Rike Mohaupt   weiter   zurück



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               Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XIV


RIKE MOHAUPT MACHT IN DER KÜCHE GERADE KAFFEE,

das Telefon geht und Steamboat ist dran. „Ich muss dir”, sagt er,

„die Geschichte erzählen, die ich gestern erlebt hab. Ich sitze

im Wagen und warte darauf, dass das Parkhaus Mercer südlich 8th

Street um sechs aufmacht. Unmittelbar vor mir ist eine Gang

aus fünf kräftigen jungen Männern, auf dem Kofferraum

ihres Wagens haben sie zwei grosse Pizzaschachteln und fünf

Snapple Flaschen. Sie sind gut drauf, aber –” Er lacht.

Mann, oh Mann! denkt Rike. Kommt Steamboat gerade erst nach Hause, am Morgen früh? Er sagt: „– nach einer Weile

gerät alles ausser Kontrolle, die Pizzastücke verspritzen, die

Snapple Flaschen zerschlagen, es entsteht eine Sauerei.

Ich werde wütend, aber es sind fünf kräftige Männer, ich sage also

nichts. Und wie ich so dasitze und vor mich hin schmolle,

kommt über den Bürgersteig ein Clown gegangen. Er sieht aus,

als komme er direkt von Ringling Brothers, er muss zu

einem Kindergeburtstag unterwegs gewesen sein. Er hält an und

überblickt die Szene und geht dann, ohne ein Wort

zu sagen, zum Kofferraum, ergreift eine der Pizzaschachteln

und sammelt das zerbrochene Glas und die Pizzastücke

vom Boden auf. Als er fertig ist, geht er zur Ecke, wo

die Mülltonne steht, und deponiert alles. Die jungen Männer

sind sprachlos! Dann kommt der Clown zu ihnen und hält seinen

Hut hin. Sie kramen in ihren Taschen und rücken ihr

Wechselgeld heraus. Und er verneigt sich und zieht von dannen.”

And so finally, here we are at the beginning of a whole new

era. The start of a brand new world. And now what? How do we

start? How do we begin? Das ist Laurie Anderson, das ist

Homeland, Fabio Calvani hat das aufgelegt. Er sitzt auf dem Sofa,

barfuss, in Hemd und Hose, und blättert im Monopol, der Kunstzeitschrift. Sie hält das Telefon in der Hand, sie denkt, sie

hält NYC in der Hand, so früh am Morgen, es wird flirrend

heiss und feucht werden und bald  fällt auch der Strom da und dort

aus, Oh, man, this is torture. Sie sagt zu Steamboat: „Danke

für die Geschichte.” Es ist Juni geworden in Moabit, mal Sonne,

mal Wolken, mal richtig warm, mal windig kühl, aber seit

ein paar Tagen ist es sommerlich, richtig sommerlich, anhaltend,

ungebrochen heiss, es ist Mittwoch, 30. Juni 2010, es ist

später Vormittag. Sie legt auf. And now what? How do we start?

How do we begin? Sie geht zur Wohnungstür. Sie geht

nach unten. Die Post holen. Treppab denkt sie, er hat gar nicht

nach Fabio gefragt. Er scheint sie zu mögen. Sie selbst.

Irgendwie. Sie nimmt zwei Tritte auf einmal. Dem Briefkasten

entnimmt sie eine Abholungsaufforderung der Deutschen

Post AG. Sie geht in die Wohnung zurück. Sie ruft an. Es ist

ein Paket, aufgegeben in Ingoldstadt, Absender Künast

Versandhandel mbH. Sie sitzt am Wohnzimmertisch, die Tasse

Kaffee vor sich, den Pott. Sie sagt ins Telefon: „Kühn – was?”

Sie nimmt das Telefon vom Ohr. Dann, betont: „Egal.”

Pause. „Nein, ich will das nicht, was immer es ist.” Sie hat in

diesen Tagen nichts bestellt, weder bei Künast in Ingoldstadt noch sonstwo auf der Welt. Sie lässt das Paket zurückschicken.

Sie legt auf. Fabio blättert noch immer im Monopol, der

Kunstzeitschrift, erst als sie vom Tisch aufsteht, blickt er auf.

Künast? denkt sie. Nein. Das ist es nicht. Sie bekommt zu

spüren, dass Stephen Wagoner entlassen worden ist. Aus der Liebe.

Aus dem Spital. Aus dem Konkurs. Das ist es. Sie tritt näher

ans Sofa. Sie sagt zu Fabio: „Du weisst noch nicht alles von mir.”

Er schaut amüsiert. Er lässt das Monopol los. Er sagt: „Ich

weiss gar nix von dir.” Sie lachen beide. Sie tritt zu ihm hin, den

Kaffee in der Hand. Sie setzt sich neben ihn. Sie zögert. Sie

sagt: „Als ich mich von Stephen getrennt hab, hab ich was unter

meinem Toyota gefunden, ich hab die Polizei gerufen, sie

hat das für eine Bombe gehalten, sie hat eine gezielte Sprengung veranlasst, aber was übrig blieb, waren nicht Reste einer

Bombe, sondern Teile eines GPS-Peilsenders. Auf

dem Polizeiabschnitt haben sie gesagt –“ Sie beugt sich vor.

Sie starrt auf das Parkett zu ihren blossen Füssen.

Und seinen. Das Parkett. Ist nicht auch das eine Kunstzeitschrift?

Fabio legt seine Hand um ihren Rücken. Er sagt: „Und? was

haben sie auf dem Polizeiabschnitt gesagt?“ Sie atmet aus. Sie stellt

den Kaffee ab, auf das Parkett. Sie fährt mit der Hand durch

das Haar. Sie sagt: „Ich hab das noch nie jemandem erzählt, auch

meiner Mutter nicht. Die macht sich zu viele Sorgen.” Er nickt.

Er sagt: „Der Toyota. Und das Geheimnis darunter. Mal abgesehen

vom Gaspedal.” Er wirft den Kopf zurück. Das Monopol

rutscht. Die Kunstzeitschrift landet auf dem Parkett. Er sagt: „Ich

weiss, du bist entflammbar, wenn du im Benzinschlucker

unterwegs bist.” Sie lächelt. Wie meint er das? Sie blickt ihn von

der Seite an. Sie sagt: „Das Dumme ist, ich hab das vorher

schon getan.“ Er lacht kurz auf. Er beugt sich vor. Er ist geschmeidig.

Er sagt: „Was? was hast du vorher schon getan?“ Sie lächelt.

Sie greift nach seiner Hand. Sie sagt: „Auf dem Polizeiabschnitt

haben sie gesagt, es kann nicht schaden, wenn ich in

nächster Zeit unter den Wagen schaue, ehe ich losfahre. Aber

weisst du –” Sie sieht, er hat die Beine gestreckt. Sie sieht,

er hat sie halb geöffnet. Er lacht. Sie denkt, er macht die Beine breit.

Er? Er fragt: „Wann vorher? was?” Sie sagt: „– ja, ich hab das

schon getan, ehe das mit Stephen passiert ist. Ich hab das immer

schon getan. Ich hab immer unter den Wagen geschaut,

wenn ich eingestiegen bin. Ich weiss auch nicht warum.“ Sie neigt

sich Fabio zu. Dann fasst sie einen Entschluss. Sie setzt sich

auf seinen Schoss. Hat er das? Einen Schoss? Egal. Sie streift ihr

T-Shirt über den Kopf. Sie muss sich einfach wegwerfen.

Er denkt, es ist das lockige blonde Haar. Er denkt, es ist der sanft

geschwungene Rücken. Er küsst sie. Es ist der süsse,

frischfeuchte Mund. Er öffnet die Hose. Er dringt in sie ein.

Sie fährt hoch. Sie atmet schnell. Sie wippt über ihm

nach vorn. Sie wirft den Kopf zurück und mit ihm das lockige

blonde Haar. Er hält ihre linke Brust fest in der Hand.

Der Kaffee stürzt um. Er tränkt das Monopol. Und das Parkett.



                                   Berlin bleibt doch Berlin!

Montag, 22. November 1943, 19.41 Uhr. August Mohaupt

steht Nördlingerstrasse 3 im Parterre am Fenster.

Er kratzt sich. Er denkt, dicht bewölkter Nachthimmel sieht

anders aus. Er tritt vor das Haus. Der Nachthimmel

reisst auf. Mondlicht erhellt den Dachfirst gegenüber. Er geht

beunruhigt ins Haus zurück, in die Wohnung. Er blickt

auf die Strasse. Eine Horde Betrunkener wankt vorbei. Jemand

ruft: „Christbäume! Es regnet Christbäume!” Jemand

anderer: „Berlin bleibt doch Berlin!” Anzeigen, die Bande!

denkt Mohaupt. An die Wand stellen! aufhängen,

alle zusammen! Er zupft mit Daumen und Zeigefinger am

Schnurrbart. Die Sirene um die Ecke heult los.

Er macht das Fenster dicht. Er schliesst die Wohnung ab,

das Haus. Er tritt auf die Strasse. Bomber am Himmel. Sie sind

hinter ihm her. Er erreicht gerade noch den Luftschutzkeller.

Er findet Else mit Sack und Pack an ihrem Platz. Dann geht es los.

Er blickt auf die Uhr. Es ist 19.58 Uhr. Sowas hat er noch

nicht erlebt. Und sie auch nicht. Alles wackelt. Es ist die Hölle.

Er selber ist die Ratte. Lebendig begraben! Als die

Detonationen nach einer halben Stunde nachlassen, tritt er aus

dem Luftschutzkeller. Am Nachthimmel lassen Maschinen

der Royal Air Force – Typ Halifax, Typ Lancaster – in einiger

Entfernung fallen, was sie mit sich führen, in gerader Linie

von Messegelände zum Alex, aber einige Maschinen schon früher.

Rund um ihn herum ist die Hölle los. Wo ist er? Er kennt sich

nicht aus. Er steigt über Trümmer. Er tastet Richtung

Haberlandstrasse, Richtung Haus. Richtung Nördlingerstrasse 3.

So ein Scheiss. Es ist heiss. Es ist hell. Die Welt versinkt

im Feuer. Überall Glassplitter, Fenster, weggeputzte Türen,

Ziegelwände, atomisierte Häuserzeilen. Eine Fassade

stürzt auf die Strasse. Direkt vor seinen Augen. Alles kracht herab.

Es stinkt. Es stinkt gewaltig. Er weiss, was stinkt. Verbranntes

Fleisch. Es ist die Ratte. Es ist Bernhardchen. Ein komplettes

Schlafzimmer sackt auf die Strasse, das Ehebett ihm vor die Füsse,

Hundekadaver obenauf. Er kämpft sich durch. Hat hier das Haus gestanden? oder dort? dort drüben? Haberland–... so ein Scheiss – Nördlingerstrasse 3. Alles weg. Das Haus. Ein Schutthaufen.

Ein Mensch – was ist das? – knallt herab, eine Fackel, klatscht in der Strassenmitte in den Brunnen, gekocht wie ein Krebs. Er

schwankt, unter dem Schuh liegt ein anderer, gegrillt. Ein dritter

segelt durch die Luft, eine Motte, ein Nachtfalter, in den

Feuersog gerissen. Zisch! War das nicht Hirsch gewesen? Hirsch, der Hauswart! installiert Haberlandstrasse 5! ihm vorgezogen,

nachdem das Genie in Amerika zu bleiben beschlossen hatte!

in Amerika, wo die Bomberpiloten herkamen, die ihre Dinge

über seinem Kopf abluden! Es ist 20.47 Uhr. Das zeigt die Uhr an.

Aber die Uhr steht. Er blickt hinüber. Haberlandstrasse 5. Das

Haus steht. Das Haus brennt. Einstein! Alles Einstein! Die Adresse

des Genies. Verkauft. Neuer Eigentümer Eidgenössische Bank.

Das Schnäppchen. Eine Ruine. Er steigt über den Schutt. Er klopft

an die Tür. Nichts. Er ruft: „Hirsch!” Er stemmt gegen die Tür.

„Hirsch? Sind Sie da?” Er lacht das kurze, schrille Mohaupt-Lachen.

„Ich hab Lebensmittelkarten für Sie.” Die Tür gibt nach. Hirsch,

der Hauswart! die Mischeheratte! Er liegt im Dunkel am Boden. Er

bäumt sich auf. Mohaupt schlägt sofort zu.



                                   Es ist der Leuchtturm, denkt Rike

Mohaupt. Sie hätte das Bild Stephen Wagoner nicht verkaufen

sollen. Er belästigt sie offen. Anderntags hat sie die zweite

Abholungsaufforderung der Deutschen Post AG am Hals, tags

darauf die dritte. Sie ruft nicht mehr an, das tut Fabio

Calvani, in Ingoldstadt, bei Künast Versandhandel mbH. Nach

mehrfachem Beharren wird ihm der Besteller der

Versandaufträge genannt, ein gewisser Lutz Opfergelt,

wohnhaft in Ismaning. Am Telefon gibt er vor von

nichts zu wissen. Es ist Freitag, 2. Juli 2010. Sie denkt, zuerst

hat Stephen sie in der Galerie belästigt. Am Telefon.

Er weiss, in der Galerie nimmt sie ab. Er hört sie. Das hat zur Folge, dass er weiss, wo sie ist. So einfach ist das. Sie hat Angst.

Sie geht nicht mehr in die Galerie. Dann erst beginnt er die täglichen Versandpakete loszulassen, die ja nur die eine Front sind,

an der ihr Ex sie belagert. Er schreibt E-Mails. Er schreibt I can’t

live without you. In vierundzwanzig Stunden hat sie drei

Dutzend E-Mails bekommen. Die kann sie nicht mal löschen. Sie

soll alles speichern, haben sie ihr auf dem Polizeiabschnitt

gesagt. Sie ändert die E-Mail-Adresse. Es ist mühsam. Es ist anstrengend. Es nervt. Sie hat den Eindruck, er verlegt

sich auf die Wohnung an der Quitzowstrasse. Ist er in Germany?

Ist er in Berlin? Sie denkt, sie ist gewarnt. Eine verdächtige

Ruhe ist eingekehrt an der Quitzowstrasse, es ist wie Nationalfeiertag,

es ist geflaggt, kein Mensch ist auf der Strasse, es ist

Weltmeisterschaft, eine verdächtige Leere ist eingekehrt an der Quitzowstrasse, es ist das Fernsehbild aus Südafrika, auf

das sie alle schauen, Schland, oh Schland, kein Deut von german

Angst, a young team, very aggressive, sie sind überzeugt

Weltmeister zu werden, das kann sie mit dem Wörterbuch nicht übersetzen, das ist nicht Soccer, das ist Fussball. Sie läuft

jeden Tag, sie ist in der Kälte gelaufen, jetzt läuft sie in der Hitze,

sie denkt, sie übt, sie denkt, sie übt für den Ernstfall. Es ist,

wenn die Sonne auf Moabit herunterbrennt, eigentlich zu heiss

zum Laufen, aber sie hält daran fest. Sie läuft jeden Tag, sie

läuft jeden Tag um den Westhafen herum. Es ist eine Lebensnotwendigkeit geworden, diese tägliche Übung, diese

Fitness, dieser Kick, unverzichtbar, dieses Beta-Endorphin,

es ist ihr persönlicher Sieg gegen BP, in die ihr Ex sich verwandelt

hat, verklumpt, schlierig, klebrig. Ja, so ist es. Sie versucht an

den Alltagsgewohnheiten festzuhalten. Als sie vom Laufen zurückkommt, findet sie rötlich-öligen Schaum im Briefkasten.

Stephen, denkt sie. Stephen Wagoner. Weinmarketing?

Sie lacht. Er hätte ins Ölgeschäft gehen sollen, zu BP. Alles ölig

verklumpt, man wird es nicht los, das Meer erstickt in

Ölschlieren, die sich ans Festland verteilen, in Louisiana,

Mississippi, Alabama, aber es sprudelt, das Leck, es

sprudelt weiter, und dann, am 17. Mai – das war der Tag, an dem

der Chief Executive Officer von BP vorausgesagt hatte,

dass „der Umweltschaden dieses Desasters sehr, sehr gering

zu sein scheint” – war es offenkundig, dass es die grösste Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA war, und dann, am Dienstag, 15. Juni, als Präsident Obama den Medientross

für seine erste Rede an die Nation aus dem Oval Office bestellte,

war der geschätzte Ölausfluss hochgeschnellt auf 60 000

Barrrels, auf 1000 Barrrels jeden Tag, erst hatte es geheissen,

es sind 800 000 Liter Öl, die im Golf von Mexiko jeden Tag

ausfliessen, dann hatte es geheissen, es sind 2,2 Millionen Liter Öl,

die im Golf von Mexiko jeden Tag ausfliessen, dann hatte es

geheissen, es sind 6,5 Millionen Liter Öl, die im Golf von Mexiko

jeden Tag ausfliessen, dann hatte es geheissen, es sind 15,9

Millionen Liter Öl, die im Golf von Mexiko jeden Tag ausfliessen. Deepwater Horizon, denkt sie. Was für ein Wort für eine

Bohrinsel! Was für ein Wort für ein Desaster! Sie geht auf den Polizeiabschnitt. Sie meldet den Vorfall. Rötlich-öliger

Schaum im Briefkasten? Die Polizeibeamtin, grüne Augen, blondes Haar, lächelt milde. Nein, denkt Rike. Er ist nicht in Berlin.

Dann hört sie, er ist gesehen worden – in Anzug, mit Krawatte,

inmittten der Passanten am Broadway, er ist im Internet

gesehen worden, vor der Webcam am Times Square, mit

hochgehaltener Pappe, da stand drauf: Fix it, Baby! Ireen Mohaupt

hat angerufen, die besorgte Mutter, die Photographin mit der Dunkelkammer, die Familienchronistin der Hooper Street, Brooklyn.

Sie hat es von Annie Wanamaker, die im Beth Israel Medical

Center arbeitet und an der Hooper Street wieder mal ihre Mutter im Haus schräg gegenüber besucht, als Ireen Mohaupt gerade

ins Auto einsteigt. Sie hat es von Annie Wanamaker gehört, der sauberen, aufgeblondeten, in zweiter Ehe verheirateten,

rothaarigen Schulfreundin, die mit ihrer Tochter die High School gemacht hat. Eine Arbeitskollegin im Beth Israel Medical

Center hat ihn erkannt, Stephen Wagoner. Ist er nicht

der Suizidpatient gewesen? Sie hat es Annie Wanamaker in der Mittagpause gesagt. Oh nein, denkt Rike, sie ist aufgewühlt,

sie ist beschämt, sie ist erschrocken, sie stellt sich vor, wie er winkt

und lächelt und bettelt, ihr Ex in Anzug, mit Krawatte

am Times Square, er ist out, denkt sie, und dann, sie atmet

tief ein, denkt sie, er ist wie das Öl, er ist out of control,

der Leuchtturm im Strom der Passanten vor der Webcam, er ist

das Leck, er ist die sprudelnde Quelle im Golf von Mexiko,

der Letzte mit einer Botschaft, der Stehaufmann mit dem Charme

des Weinverkäufers, die Pappe zur Webcam: Fix it, Baby!

Sie denkt, er ist durchgeknallt. Hat sie Konkurs gemacht? Es gibt

nichts zu reparieren. Sie hat den Hörer in der Hand, sie zittert,

ihr ist schwindlig, sie würgt und räuspert sich und schluckt, sie fährt

mit dem Rücken der freien Hand über die nasse Stirn.

Immerhin, das ist nun sicher. Er ist in NYC. Er ist nicht in Berlin.

Aber das ist vor drei Tagen. Dann passiert es. Beim

Laufen. Am Westhafen. Am Uferweg, der einsam ist. Und voller Verkehrslärm. Im Westen lärmen, im Osten angreifen.

Es ist Samstag, 3. Juli 2010. Sie hat das Nordufer fast hinter sich

und mit ihm die Umrandungsmauer des Virchow Klinikums

der Charité, wo auf der Kanalseite der Strasse Autos geparkt sind,

wo die Böschung steil abfällt zum Pfad, der direkt dem Wasser entlangführt, Eigentum der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des

Bundes. Benutzen und Betreten verboten, schmal, erdig,

struppig, mit Wasser, Licht und Schatten im Blattgrün der Bäume

und Sträucher, dem Gehweg entlang, den oben Elektromaste

markieren, die sich im Abstand einiger Meter folgen, Hochspannung, Lebensgefahr, sie hört, wie am Ende der Strasse an einem der

geparkten Autos eine Tür zufällt, sie quert die Lichtung der Kanaluferwaldung, er kommt über den pflastersteingesicherten

Hang herabgesprungen. Er hat sie ausspioniert. Er

stürzt sich auf sie. Er schlägt mit einem Baseballschläger

nach ihr. Sie entkommt.


Deutschland ist im Halbfinale. Es ist zwei Uhr früh. Sie steht

in diesem Klub, dem Dice. Das bringt dich auf andere Gedanken,

hat Fabio gesagt, Schwarzrotgold bemalte Gesichter.

Mädchen in Röhrenjeans. Jungs mit Ponyfrisuren. Minimal Techno

and House. Eine freistehende, rechteckige Bar. Zwei

Tanzflächen, beide voll. Neonröhren, die im Rhythmus blinken. Perfekter Sound. Kein Zischeln. Kein Grummeln. Nur im

Kopf die Endlosschlaufe, die kratzt. Er hat sie angegriffen. Ihr Ex.

Er hat sie überfallen. Im Golden Gate, im WMF und im

Weekend hat Fabio es mit ihr zuvor schon versucht. Jetzt sind

sie im Dice gelandet, dem Club im Umspannwerk, dem

ehemaligen. Hochspannung, Lebensgefahr. Der Angriff. Der Überfall. Er ist hart genug. Was aber schlimmer ist, denkt sie, ist die

Reaktion von Fabio. Lass dich nicht isolieren, hat er gesagt. Wir

gehen aus. Ja, wir gehen aus. Es wird gefeiert in der Stadt.

Jetzt steht sie hier, in diesem Klub, zwei Uhr früh, im Dice, und

weiss nicht wozu. Oder doch? Hier muss Fabio nicht reden.

Es ist zu laut. Er hält sich am Drink fest. Sie hat den Eindruck,

er glaubt ihr nicht. Der Bauch sagt ihr, er will nicht hören,

was sie sagt. Sie hat das Gefühl. sie wird abgemurckst. Als sie es ihm erzählt hat, im Taxi durch Mitte, durch Kreuzberg, begleitet von trötenden, hupenden, feiernden Fans, grinst er, kratzt sich im Haar

und fragt: „Was für eine Jogginghose hast du angehabt? die

graue? oder die schwarze?“ Sie denkt, das gibt es nicht. Sie denkt,

ist das smart? ist das sado? Sie denkt, es ist zwei für eins.

Er berührt sie an der Schulter. Er sagt: „Nun entspann dich mal

ein bisschen.“ Sie fragt: „Im Darkroom?“


Kein Picknick an der Havel. Sie hat das Haus am

Independence Day nicht verlassen. That all men are created

equal, that they are endowed by their Creator with certain

unalienable Rights, that among these are Liberty and the pursuit

of Happiness. Anderntags, es ist Montag, 5. Juli 2010,

es ist Mittag, läutet der Postbote. Er läutet viertes OG, Vorderhaus, Quitzowstrasse 104. Der Stehaufmann schickt ein Versandpaket,

das an der Tür abgegeben werden muss, denkt sie. Wenigstens keine Abholungsaufforderung. Sie öffnet. Er steht vor der Tür. Ihr Ex.

Stephen Wagoner. Anzug, Krawatte. Der Mann mit dem

Durchsetzungsvermögen. Er strahlt. Er grinst. Der Mann, für den

es kein Nein gibt. Sie denkt, es eskaliert alles. Er sagt:

„Herr Zühlke hat mir aufgemacht.” Er drängt sie hinein. Sie flieht.

Er stösst sie von hinten. Sie stolpert. Die Wohnungstür fällt zu.

Sie erreicht das Wohnzimmer. Sie fällt hin. Er lacht. Er packt sie.

Sie befreit sich. Das Teppichmesser, denkt sie. Sie sagt:

„Nun warte mal.” Er dreht sich um. Sie erreicht die Küche. Er folgt.

Sie reisst die rechte Schublade auf, aber da ist kein

Teppichmesser. Er fragt: „Was suchst du, Liebes?” Sie dreht

sich nach ihm um. Er schlägt zu. Ihr linkes Auge explodiert.

Sie geht zu Boden. Er tritt nach ihr. Sie windet sich. Dann, wie aus

der Ferne, hört sie, wie Fabio durch die Wohnungstür tritt.

Sie denkt, er hat das Teppichmesser. Sie dreht den Kopf. Sie öffnet

das Auge, mit dem sie noch sieht. Er hat das Teppichmesser in

der Hand. Er tritt auf Stephen Wagoner zu. Leise sagt er: „Hau ab.” Fabio war gerade erst aufgebrochen, er hatte etwas vergessen,

etwas für die Galerie.


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