Tisch im Femina. Wir werden das begiessen. Heil
Hitler!” „Geht nicht. Tanzpaläste sind judenfrei.” Von Fürich zuckt
das Auge. Hat er vergessen, dass Juden aufgrund der in
Kraft gesetzten Polizeiverordnung der Besuch aller Theater, Kinos,
Kabaretts, öffentlicher Konzert- und Vortragsräume, Museen,
Rummelplätze (inklusive Eisbahnen), öffentlicher und
privater Badeanstalten und Hallenbäder (inklusive Freibäder),
der Ausstellungshallen am Messedamm (inklusive
Ausstellungsgelände und Funkturm), der Deutschlandhalle, des Sportpalastes und des Reichssportfeldes verboten ist? Er
überlegt. „Ich hab’s”, sagt er. „Und?” fragt Mohaupt. Von Fürich sagt:
„Der Engel auf der Siegessäule! Ich will hinauf – in den
Engelskopf hinauf.” „Die Goldelse? Nun werden Sie aber feierlich.”
Die Nazis haben die Siegessäule versetzt, sie hat vor dem
Reichstag gestanden, die Nazis haben sie an den Grossen Stern
verschoben, eigens dazu? Mohaupt graust. Hundert
Treppenstufen nach oben. Und überhaupt, wozu das alles, wegen
der Aussicht? Im Reichstag wird nicht mehr getagt. Germania
ist erst in Planung. Germania! Der Kuppelbau. Hunderttausend
Volksgenossen und eine Knallcharge, die ruft: Hier ist er –
der Kapellmeister von Immer feste druff! Hunderttausend jubeln
Willy Collin zu. Nein, den Gefallen wird er von Fürich nicht
tun, den Gefallen ihm eins überzuziehen, denkt Mohaupt und hängt
den Hammer wieder an die Wand. Er sagt: „Die Siegessäule
kommt nicht in Frage.” „Wieso nicht?” „Juden dürfen Denkmäler
nicht betreten.” „Dann gehen wir halt ins Europahaus.”
„Juden dürfen Gaststätten nicht betreten.” „Sie wollen mich doch
nur wieder demoralisieren.” „Das einfachste ist, wir gehen
in seine Wohnung.” „In seine Wohnung?” „Collin, Habsburger
Strasse 11, Parterre.” Von Fürich springt von der Hobelbank
auf, die Mappe fällt zu Boden. „Hamburger Strasse, das hat mir
gerade noch gefehlt!” „Habsburger! Ich sagte Habsburger
Strasse 11.” „Ich betrete diese Wohnung nicht, ehe sie
nicht judenfrei gemacht ist.” Und, ein Seufzer, jovial plötzlich:
„Dafür gibt’s doch die KL. Warum bin ich da nicht früher
drauf gekommen. Ein KL! Sie verstehen, was ich meine? Ein KL!
Das ist das Passendste für einen Juden. Das ist es doch.
Wir brauchen ihn nur zu verschicken.” „Und zeitlich? passt das?
bis zum Geburtstag?” Von Fürich, kleinlaut: „Nein. Das
reicht nicht.” Er dreht den Kopf, greift wieder nach Mohaupt,
erfolglos, lacht. „Sie wissen, was KL heisst? Kaufe
Lingeriewaren! Hahaha.” KL heisst Konzentrationslager. Es zuckt
Mohaupt in den Fingern. Von Fürich am Hals packen,
zudrücken! Er hat noch immer eine starke Hand. Er hat noch
immer kräftige Arme. Er flüstert: „Jetzt reichts aber!”
Von Fürich zieht den Mantel aus, hebt die Mappe auf, die zu Boden
gefallen ist, entledigt sich der Krawatte, wischt mit dem Schal
über Stirn und Kopf. Er atmet schwer. „Wo also?” fragt
Mohaupt. „Ich habs”, sagt von Fürich. „Das ist es, das macht Sinn.
Das Theater am Nollendorfplatz.” „Juden dürfen Theater
nicht betreten.” Drauf von Fürich, rasch: „Zoo? Bahnhof Zoo?
Zoo-Palast? Nein –” Er sagt es selbst. „Juden dürfen
Lichtspielhäuser nicht betreten.” Mohaupt öffnet die Fensterluke
einen Spalt breit. „Aber –” sagt er. „– wie sieht das aus, wenn
wir in die letzte Instanz gehen?” “Am Alex? Zu verdächtig. Aber –”
Von Fürich dreht den Kopf, fährt den Zeigefinger aus.
„– warum nicht? warum nicht eine Synagoge? Fasanenstrasse,
Prinzregentenstrasse, Pestalozzistrasse? Nur, weil die
Synagogen – Das heisst noch lange nicht – nur, weil sie geschlossen
sind...” „Abgefackelt.” „Ich meine – nachts sieht uns doch
keiner.” „Juden dürfen nach achtzehn Uhr ihre Wohnung nicht
verlassen.” Aber was sie auch erwägen, stets bestätigt sich,
es ist in der Stadt bei all den Schikanen und Vorschriften darüber,
was Juden nicht dürfen, nicht so leicht, einen Ort zu finden,
an dem sie Collin treffen können. Auf einmal sagt von Fürich: „Ja, verdammt, wo lebt der Jude denn in dieser Stadt?” „Das haben
Sie gesagt.” „Ich habe gar nichts gesagt.” „Nein, Sie erschweren mir
nur andauernd die Aufgabe.” Das war lange fällig, denkt
Mohaupt. Das musste mal gesagt werden. Von Fürich stösst ihn
vor den Kopf, seit er in der Haberlandstrasse eingezogen ist
und ihm die Karte mit dem neuen Strassennamen überreicht hat,
Nördlinger Strasse! Wo ist denn so etwas! Nördlingen! und,
um Gottes willen, was soll das sein! Er sagt: „Wissen Sie was! Sie erschweren mir nur andauernd die Aufgabe, und das zum
selben Preis.” Von Fürich niest, nimmt den Schal hoch, wischt ab.
„Der Preis steht fest. Wir haben uns geeinigt. Wir wollen das
nicht in Frage stellen. Wir könnten sonst andere Saiten aufziehen.
Und, ach, übrigens – Ich glaube nicht, dass Sie in ihrem Leben
je einmal so eine Stange Geld aufs Mal gesehen haben, mein Lieber.”
Von Fürich ist ein Scheusal, denkt Mohaupt. Oder ist es die
Wirklichkeit? ist sie das Scheusal geworden für Juden? Von Fürich sagt: „Lassen Sie sich etwas einfallen.” Mohaupt winkt ab.
„Das wird heute nichts mehr.” Von Fürich: „Es wird doch möglich
sein in der Reichshauptstadt einen öffentlichen Ort für
diese Übergabe zu finden.” Mohaupt: „Machen wir morgen weiter.”
Von Fürich: „Heil Hitler.”
Immer feste druff! Von Fürich hat das Glas erhoben,
er stösst mit Mohaupt an. Er hat einen Pfälzer Wein mitgebracht,
sie sitzen auf Stühlen in der Werkstatt. “Auf das
Geburtstagsgeschenk!” Er drückt die Augen zusammen.
Er trinkt. „Es soll eine Überraschung sein. Geheim.
Vertraulich. Das bleibt unter uns. Aber –” Vorgebeugt, erhobener
Finger. „– ich weiss, alle suchen nach ‘nem Geschenk,
aber wir –” Er schnalzt. „– wir haben das Geschenk. Heil Hitler.”
Er trinkt, wischt den Mund ab. „Ich hab’s gewusst,
von Anfang an! Auf die Partitur von Immer feste druff! Das ist
keine Blindbuchung. Das ist eine Neubewertung!”
Er trinkt aus, stellt das Glas auf die Hobelbank, holt eine
Cigarre hervor, will sie anzünden. „Nicht Rauchen”,
sagt Mohaupt. „Aber – wieso nicht? Ist doch gemütlich.”
„Else. Meine Frau”, sagt Mohaupt. Innerlich lacht
er. Er trinkt aus. Er sagt: „Da riecht sie gleich, dass da was
läuft da unten.” Von Fürich, diesen Abend, ihrem dritten,
im Anzug erschienen, steckt enttäuscht die Cigarre weg. Er sagt:
„Wenn Sie keinen Vorschlag haben, ich hab einen –”
„Da bin ich aber gespannt.” Von Fürich überhört das. Er schwenkt
überzeugt den Wein, hebt das Glas, trinkt. „In der Kantine
der Staatsoper.” „Wenn Sie wollen, dass er davon
erfährt, brauchen Sie nur dorthin zu gehen.” „Er?” „Sicher
nicht Gott. Hitler natürlich”, sagt Mohaupt. „Aber ––”
Und, nach einer Pause, nachdenklich: „Von der Jägerstrasse
bis zum Alexanderplatz, das schaffen Sie doch – es gibt
da einen U-Bahn-Tunnel, der nicht benutzt wird, nicht weit vom
Alexanderplatz.” Von Fürich: „Zu gefährlich. Ich riskiere
ja mein Leben.” Mohaupt, als hätte er drauf gewartet, entgegnet:
„Dann bleibt nur die Schwimmhalle.” Von Fürich:
„Schwimmhalle? Da dürfen Juden nicht rein.” Mohaupt wieder:
„Die Schwimmhalle an der Finckensteinallee.”
Von Fürich, perplex: „Ausgerechnet.” Und Mohaupt, fast
gelassen jetzt: „Wissen Sie was. Mir ist das zu blöd.
Ich kenne den Schwimmmeister persönlich. Ich hab ihn gefragt.
Und er hat nichts dagegen.” Von Fürich schenkt nach.
Er lallt. Er sagt: „Werden Sie nicht frech, Volksgenosse. Werden
Sie nicht wie der Jude frech.“ Mohaupt sagt: „Die Frage
ist nur, wie soll er da hinkommen? zu Fuss?” Von Fürich: „Der Mann erfriert! Warum nimmt er nicht die Strassenbahn?”
Mohaupt: „Für Juden verboten.” Von Fürich ist beschwipst.
„Ein Kraftfahrer muss ihn holen.” Mohaupt: „Ein
Polizeiwagen?” Von Fürich: „Sicher nicht.” Mohaupt: „Aber –
wie kommt er? kommt er mit Stern oder ohne?”
Von Fürich: „Auf keinen Fall mit Stern, da denkt ja jeder,
wir kaufen vom Juden.” Die Flasche ist leer.
Mohaupt, erleichtert: „Er benutzt öffentliche Verkehrsmittel.
Er kommt ohne Stern. Er hat gesagt, er hat Übung.
Er hat gesagt, er beginnt jeweils gleich von der Grösse
deutscher Musik zu reden, von Wagner, Beethoven,
Bruckner. Er hat gesagt, das tut er so überzeugend, dass sie
Abstand nehmen vom Anfangsverdacht.”
Die Schwimmhalle an der Finckensteinallee, zu den
Olympischen Spielen 1936 erbaut, ist gross, das Becken, fünfzig
Meter lang, fünfundzwanzig breit, zwischen zweizwanzig
und fast fünf Meter tief, fasst fünftausend Kubikmeter Wasser,
das sind fünf Millionen Liter geheiztes Wasser, seid
umschlungen, Millionen, die Lüftung hat die Firma Junkers erstellt,
und heisse Luft der Dampfheizung schlägt von Fürich
entgegen, als er die Tür zum Bad aufstösst. Heisse Luft, denkt er.
Nichts als heisse Luft. Augenblicklich beschlägt seine
Brille, er nimmt den Schal, reibt die Gläser ab, vergeblich, und
verflucht Mohaupt für die Idee den Juden hier zu treffen.
Eine Blondine, prächtige Brüste, straffe Schenkel,
entsteigt dem Wasser, ein Hüne, muskulöser Oberkörper,
Scham rasiert, folgt, beide nackt. Er läuft erregt, alles nach ihr
ausgestreckt, nicht nur die Hände, Richtung Umkleide,
in der sie, helles Kichern, geschwungener Hintern, verschwindet.
Im Schlepptau des Schwimmmeisters betritt Mohaupt die
Schwimmhalle. „Wo bleibt er?” fragt von Fürich. „Keine Ahnung”,
antwortet Mohaupt. Er grinst, Schultern gezuckt.
„Montag ist Tag der deutschen Körperkultur”, sagt der
Schwimmmeister, blickt von Fürich, der im Mantel
dasteht, in seinem Gabardine-Mantel, mit Schal, mit Ledermappe,
grimmig an und lacht. „Junger Mann, Sie müssen
alles ablegen.”
Sie stehen an der Habsburger Strasse, es ist eiskalt,
kriegsverdunkelt, menschenleer. „Ich warte draussen”, sagt
von Fürich. „Ich komme nicht mit hinein.” Er hebt
den Blick mit einem Fluch zum Himmel. Er zieht an der
Cigarre, die er an der Ecke angezündet hat. Eine
Viertel, eine halbe, drei Viertel, eine Stunde haben sie gewartet.
Die Schwimmhalle! Er friert. Er hätte ein Bad nehmen
sollen! Mohaupt sagt: „Kein Problem.” Von Fürich zählt viertausend
Reichsmark in Hunderterscheinen vor ihm aus.
„Ich bin gleich zurück”, sagt Mohaupt, steckt das Geld ein
und verschwindet im Haus Nummer 11. Er läutet.
Er hört Schritte. „Wer ist es?” fragt jemand. Eine weibliche
Stimme. „Mohaupt“, antwortet er. „Das Geburtstagsgeschenk.”
Es ist Hedwig Collin, die Ehefrau. Sie öffnet. Und Willy
Collin, der Kapellmeister? Er sitzt am Tisch, blättert in Immer
feste druff! Hedwig legt den Arm um seine Schulter.
Du gehst mir da nicht hin! hat sie gesagt. Er klappt die Partitur
zu, Mohaupt zählt zweitausendeinhundert Reichsmark
vor ihm aus. „Wie gesagt”, sagt Collin. „Ich hab auch Lohengrin.”
Mohaupt verlässt das Haus. Dabei, denkt er, es ist erst
Vorabend, es ist erst Januar, der Krieg hat erst begonnen.
Rike Mohaupt nimmt auf dem
Sofa Platz, steht gleich wieder auf und durchwandert erneut das Wohnzimmer. Hat sie die Haarbürste verlegt? Sucht sie
Vivian Kretschmars Visitenkarte? Bekommt Sie die Periode?
Lässt die Begegnung mit Stephen Wagoner, wenn ers
denn war, sie nicht los? Sie fegt einen Stadtplan beiseite, der auf
dem Sofa liegen geblieben ist. Sie denkt, Berlin ist nicht
die Stadt, in er mal einfach so auftaucht. Nicht ihr Ex. Nicht Stephen
Wagoner. Dafür ist er zu konservativ. Und Berlin zu verrückt.
Sie bleibt am Fenster stehen. Er verfolgt sie. Hier, in der Wohnung.
Er verfolgt sie auf Schritt und Tritt. Sie hat ihn ausgesperrt.
Sie weiss, sie kann das. Sie hat es schon mal getan. Sie hat ihn verlassen. Sie hat Stephen Wagoner aus ihrem Leben
gelöscht. Ppppt. Ein Knall. Sie erschrickt. Was war das? und wo?
Es ist die Flasche, denkt sie. Die 1,5-Liter-Flasche
Mineralwasser. Sie hat ausgebuchtet. Sie hat die Flasche
im Wohnzimmer herumgetragen. Sie hat nicht getrunken. Sie hat
nicht gegessen. Sie hat die Flasche zuletzt auf den
Küchentisch gestellt. Der Flaschengeist. Ihr Ex. Stephen Wagoner.
Er ist der Flaschengeist. Sie dankt, kann sein, sie ist verrückt.
Er quält sie. Dabei, denkt sie. Er ist nicht in der Stadt. Er quält sie
im Kopf. Er bemächtigt sich ihrer. Er ist zurückgekommen.
Dabei, denkt sie. Warum nicht ein Berlin-Trip für Stephen Wagoner?
Berlin setzt auf Tourismus, Berlin will Las Vegas werden,
das hat – wer hat das gesagt? das hat ein Kunde gesagt, der in der
Galerie stand heute, das hat einer der zwei Herren aus
Mülheim gesagt. Ein amerikanischer PR-Guru ist eingeflogen
worden. „Wir haben drei Opernhäuser”, sagen die
Berlin-Vermarkter, aber der amerikanische PR-Guru ziert sich.
„Mhm, Oper! Das ist etwas schwierig. Oper kann ich
nicht jedem vermitteln.” Und dann, nach einer Pause: „Was ist
denn mit der Mauer?” Drauf die Berlin-Vermarkter,
düpiert: „Ja, die haben wir jetzt abgerissen.” Aber auch das
vergisst Rike augenblicklich, sie denkt, was ist, wenn
Stephen Wagoner in Berlin ist, er selber? Um diesen Gedanken
dreht sich alles, dreht sich alles in ihrem Kopf. Ob sie heiss
hat, ob sie kalt hat, sie wird diesen Gedanken nicht los. Sie ist
beunruhigt. Aber hat sie dazu nicht allen Grund? Sie geht
spät zu Bett, sie schläft lange nicht ein, jetzt ist sie wieder hellwach.
Es ist zwei Uhr nachts. Sie denkt, in NYC ist es acht Uhr
abends. Sie ruft Fabio Calvani an. Sie fragt: „Bist du am Union
Square gewesen, im Loft bei Stephen Wagoner?” Er sagt:
„Nein. Ich hab Steamboat geschickt.” Sie denkt, Steamboat? Sie
kennt keinen Steamboat. Sie hört den Namen das erste
Mal. Sie fragt: „Wer ist Steamboat?” Fabio zögert. Er sagt: „Ein Kunsthändler, ein Kunsthändler aus Queens. Er ist
gerade hier. Er ist gerade erst gekommen. Er war bei Stephen Wagoner. Er hat mit ihm gesprochen. Er hat ihm, weisst
du, er hat ihm etwas vorgeschlagen, etwas Richtung Art and Wine,
und Wagoner schien nicht abgeneigt.” Sie ist aufgestanden.
Sie tritt auf die Türschwelle zum Wohnzimmer, sie tritt vorsichtig
ein, sie hat kein Licht gemacht. Sie wandert durch
das Wohnzimmer. Sie bleibt am Fenster stehen. Plötzlich
glaubt sie, Stephen Wagoner steht neben ihr, er fasst
sie um die Schulter. Sie schüttelt ihn ab. Sie greift an die Stirn.
Wahnsinn. Sie steht im Dunkel am Fenster. Sie sagt:
„Und ich – ich hab also geträumt! Ich hab geträumt von Stephen
Wagoner. Am helllichten Tag, auf offener Strasse!”
Fabio sagt: „Ich liebe dich.” Sie glaubt, sie hat Fabio leibhaftig
am Ohr, sie glaubt, er hat sie geküsst, er hat sie wachgeküsst,
er hat sie aus dem Wahnsinn befreit, sie sagt: „Ich liebe
dich auch.” Sie ist gerührt, sie wendet sich vom Fenster ab, sie
wischt eine Träne aus dem Gesicht, sie wandert durch
das Wohnzimmer, sie weiss, sie ist zerfahren, sie weiss, sie ist
beunruhigt, erregt, verängstigt, sie denkt, sie ist beunruhigt,
seit sie aus der Galerie trat, sie denkt, sie ist erregt, seit sie auf der
Brunnenstrasse stand, sie denkt, sie ist verängstigt, seit
sie Stephen Wagoner zu sehen glaubte. Sie lacht. Diese Rührung,
denkt sie, hat mit Fabio nichts zu tun. Da ist auf einmal
dieser Verdacht, dieser Anfangsverdacht. Warum hat Fabio nie
etwas gesagt? Hat er etwas mit Steamboat? Warum
hat Fabio nicht gesagt, er trifft in NYC Steamboat? Warum
hat er ihr das vor der Abreise nicht gesagt? Sie glaubt,
Fabio betrügt sie. Sie glaubt, er fickt Steamboat. Sie glaubt,
das ist die Wahrheit hinter Stephen Wagoner und allem,
was sie in den letzten Stunden verfolgt hat. Lächerlich, was sie
sich eingebildet hat. Lächerlich. Sie spürt den linken Fuss,
den sie abrollt. Er schmerzt. Sie ist barfuss. Sie schüttelt den Kopf.
Sie hört, wie Fabio sagt: „Jedenfalls, das weisst du jetzt –
das mit Stephen Wagoner, das ist nichts. Du kannst
dich schlafen legen. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung,
hörst du, es gibt keinen –” Soll das ein Witz sein? Das
stimmt nicht, denkt sie. Das stimmt alles nicht. Er lässt sie sitzen,
er ist in NYC, er hat Steamboat. Er fickt ihn. Und sie? sie
macht ihm die Galerie, sie schiebt in Berlin die Kugel. Das ist ein
schlechter Witz, das ist ein verdammt schlechter Witz,
es ist zwei Uhr nachts, und sie – ja, sie sitzt allein hier, sie sitzt
in Moabit und kann nicht schlafen. Sie nimmt das Telefon
in die andere Hand, sie sagt: „Nein, warte. Nur eine Sekunde.”
Sie geht um das Sofa herum, sie will nicht anstossen,
nicht mit dem linken Fuss, nicht mit dem rechten Knie, nicht mit
der Hüfte, nicht mit der linken Zehe. Der Parkettboden.
Er sollte geschliffen werden, aber der Vermieter lässt nichts von
sich hören. Nur so eine Idee. Auch so ein Anfangsverdacht.
Sie tritt ans Fenster. Sie blickt auf die Strasse hinunter. Stephen
Wagoner! Sie tritt augenblicklich zurück. Hat er sie
gesehen? Sie sagt ins Telefon: „Bist du noch da?” Erschrocken,
getroffen: „Ich glaubs nicht.” Er hat sie gesehen.
Er steht unten. Stephen Wagoner. Der verlassene Mann.
Der Hafenwächter. Sie ist nicht allein. Sie fickt
Stephen Wagoner. Er steht draussen. Er harrt aus. Ihr bester
Kunde. Sie denkt, sie wartet auf ihn. Sie steht unten,
sie steht auf der Strasse. Sie spricht ihn an, wie wär’s mit uns
zwei? Sie sagt zu Fabio: „Ich bin nicht allein.” Fabio
versteht nicht. „Ist etwas?” Rike, der Ton ist bitter: „Nein. Nur
Stephen.” Fabio, lautlos: „Was!” Rike, vehement:
„Er steht unten. Er ist da.” Fabio versteht noch immer nicht.
„Das ist unmöglich.” Und Rike, die freie Hand an der
Stirn: „Ich hab’s gewusst. Ich hab’s die ganze Zeit gewusst.
Ich hab mich nicht getäuscht.” Rike denkt, gleich läutet
er unten, im selben Augenblick läutet Stephen Wagoner an der
Haustür. Rike fährt zusammen. Sie sagt ins Telefon:
„Er läutet.” Fabio sagt: „Was will er? Hier einziehen?” Rike fasst
mit der freien Hand ins Haar. Sie sagt: „Er läutet. Er will
rein.” Fabio sagt: „Jetzt? mitten in der Nacht? Ich weiss nicht,
was der Mann will.” Stephen Wagoner läutet erneut
an der Haustür, schärfer diesmal. Rike sagt zu Fabio: „Oh, doch.
Ich weiss, was er will. Er will mich.” Sie denkt, drauf folgt
ein Tusch, erneut läutet Stephen Wagoner an der Haustür, lange,
eindringlich. Fabio sagt: „He’s really crazy.” Rike sagt:
„Er will rein. Ficken.” Jetzt hüstelt Fabio. „Er bringt dich um.”
Rike unbeeindruckt, bestimmt: „It’s tough, but we move
on, sagst du immer. Soll ich runtergehen? mit ihm reden? ihn reinlassen?” Fabio, abwehrend: „Du bleibst, wo du bist.
Du machst die Tür nicht auf.” Rike dreht sich langsam um. Sie
blickt zur Tür. Nichts rührt sich. Dabei – Stephen Wagoner
hat aufgegeben, denkt sie. Kein Läuten mehr. Nichts. Aber sie –
nicht Stephen Wagoner, der’s verdient hat – sie hat
kalte Füsse bekommen. Sie tritt vom linken auf den rechten.
Stephen Wagoner. Fabio Calvani. Sie denkt, sie hat im
Umgang mit ihren Männern kalte Füsse bekommen. Einer will sie
fressen. Der andere – und wenn es anders ist? sie stutzt.
Wenn es die andere Front ist, die wackelt? Der andere tröstet –
und betrügt sie gerade. Rike sagt, heiter, aufgedreht: „Hast
du nicht eben gesagt, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung?
Das ist die Sicherheit, ich sehe. Nichts ist trügerischer
als die Sicherheit. Und überhaupt, sag mal, Art and Wine, was
ist das, was soll das sein?” Fabio, tiefe Stimme,
nachdenklich: „Art and Wine? Du meinst, was Steamboat
angeboten hat –” Ein Fake, denkt Rike. Art and Wine
ist ein Fake. Und sie wird damit reingelegt. Sie hat genug gehört.
Sie sagt: „Er ist – er ist ein Kunsthändler aus Queens,
hast du gesagt?” Fabio, genervt: „Steamboat? Es ist Steamboat
gewesen, der die Ausstellung mit der Photographin
aus Prag vermittelt hat. Libuna. Du erinnerst dich vielleicht.”
Rike bejaht. Und ob sie sich erinnert. Die Spur des
Lebens. Am Bildnis einer Frau. Libuna. Ändert das nicht alles?
Libuna. Das ist der Ausgangspunkt ihrer Liebe zu Fabio.
Rike sagt: „Steamboat also. Vielleicht ist Steamboat gar nicht
dort gewesen, am Union Square, im Loft.” Fabio lacht.
Er sagt: „Steamboat? Glaub ich nicht. Ist nicht seine Art. Er sagt,
er war dort.” Aber Rike ist nicht befriedigt, noch nicht.
„Vielleicht – Stephen Wagoner hat einen Bruder. Kann ja sein,
Steamboat hat mit dem Bruder gesprochen?” Fabio
gibt sich nicht mal Mühe, sein Desinteresse zu verbergen.
„Steamboat? Keine Ahnung.” Aber Rike, die nicht nur
aufgewühlt, die auch wach ist, wacher denn je, gibt nicht auf.
„Hör mal. Dieser Name. Wie kommt Steamboat
zu diesem Namen?” Fabio lenkt ein. „Hat er von mir, nur ich
nenn ihn Steamboat. Als ich ihn vor zwei Jahren
kennenlernte, das war auf einem Ausflugsdampfer auf dem
Mississippi, dachte ich gleich an Buster Keaton, an den
Film Steamboat Bill Jr. Geblieben ist davon Steamboat. Aber –
weisst du, auf Steamboat ist Verlass.” Aber Rike, mit
auffahrender Stimme: „Verlass? Du kannst das nennen, wie
du willst. Aber da unten ist Moabit, Quitzowstrasse.
Und unten steht Stephen Wagoner.” Dann hat Fabio einen
Einfall. „Hör mal, kannst du nochmal aus dem Fenster
schauen, nur kurz?” Rike sagt: „Eine Sekunde.” Rike tritt ans
Fenster. Sie blickt auf die Strasse. Stephen Wagoner
ist weg. Rike sagt zu Fabio: „Er ist – er ist weg.” Aber jetzt ist
es Fabio, der skeptisch reagiert. „Wart’s ab, vielleicht
hält er sich nur warm, vielleicht läuft er nur um den Block herum.”
Rike blickt nochmal durch das Fenster. Der Asphalt,
der Baum, die Strassenlampe. Stephen Wagoner ist weg.
Rike sagt: „Er ist weg.” Fabio, der dem Frieden nicht
zu trauen scheint, sagt: „Und wenn Stephen Wagoner im Haus
ist? Und wenn er im Treppenhaus ist?” Ein teuflischer
Gedanke. Aber Rike ist ganz plötzlich ganz mutig geworden.
Sie sagt: „Bleibst du mal dran.” Sie geht an die
Wohnungstür. Sie späht durch den Spion. Niemand. Sie
schliesst die Tür auf. Sie hat Shorts an, ein Kurzarmtop,
Baumwoll-Jersey, die Farbe, die sie jetzt grey melanche nennen.
Sie öffnet, das Telefon am Ohr. Sie tritt barfuss hinaus,
sie berührt das Geländer. Das Treppenhaus leer. Sie geht zurück.
Sie zieht die Tür zu. Sie schliesst ab. Sie sagt: „Er ist –
er ist weg.” Und Fabio sagt: „Ein Spuk.” Rike zuckt die Schultern.
Sie sagt: „Der Flaschengeist.” Fabio sagt: „Bis morgen?”
Und Rike, halbwegs doch erleichtert: „Ja. Bis morgen.” Und dann,
als wolle er nicht auflegen, sagt Fabio noch: „Falls er nochmal
auftaucht, rufst du an, egal wann.” Rike hat kalt. Die Hände, denkt
sie. Die Füsse. Sie ist müde. Sie sagt: „Ja, ich ruf dich an.”
Fabio, nochmal: „Alles ist gut.” Und Rike, ein Lächeln,
ein sarkastisches: „Ich hab dir den Abend verdorben.” Und Fabio
wieder: „Nein. Hast du nicht. Schlaf gut.” Das heisst,
denkt Rike, Steamboat bleibt über Nacht. „Bis morgen”, sagt
sie. Ein Fake, denkt sie. Art and Wine ist ein Fake. Und
sie wird damit reingelegt. Gegen drei schläft sie ein, fährt nochmal
auf, liegt hellwach, schläft nochmal ein, und anderntags,
sie ist spät dran, bemerkt sie, als sie aus dem Haus tritt, die
angekippte Tür des Briefkastens, bemerkt die Plastiktüte
mit dem handgemachte Siebdruck-T-Shirt Berlin Illustrated Vive la Crise! und bemerkt, wie etwas ihr zwischen die Füsse
flattert. Ein Flyer. Drauf die Notiz: I am here. It’s late. Stephen.