Rike Mohaupt   weiter   zurück



NICHT AUSGEHALTEN



               Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XII


ES HEISST, IN MANCHEN FÄLLEN ENTZWEIT EIN PAAR SICH,

wenn Perspektiven auseinander brechen. Es heisst, in manchen

Fällen entzweit ein Paar sich, wenn Besitzvorstellungen voneinander abweichen. Rike Mohaupt hat es nicht ausgehalten mit Stephen Wagoner. Sie hat sich getrennt. Stephen Wagoner hat es

nicht ausgehalten ohne Rike Mohaupt. Er hat ein Zeichen gesetzt.

Aber das zur Kenntnis zu nehmen weigert sich Rike. Sie sieht

den Grund für den Suizidversuch ihres Ex im geschäftlichen

Misserfolg. „Hast du gehört?” fragt sie Fabio Calvani, als er nach

Hause kommt. Es ist spät geworden. Sie sitzt noch im

Wohnzimmer. Er nickt. Er hat ein Bild dabei. Er legt es auf den

Tisch. Er sagt: „Das mit Wagoner?” Er schüttelt den Kopf.

Er fährt mit der Hand durch das Haar. Er seufzt. „Ja. Hab ich

gehört.” Sie schlägt die Beine übereinander.

Sie schaut Fabio an. Sie sagt: „Er liegt im Beth Israel Medical Center. Der Leuchtturm hat ihm kein Glück gebracht.” Fabio fährt auf.

Er räuspert sich. Er sagt: „Er hat sich zu erhängen versucht. Steamboat hat ihn abgehängt.” „Steamboat?” sagt Rike. Warum bringt er sie

immer mit ihrem Ex zusammen? Sie lacht. Sie denkt, sie hört

das kurze, schrille Mohaupt-Lachen. Das soll das genetische Paket sein, das der Urgrossvater ihr auf den Lebensweg mitgegeben

hat? das kurze, schrille Mohaupt-Lachen? der Tunnelblick? die Bockigkeit? Sie findet den Gedanken abstrus. Und doch beunruhigt er sie irgendwie. Ein Selbstmörder, ihr Ex? Eine dunkle Note, denkt

sie. Wie passt das mit dem Wein zusammen? Sie hat ihn verlassen.

Sie hat ihn nicht in den Selbstmord getrieben. Kein Anschluss

unter dieser Nummer. Sie denkt, es ist wie mit der Schweinegrippe.

Die WHO ruft eine globale Pandemie aus, und an der

Brunnenstrasse in Berlin-Mitte wäscht sie in der Galerie zuletzt

die Hände. Ist das nicht, was sie jetzt empfehlen, die Hände

waschen? Aber, denkt sie, die Masse stirbt nicht an der Schweinegrippe, die Masse hat andere Sorgen. Es ist nichts

gewesen, denkt sie. Falscher Alarm. Nichts weiter.

Nein, sie ist nicht betroffen. Sie kann nichts dafür. Es ist nichts

gewesen mit Stephen. Er hat sich umzubringen versucht.

Er hat keinen Ausgang gesehen aus der Krise. Er hat Schluss

machen wollen. Er hat es nicht geschafft. Na und?

Was kann sie dafür? Es ist nichts gewesen, nichts Zwingendes.

Sie ist nicht beteiligt. Sie besucht Stephen nicht,

sicher nicht. Sie lässt sich nicht erpressen. Sie hat sich

getrennt. Es gibt keinen Fluch der Vergangenheit. Sie hat das

Mohaupt-Gen. Sie hat das geerbt. Aber es hat nichts zu

bedeuten. Das kurze, schrille Mohaupt-Lachen. Der Tunnelblick.

Die Bockigkeit. Es geht sie nichts an. Ihr Urgrossvater.

Die Haberlandstrasse. August Mohaupt, der Hauswart. So gruftig,

so vor 911 ist das. Sie ist mit der Delete-Taste aufgewachsen.

Es ist nichts gewesen mit August Mohaupt. Ihr Urgrossvater hat

Willy Collin nicht erschlagen. Er ist der Hauswart, er ist der

Portier gewesen, der Nazi, der Mitläufer im Bayerischen Viertel,

er ist übergeschnappt in Zeiten deutscher U-Boote vor NYC,

aber Totschlag? Mord? Nein, denkt sie. Undenkbar.

Sie liegt schlaflos im Bett, sie zieht die Decke

hoch, es ist Nacht in Berlin-Moabit, wo es sie hinverschlagen

hat, drei Generationen danach, Quitzowstrasse 107, Vorderhaus,

viertes OG, mit Blick auf den Westhafen, mit Nachbar

Marcel Zühlke, bei dem sie sich fragt, ob er ein Nachkomme

von Kriminaloberassistent Ernst Zühlke ist. Nein, denkt

sie. Mord ist nicht enthalten im Mohaupt-Gen, das sie geerbt hat.

Ein Mörder ist er nicht, ihr Urgrossvater August Mohaupt,

der Hauswart. Er hat Willy Collin nicht erschlagen. Und wie das?

Ganz einfach. Der Kapellmeister hat überlebt.



                                   Als der Krieg vorbei ist. Freitag, 27. Juli 1945. Willy Collin lebt Forststrasse 30, Berlin-Steglitz,

er sitzt mit Füllfeder am aufgeräumten Tisch. Die Mittagssonne

scheint durch das offene Fenster ins Wohnzimmer. Vor ihm

liegt der Fragebogen der Jüdischen Gemeinde, Oranienburger

Strasse 28-31. Name? Cohn, genannt Collin. Vorname?

Er Wilhelm Samuel, genannt Willy, sie Hedwig. Wohnung?

Berlin-Steglitz, Forststrasse 30, Parterre. Geboren? Er 23. Juni 1876, sie 17. Dezember 1882. Geburtsort? Er Neuenahr, Kreis Ahrweiler,

Deutschland, sie Berlin. Verheiratet? Seit 1905. Sternträger? Er ja,

sie nein. Religion? Er mosaisch, sie evangelisch. Mischehe?

Ja. Beruf vor 1933? Kapellmeister, Musikpädagoge, Konzertbegleiter.

Beruf jetzt? Zur Zeit Sachbearbeiter der Fachabteilung Musik

im Verwaltungsbezirk Wilmersdorf. Staatsangehörigkeit? Deutsches Reich. Aufenthaltsort seit 1. Januar 1933? Berlin W 30, Habsburgerstrasse 11, Parterre bis 1. Februar 1944. Nach Verlust

der Wohnung Behelfsheim Heilbronnerstrasse 13, dritter Stock,

bei Rose. Ab 1. August 1945 nebenstehende Wohnung.

Welche Angehörige wurden evakuiert (nur Eltern,

Kinder, Geschwister)? Keine. Welche Existenzeinbusse haben

Sie erlitten? 1934 wurde mir die Unterrichtserlaubnis für

Arier entzogen, unterrichtete von da ab Juden, leitete Kurse der Jüdischen Gemeinde und Chöre. 1941 wurde mir auch diese

Tätigkeit verboten, musste Heimarbeit gegen geringe Bezahlung leisten! Wann aus dem Lager entlassen? Durchgestrichen.

Seit wann wieder legal in Berlin? Durchgestrichen. Waren Sie Mitglied

der Jüdischen Gemeinde? Ja. Wann erfolgte Eintritt? 1914.

Austritt? Durchgestrichen. Waren Sie Hausbesitzer? Nein. Hatten

Sie ein Konto bei der Paltreu/Palamt oder sonstiges Auswanderungskonto? Nein. Welche Summe? Durchgestrichen.

Hier fügt er hinzu: Hatte Affidavit nach USA von Mr. George

Perkins Raymondy, 435 East 52nd Street, New York.

Registernummer war zu hoch, um rechtzeitig auswandern

zu können. Zuletzt trägt er das Datum ein. Berlin, den

ist auf dem Fragebogen vorgedruckt, ebenso das Jahr 1945.

Er fügt ein: 27. Juli. Er unterzeichnet: Wilhelm Cohn,

genannt Willy Collin.



                                   Rike Mohaupt sitzt am Küchentisch,

über eben dieses Dokument gebeugt, sie fährt mit der Rechten durch

die Haare, sie denkt, die Haare sind vom Schlaf noch ganz

wild, sie denkt, es ist am Ende verblüffend einfach alles, das mit dem Leben, das mit dem Paar in diesem Fall. Im ersten Augenblick

hat sie gedacht, hier steht es, das Geheimnis des Lebens, es hat alles auf einem Blatt A3-Papier Platz, aber den Gedanken verwirft

sie sogleich wieder. Sie denkt, hier steht doch etwas anderes, hier

steht Hedwig Collin, die Ehefrau, ist evangelisch, hier steht,

sie hat Willy Collin das Leben gerettet, sie hat es ausgehalten, Sie

hat sich nicht getrennt. Rike denkt, das Geheimnis ist banal,

das ist es, was sie verblüfft, die Banalität, die Intaktheit inmitten

aller Grausamkeit. Sie hat das Dokument gestern Mittag

im Briefkasten gefunden, sie hat es gelesen, sie hat eine unruhige Nacht verbracht, sie hat schlaflos im Bett gelegen, sie hat

allein im Bett gelegen, ohne Fabio Calvani, und sie hat im Bett

gelacht, sie hat im Bett stumm vor sich hin gelacht, sie hat

gedacht, es gibt ein Paarleben ohne tödlichen Ausgang, das ist das Überleben in der Mischehe, das ist die Unbedingtheit

in der Mesalliance. Nur ist sie, denkt sie, am Küchentisch sitzend,

bei sich selbst und Fabio nicht so sicher. Sie faltet sorgfältig

das Dokument, steckt es in den Umschlag zurück. Ist es nicht ein Wertpapier? Dann nimmt sie den Umschlag, steckt ihn in die Notebooktasche, steht vom Küchentisch auf, holt das Telefon und

geht ins Wohnzimmer hinüber. Jetzt steht sie am Fenster,

das sie für seine Aussicht liebt. Sie ruft bei Vattenfall an. Sie hat

von der Stelle, um die sie sich beworben hat, nichts mehr

gehört. Sie hat schon einige Male angerufen, aber jedes Mal wird

ihr mitgeteilt, Herr Brauns „is not yet in” oder „he just went

out”, jetzt wieder. Dann, Berlin hat ein paar herrliche Frühlingstage

hinter sich, trifft sie ihn zu ihrer Verblüffung zufällig, es ist

ein letzter, eher kalter Sonntagvormittag im März, sie steht bei der Schlossbrücke und versucht sich warm zu machen zum

Start am Vattenfall Berliner Halbmarathon, da steht unter den Zuschauern auf einer Treppe am Berliner Dom, es hat

leicht zu regnen begonnen, Herr Brauns mit Ehefrau und Sohn.

Er untersteht. Sie spricht ihn an. Er entschuldigt sich.

„Tut mir leid, aber – sie ist wieder da.” „Die Kollegin mit der

Babypause?” Er verzieht den Mund. „Sie hat es nicht ausgehalten.”

„Und was ist mit dem Baby?” „Dem schaut jetzt der Papa.”

„Also die interne Lösung?” Nicken. Verlegenes Lächeln.

„Genau. Es bleibt in der Familie.” Rike hat den Eindruck, sie ist

benutzt worden. Sie hat den Eindruck, Herr Brauns wäre

die Kollegin mit der Babypause gerne losgeworden. Und das hat

sie rechtzeitig noch gemerkt.


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