ECHT KRASS
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XIII
VIVIAN KRETSCHMAR HAT EINGELADEN. DAS HAUS IN
Grunewald ist rappelvoll mit Gästen. Studentinnen reichen für einen
Catering Service Getränke und Häppchen, die sie auf Tabletts
durch die Menge balancieren. „Nette Leute”, sagt Fabio Calvani.
Er ist mit Rike Mohaupt gekommen. „Ich hab auf der Zunge
gesessen”, sagt er, als sie vor das Haus treten, eine Stunde später. „Ja”, erwidert sie. „Ist echt krass. Es hört keiner zu, bis du
einen Fehler machst.” Ein Gast hatte sie auf das Bild Leuchtturm
angesprochen, das Stephen Wagoner erstanden und bei
seinem Konkurs verloren hatte. Ein Anwalt? Ein Staatsanwalt?
Ein Ermittler? Grotewohl, hatte der Mann sich vorgestellt,
Endfünfziger, Brille, als er auf sie zugetreten war, sportlich-elegant,
ganz aufgezäumte jugendliche Altersfrische, weisse Hose,
weisses Hemd, leuchtender Veston, die rechte Hand
in der Hosentasche, in der linken ein halbgefülltes Glas. Und,
hat sie gedacht, woher weiss er das überhaupt? das mit
dem Leuchtturm? wie ein Zahnarzt sieht er nicht aus. Nein, kein
Zahnarzt. Ein Sammler, ein Kunstsammler? Eher nicht.
Ein Rechtsanwalt? Rechtsanwälte hat’s unter den Gästen schon deshalb nicht zu knapp, weil Vivians Ehemann selber einer
ist, einer mit Partnerkanzlei am Ku‘damm. Hat er’s von Vivian? hat
sie mit diesem Grotewohl gesprochen? Aber woher soll
sie das wissen? das mit ihrem Ex? dass er Konkurs gemacht, dass
er sich erhängt und überlebt hat? Es ist Viertel nach neun,
Rike beisst auf die Unterlippe, es hat einzudunkeln begonnen. Von
Steamboat, denkt sie, hat er das bestimmt nicht. Nein, von
Steamboat nicht. Hat sie das Vivian erzählt, sie selbst? Hat Fabio
es ihr erzählt? Da fällt Rike ihre Mutter ein. Ireen Mohaupt, Photographin in Brooklyn. Sie weiss es auch. Alle wissen es. Es
zieht Kreise. Es zieht immer weitere Kreise. Es ist wie mit
dem Leck der Bohrinsel, die im Golf von Mexiko explodiert und
im Meer versunken ist, BP versucht es zu deckeln, mehr und
mehr Öl fliesst aus, es nähert sich der amerikanischen Küste, Obama
ruft den Notstand aus. Ölpest? denkt Rike. Es ist Gallery
Weekend, aber von den Galerien der Brunnenstrasse beteiligt sich keine, Fabio hatte sie sechs Uhr abgeholt, ein Frühlingstag,
eingetrübt, bis in den Nachmittag hinein sommerlich heiter, sie hatten die Galerie wie gewohnt dichtgemacht, aber übermorgen wird
Fabio öffnen, wegen dem Gallery Weekend das erste Mal sonntags. Sie hebt den Kopf. Ein gepflegter Rasen. Hinter dem
Heckenzaun ein Tennisplatz, ein Nebenplatz der Anlage, wo das German Open stattgefunden hat. TC Rot-Weiss hat Vivian
gesagt? TC Rot-Weiss? Jetzt fällt ihr ein, was sie Vivian bei der Party hatte sagen hören: „Das sind Fabio und Rike, meine Freunde.
Eine benachbarte Galerie.” Und dann, und das hatte alle vorherige
Erinnerung zugedeckt, so erschrocken war sie: „Sie haben
das Ölfass verkauft.” Vivian hatte mit dem Handrücken über die Stirn
gefahren. Und hinzugefügt: „Das Ölfass. Und den Leuchtturm.”
Aber hatte Vivian das gesagt? hatte sie das wirklich gesagt? Oder
bildete sie sich, denkt Rike, das ein? „Was ist der Unterschied?”
sagt Fabio. Liest er jetzt ihre Gedanken? Vivian hatte auch noch gesagt, die zwei Herren aus Mülheim steckten das locker weg, das Geld, das sie für das Bild Ölfass bezahlt hätten, die zwei
Herren aus Mülheim hätten eine dicke Dividende eingestrichen, auf
der Aktionärsversammlung der Transocean, der Deepwater
Horizon gehört hatte, die Bohrinsel, die im Golf von Mexiko explodiert war, eine Milliarde Dollar an Dividende hatte Transocean gerade
an ihre Aktionäre ausgezahlt, in Zug, Switzerland, hinter verschlossenen Türen, in verdächtiger Eile. Und warum wusste Vivian das alles? weil sie selber Aktien der Transocean hatte? oder ihr Ehemann, der Rechtsanwalt? oder einer seiner Kunden? Deepwater Horizon, was für ein Wort für eine Bohrinsel! was für ein Wort
für ein Desaster! denkt Rike und hat das Bild Ölfass im Kopf, das sie den zwei Herren aus Mülheim verkauft hatte, Deepwater
Horizon, sie spürt das klumpige Würgen im Hals, es sprudelt, sie
denkt, BP kann das Leck nicht stopfen, es sprudelt, 800 000
Liter Öl, es sprudelt seit zehn Tagen, 800 000 Liter Öl jeden Tag,
es sprudelt, das Leck, es sprudelt in 1500 m Tiefe, es war
ein milder Frühlingstag gewesen, als es am Abend des 20. April
begonnen hatte, vierzig Meilen von der Küste von Louisiana
im Golf von Mexiko, und zuerst, nach der Explosion an Bord der riesigen Bohrinsel Deepwater Horizon, hatte der Betreiber
der Bohrinsel, BP, die ausfliessende Ölmenge auf 1000 Barrels
jeden Tag geschätzt, 1 US Barrel Petrolium, das ist das
internationale Standardmass für Erdöl, das ist 158, 97 Liter Öl,
und das ausfliessende Öl, hat der Chief Executive Officer
von BP sich gedacht, was ist das schon? naja, noch so ein ekliger
Job halt. Jetzt steht sie mit Fabio vor dem Haus, mit ihm
allein, niemand ist ihnen gefolgt, sie fasst ihn am Arm, sie sagt:
„Mir ist schlecht.” Er nickt. Sie stellt sich vor, die ganze
lachende, sich angeregt unterhaltende Gesellschaft verstummt.
Die Gäste stehen im Halbkreis um sie herum. Alle blicken
sie an. Es ist eine Schande. Gut, ist sie abgehauen, denkt sie.
Sie muss nicht jede Peinlichkeit aushalten. Sie schüttelt
den Kopf. Nein, muss sie nicht. Sie sagt: „Ich kann nicht bleiben.
Ich kann nicht.” Der Abend hat kaum begonnen. Sie verlassen
die Gesellschaft. So ist das, denkt sie. Einer bezahlt immer. Sie sagt: „Er ist entlassen worden.” Fabio erwidert: „Wer?” Sie sagt:
„Stephen.” Sie fährt mit der Hand durch das lockige, blonde Haar.
Sie lacht. Entlassen, denkt sie. Aus dem Beth Israel Medical
Center in Manhattan. Aus dem Konkurs. Aus der Liebe. Aber, denkt
sie, hat die Liebe nicht immer Züge einer Verfolgergeschichte?
Und warum ziehen aufregende Plätze sie immer so an? Sie geht mit Fabio die Strasse entlang. Was ist das? die Douglasstrasse?
Sie ist nicht mehr sicher. Sie nimmt Fabio bei der Hand. Sie gehen
ein paar Schritte. Sie biegen in die Auerbacher Strasse ein.
Dann stehen sie auf dem S-Bahnhof Grunewald.. Es ist
Freitag, 30. April. Es hat eingedunkelt. Sie hebt den Kopf. Sie sagt:
„Ist im Mauerpark Walpurgisnacht?”
Er pfeift. Er heult. Er bettelt.
Montagnacht, 8. Februar 1943. August Mohaupt trägt seinen Schlapphut. Er hat Gummihandschuhe an. Und eine Mappe dabei.
Ein Plakat an der Eingangstür: Das spannende Ravenbuch. Ravensberger Strasse 17a, Wilmersdorf. Auffermann Verlag. Das
Treppenhaus kriegsverdunkelt. Er stösst die Tür auf, sie ist
offen. Er hat den Tunnelblick. Bernhardchen, denkt er.
Dann tritt er in den abgedunkelten Verlag. Hinter einem Tisch
steht Dr. Bernhard Gröttrup. Er blickt auf. Er sieht
Mohaupt angsterfüllt an. Er sagt: „Was wollen Sie?” Mohaupt
packt ihn an der Gurgel. Er lacht das kurze, schrille
Mohaupt-Lachen. Er sagt: „Memoiren.” Gröttrup reisst sich los.
Er flieht in den Abstellraum. Lauter Bücherregale. In
der Mitte ein Tisch. Und auf dem Tisch eine Thermosflasche.
Gröttrup packt sie, hält sich verzweifelt an ihr fest. Er pfeift.
Er heult. Er bettelt. Er sagt: „Ich hab nichts getan.” Mohaupt öffnet
die Mappe, holt den Schlosserhammer heraus und schlägt zu.
Gröttrup sackt zusammen. Mohaupt hat ihn am Hinterkopf getroffen. Die Thermosflasche ist Gröttrup aus der Hand gefallen und
umgekippt. Mohaupt schlägt ein zweites Mal zu. Oberkörper und rechter Arm von Gröttrup liegen über die Tischplatte verteilt.
Aufreizend langsam rollt die Thermosflasche davon, gefolgt von
einem dunklen Rinnsal, seinem Blut. Mohaupt schlägt ein
drittes Mal zu. Die Thermosflasche knallt zu Boden und springt auf,
Kaffee ergiesst sich unter den Tisch. Mohaupt reisst am
Bücherregal. Das Verlagsprogramm von 1939 stürzt auf Gröttrup nieder. W. W. Bröll, Das Haus in den blauen Sümpfen. W. W.
Bröll, Der Todesspringer. Hugh Clevely, Der Gangsterfeind. Hermann Falk, Ein Mörder fürchtet sich. Bernd Grote, Das Geheimnis der
Teufelsbrücke. Hanns Heidsiek, Das Verbrecher-Sanatorium. Harry
Hoff, Das tödliche Erbe. Harry Hoff, Das Wachsfiguren-Kabinett.
Harry Hoff, Die schwarze Maske. Harry Hoff, Drei Herren von
Scotland Yard. Harry Hoff, Verlorenes Spiel. Gavin Holt, Der Boss kommt nach England. Gavin Holt, Der grüne Falke. Gavin Holt,
Mord in der Paternoster Row. Jan Holt, Sensation um Trix. Harry
Stephen Keeler, Diebesnächte. Harry Stephen Keeler, Fünf
silberne Buddhas. Heinrich Maron, Das tödliche Rebus.
Hanns Marschall, Nummer 7 rechnet ab. H. E. Marx, Die Werft
Olkyn. John Revor, Chiefinspektor Leslie. John Revor,
Helen contra Laing. John Ross, Das schwarze Mal. John Ross,
Die Mokassin-Männer. C. V. Rock, 10 g Blausäure. C. V.
Rock, An einer einsamen Strasse. C. V. Rock, Der Klageruf. C. V.
Rock, Hände hoch! C. V. Rock, Kennwort Machin. C. V. Rock,
Mörder ohne Nerven. C. V. Rock, Zeitungs-Jimmy. Jack Rudor, Mr. Lynch lässt bitten. Louis Vetter, Der sprechende Schädel.
Louis Vetter, Die Salbgefässe des Mahdi. Louis Vetter, Nächte des
Schreckens. Bruno S. Wiek, Der unheimliche Dritte.
Bruno S. Wiek, Nestors Flucht aus dem Jenseits. Peter Marius
Zell, Der Schatten von Jens Cliff Manor. „Die Ratte”, sagt
Mohaupt. Er dreht sich um. Er steckt den Hammer ein. Er macht
im Verlag das Licht aus. Im Vorgarten bleibt er stehen. Zwei
Mädchen gehen auf der Strasse vorbei. Er tritt hinaus. Er wirft die Gartentür zu. Es ist noch immer Nacht. Er steht auf der
Strasse. Er zieht die Gummihandschuhe aus. Er greift mit Daumen
und Zeigefinger nach dem Schnurrbart. Die Mädchen kichern.
Der Hauswart grüsst, wenn Fabio mit Abfällen zu den Mülltonnen geht, jetzt knapp und formell.
Er ist beleidigt. Er. Nicht Fabio. Und das kommt so. „Sie machen
sich aber rar!” hatte Hans Buhlicke ihn an der Tür zum Hof
abgefangen. Drauf Fabio: „Herr Zühke, der Nachbar, hat mich,
wann immer ich im Treppenhaus ihm über den Weg gelaufen
bin, drauf angesprochen, wie scheu ich bin, wie intellektuell. Das
war anzüglich. Das war belästigend. Jetzt hat er die Quelle
seiner Information genannt. Er hat gesagt, der Hauswart sagt,
Sie sind ein Intellektueller.” Drauf Hans Buhlicke, angestrengter
Blick, vorgebeugt: „Der Zühlke? Dieser Spinner.” Und Fabio:
„Ich hab ja nicht die Ambition zum Treppenhauswitz gemacht zu
werden. Aber ich sehe, Sie arbeiten daran.”
Tell Me More. Die Ölpest vor der amerikanischen Küste
hat ein zweiter Aufreger überlagert, der Autobomber vom Times
Square, als die Leute in die Shows strömen, am Samstagabend, versagt der Zünder im Geländewagen, zwei Tage später
sitzt Faisal Shazad im Flugzeug nach Dubai, da weist die weibliche Stimme vom Tower den Piloten in JFK an immediatly
zum Gate zurückzukehren. Immediatly, denkt Rike Mohaupt.
Nein, so ein Wort kennen die Deutschen nicht. Tell Me
More. Frische grüne Blätter an den Bäumen der Brunnenstrasse,
kaum Verkehr, ein sonniger, kühler Tag, ein idealer Lauftag,
denkt Rike, blauer Himmel, ein paar wenige hohe Wolkenfelder,
es ist Mittwoch, 5. Mai, zwölf Uhr, sie macht die Galerie auf.
Carter & Domori, den Namen der Galerie an der Brunnenstrasse,
hat Fabio Calvani gemeinsam mit Steamboat ausgeheckt.
Der Name setzt sich zusammen aus den Mädchennamen ihrer
Mütter, die drauf nicht wenig stolz sind, auch wenn sie’s
nachträglich erst erfahren. Kommt da auch das Geld
her? Wahrscheinlich schon, denkt Rike. Sie arbeitet den
zweiten Tag in dieser Woche in der Galerie. Sie hat
ihre letzte Übersetzung für Vattenfall abgeliefert. Sie hat keine
weiteren Aufträge mehr erhalten, aber einen Grund dafür
erfährt sie nicht. Sie denkt, mit Vattenfall ist es zuende. Hat sie
etwas falsch gemacht? Tell Me More, die aktuelle Ausstellung,
in die Fabio soviel investiert hat, zeigt eine Photographin
aus Queens, Cora Jane Walker. What will we leave behind? fragt
Cora Jane Walker. And will it be remembered? Rike hat in
der Galerie den Rechner angelassen, als erstes hat sie einen
Blick auf die Website der Galerie geworfen, auf der sie die Empfangsseite neu gegliedert hat, dann hat sie die E-Mails durchgesehen und ist auf eine von Steamboat gestossen, die an
Fabio Calvani gerichtet ist: War an der Auktion gestern.
Unser Freund kann sich die Finger lecken. Hab den Zuschlag bekommen für den verdammten Leuchtturm.
Steamboat ist ein Elch, denkt Rike und lacht. Sie fragt sich,
kaufen die Galeristen jetzt ihre Bilder zurück? Sie versteht nicht,
was sich da hinter ihrem Rücken abspielt. Hat sie etwas
verpasst? Sie gibt als neu behalten ein, logt sich aus und knipst,
die zwei Herren aus Mülheim treten in die Galerie, ihr
strahlendes Lachen an. Fast gleichzeitig läutet das Telefon.
Sie nimmt ab. „Carter & Domori. Ich bin Rike Mohaupt.
Was kann ich für Sie tun?” Er sagt nichts, der Anrufer. Sie weiss,
die Leitung steht. Sie weiss, er ist da. Dann hört sie, wie
er atmet. Sie hört, wie er einatmet. Sie hört sein verzehrend hingezogenes, stöhnendes Ausatmen. Dann legt er auf.
Draussen heult ein Krankenwagen vorbei. Sie hält den Hörer noch
in der Hand. Erst das Besetztzeichen holt sie in die Galerie
zurück. Stephen, Stephen Wagoner, er ist entlassen worden,
denkt sie. Nur ich bin nicht entlassen. „Ist Ihnen nicht gut?”,
fragt einer der zwei Herren aus Mülheim.
Sie träumt, sie steht in der Villa im Grunewald. Sie hat
den Eindruck, sie wird argwöhnisch beäugt. Sie hört, wie Vivian
sagt: „Das sind Fabio und Rike, meine Freunde. Eine
benachbarte Galerie.” Rike weiss, es gibt kein Entrinnen. Sie
fragt, wer sind meine Freunde? Sie hört Radio, sie hört
Wasser, sie hört Meeresrauschen, sie hört National Public Radio.
Der Golfstrom trägt Wasser nach Europa, Tag und Nacht,
Sommer und Winter, warme Wassermassen vom Golf von Mexiko
über den Atlantik nach Nordosten bis nach Europa.
Thank you for having me, sagt der Meeresforscher, der in All
Things Considered interviewt wird. Die Moderatorin fragt,
kann diese Wasserströmung Teile der auslaufenden enormen
Ölmengen bis nach Europa tragen? Der Meeresforscher
sagt, die Gefahr ist sehr gering. Es handelt sich beim Golfstrom
um gewaltige Wassermassen, das Öl wird sehr schnell sehr
verdünnt. Ausserdem kommt es zu Abbauprozessen, das Öl kann
die lange Strecke nicht zurücklegen. Steamboat, denkt
Rike. Steamboat ist kein Elch. Sie lacht. Der Elch ist als nicht
gefährdet eingestuft. Steamboat ist ein Bär. Sie weiss,
sie lacht im Traum. Sie kann das. Das Öl ist da. In Europa,
in Germany. Sie ist unterwegs an die Küste. Sie wartet
auf den Frühzug nach Cuxhaven. Steamboat steht auf dem
Bahnsteig, ein ausgewachsener Eisbär, allein und
unbeachtet von den Reisenden, die mit Rike auf den Frühzug
nach Cuxhaven warten. Ihr gefällt sofort, wie er zu sagen
scheint: Willst du dich nicht zu mir setzen, meine Kleine? Sie
steigt zu Steamboat ins Abteil. Sie packt Stulle und
Thermosflasche mit Kaffee aus, die Fabio ihr mitgegeben hat.
Aber Steamboat, der Eisbär, scheint plötzlich zu wachsen.
Der Eisbär füllt das ganze Abteil aus. Der Eisbär riecht nach Fisch.
Der Eisbär geifert. Seine Spucke schmeckt nach Lebertran.
Der Eisbär drückt sie an die Türkante. Rike kann kaum atmen. Sie versucht durch die Tür hinauszukommen. Aber auf dem
Gang stehen dichtgedrängt Reisende, die Rike nicht beachten.
Sie ruft um Hilfe, aber keiner tritt zur Seite. Das ist nicht
Steamboat, denkt sie. Der Eisbär hält seine Pranke über sie
und sagt: Dumme Kerls, alle zusammen. Dann stoppt mit
einem Ruck der Zug und im Gang fallen alle übereinander. Die
Tür ist aufgesprungen, Rike kriecht auf allen Vieren
hinaus und sieht, wie der Eisbär ihre Stulle verzehrt und den
Kaffee austrinkt und zu sich selbst sagt: Mahlzeit, mein
Kleiner! Rike fährt schweissgebadet aus dem Traum auf. Es ist
mitten in der Nacht. Aber da ist noch etwas, denkt sie.
Wasserleiche geborgen. Hat sie das gelesen? Im selben Atemzug denkt sie: Er ist in Berlin. Ihr Ex. Er. Stephen, Stephen
Wagoner. Sie sieht, sie läuft Hand in Hand durch den Grunewald
mit ihm bis an die Havel. Die Wasserschutzpolizei hat
am Mittwoch eine tote Frau aus dem Grossen Wannsee in Höhe
der DLRG-Station Tiefe Horn geborgen. Die Frauenleiche
trieb 150 Meter vom Ufer entfernt, als sie gegen 10.55 Uhr entdeckt wurde. Zur Identität der Toten war gestern noch nichts bekannt.
Hat sie das gelesen? Hat sie das geträumt?