Passagiere des Glücks   weiter   zurück



WORAUF ES ANKOMMT


Das Bewerbungsgespräch ist eine heikle und ungleiche Angelegenheit mit einer versteckten Agenda. Die

besteht darin, dass die Absicht hinter vielen Fragen

der Interviewer kaum rekonstruierbar ist.



               Fritz Hirzel, Passagiere des Glücks. Wem Lachen auf

               die Sprünge hilft. Essay. 140 Seiten. Berlin 2004

 

„Sagen Sie mir, Doktor: Wer bin ich?“, fragt der Patient

auf der Couch, an deren Kopfende der Psychiater sitzt. Der

Patient hat einen Eselskopf! Ein Cartoon von Oliphant

aus dem Magazin Time von Mitte Juli 1984.

      Der Witz der Selbstverwirklichung: Ist das der Mann,

der im Geschäft Karriere gemacht hat? Ist er ein Opportunist

im Beruf?

      Das sagt ihm der Analytiker nicht. Der gehört zur Sorte Mensch,

von der Elias Canetti in Party im Blitz sagt, er verachte sie

am tiefsten. „Denn während Analytiker es verstehen, wissbegierig

zu erscheinen, leisten sie gewöhnlich nicht viel mehr als

Geduld”, ist in dem 2003 aus dem Nachlass herausgegebenen

Buch zu lesen.

      „Sie geben sich den Anschein zuzuhören. Diese Rolle

spielen sie gut, denn wenn man bedenkt, was sie gewöhnlich

darauf zu sagen haben, wirkt es so, als hätten sie, noch

bevor sie ein Wort zu hören bekamen, genau vorhergewusst, was

sie sagen würden. Ihre Geduld besteht in Wirklichkeit darin,

dass sie die Worte, die sie hören, schlucken, ohne sie zu verdauen.”

      Der Esel in der Analyse lacht nicht. Er leidet. Er weiss

nicht, wer er ist. Hat er sich im Unternehmen zusehr angepasst?

Alex Gregorys Cartoon im New Yorker Mitte Juni 2003

zeigt das Dilemma: Der Chef hat gerufen. Der adrette Untergebene steht vor ihm. Flott gekämmt, mit Anzug und Krawatte.

Die Hände hält er auf dem Rücken verschränkt.


Ehrlich. Vorurteilsfrei. Karrierebeendend. 

Der Chef ist ein Glatzkopf mit Brille. Er sitzt hinter seinem

langen, grossen Schreibtisch, der nur mit einem

Telefon bestückt ist. Die Ellbogen hat er aufgestützt, die Hände

fast gefaltet. Er sagt: „Ich hätte gerne Ihre ehrliche,

vorurteilsfreie und möglicherweise karrierebeendende

Meinung über etwas.”

      Krokodilschluss heisst das. Ein antikes Dilemma. So steht’s

im Philosophischen Wörterbuch: Ein Krokodil ergreift ein Kind, das einer Frau entfallen ist. Der um Rückgabe flehenden Mutter

sagt das Krokodil: „Ich werde dir dein Kind zurückgeben, wenn

du mir die Wahrheit darüber sagst, was ich tun werde.”

      Die Mutter antwortet: „Du wirst mir das Kind nicht zurückgeben.”

Hat die Frau richtig geraten, muss das Krokodil das Kind

zurückgeben. Tut das Krokodil das, hat die Frau nicht die Wahrheit gesagt. Das Kind wird also nicht zurückgegeben.

      Das Erraten einer zukünftigen Handlung ist „an sich

unsinnig”, wenn die zukünftige Handlung selbst von dem

Erratenden abhängig sein soll.


Oft genug Situationsgrotesken

„Wie erkennt man den Wahrheitsgehalt einer Aussage?”

Das ist einer der Punkte, um die es bei dem Seminar mit dem Titel Einstellungsgespräche systematisch führen geht.

Die zweitägige Veranstaltung richtet sich 2004 in Münster an Führungskräfte und Nachwuchsführungskräfte.

      Uns interessiert: Hat solch ein „Wahrheitsgehalt” auch zu tun

mit den Fragen, die gestellt werden? Eine der zehn

„Fragen für Einstellungsgespräche”, die ein Insights Discovery

Report auflistet, lautet: „Mit welchem Aspekt hätten Sie

am meisten Mühe, wenn Sie hier arbeiten würden?”

      Einstellungsgespräche sind oft genug „Situationsgrotesken”.

Das Stichwort fällt beiläufig in der Zeitschrift für Arbeits-

und Organisationspsychologie, als die 2003 in ihrer zweiten Ausgabe ein Buch bespricht. Das hat Heinz Schuler veröffentlicht,

im Vorjahr in Göttingen. Das Buch heisst Das Einstellungsgespräch.

      In der Besprechung, die Martin Kleinmann verfasst hat,

findet sich die Bemerkung: „Und es ist ein besonderes Buch, zeigt

es nicht nur den klaren Sachverstand und die unendliche

Leseleidenschaft des Autors, nein, es ist ein wissenschaftliches Oeuvre, bei dessen Lektüre ich des öfteren herzhaft lachen

musste.”

      Dies weil der Autor neben „seinem wissenschaftlichen

Sachverstand auch Selbstironie und Situationsgrotesken gekonnt miteinander kombiniert”. Kleinmann schliesst: „Insofern

kann man Herrn Schuler nur gratulieren und ihm wünschen,

dass es ihm zukünftig anders ergeht als er dies vor

Jahren in der Metallindustrie erlebte.”


Die Fangfrage  

Aber „Situationsgrotesken” bei Einstellungsgesprächen

gibt es in der Metallindustrie offenbar noch immer.

So unterscheidet die IG Metall Bremerhaven zwischen

„Psychofragen” und „Fangfragen”, als sie 2003

ein Papier zu Tricks in Einstellungsgesprächen ins

Internet stellt.

      Es nennt drei Beispiele von „Psychofragen”, für die

Personalchefs „eine Vorliebe” hätten, darunter die Frage: „Wie

würde Ihr bisheriger Vorgesetzter Sie charakterisieren?”

Anders die „Fangfrage”, die den Bewerber „mit zunächst völlig

überraschenden Ansichten und Fragen konfrontiert”.

      Als Beispiel, bei dem „es sich um eine Fangfrage

handeln könnte”, nennt das Papier die Frage: „Wie verhalten Sie

sich, wenn ihr Vorgesetzter eine völlig falsche Entscheidung

bezüglich ihrer Arbeit trifft? Das können Sie doch nicht einfach so hinnehmen, oder?”

      Das Papier vermerkt, „sicherlich” werde „der jetzt noch

insistierende Personalchef später niemanden einstellen”, der nun

zum Besten gebe, dass er im Zweifelsfall bereit sei, seinen

„depperten Chef” zu hintergehen.


Der Eichhörnchenwitz

Solche „Situationsgrotesken” steigern sich möglicherweise

noch, wenn’s um die Auswahl der Führungskräfte geht. Als 1999

für das Auslandradio in Bern ein Direktor gesucht wird,

soll der Favorit sich geweigert haben an einem Assessment

Center teilzunehmen.

      In der Belegschaft macht ein Witz die Runde. Den lanciert

ein vor der Rente stehender Techniker, der den Radiosender und

seine Führung in Jahrzehnten erlebt hat. Assessment Center

ist das Reizwort für seinen Witz.

      „Weisst du, wie das geht?”, fragt er. „Drei Kandidaten sind

übrig geblieben. Man schickt sie in den Wald. Jeder soll

ein Eichhörnchen fangen.” Zwei Kandidaten kommen mit leeren Händen zurück. Der dritte bringt tatsächlich ein Eichhörnchen

mit. „Wie hast du das gemacht?” wollen die beiden Verlierer wissen. Sagt der Sieger, er hätte sich unter einen Baum gestellt

und, bis das Eichhörnchen heruntergesprungen sei, gerufen:

„Ich bin eine Nuss! Ich bin eine Nuss!”


Ein unschönes Bild  

Kommt ein offenes Lachen im Gespräch gut an?

„Natürlich, eindeutig!”, antwortet Michael Lorenz, der zwölf Jahre Geschäftsführer und Partner bei der Unternehmensberatung

Kienbaum Management Consultants gewesen ist.

      „Lachen ist ein wesentlicher Bestandteil der Entspannung

und der Kommunikation. Die Geste kommt ja aus dem

Tierreich und zeigt: ich habe keine feindlichen Absichten.”

      Befragt wird er 2003, als die Initiative proDente in Köln

auf ihrer Website zum Vorstellungsgespräch formuliert, „worauf es ankommt und welche Rolle gepflegte Zähne spielen”.

      Eingeleitet wird das Interview in einem Vorspann mit den

zwei Sätzen: „Es herrschen schwierige Zeiten auf dem Arbeitsmarkt. Da gilt es sich gezielt vorzubereiten.”

      Welche Rolle spielen Zähne bei der Wirkung auf andere?

„Wenn ein Mensch lächelt”, antwortet Michael Lorenz, „dann

entblösst er seine Zähne. Begegnet einem dann ein

unschönes Bild, leidet natürlich der ursprünglich sympathische Eindruck.”

      Und dann sagt Lorenz: „Ich habe auch oft schon

beobachtet, dass Leute, die schlechte Zähne haben, sich sehr

zurückhaltend verhalten. Sie lächeln weniger und nehmen

sich in Gesprächssituationen gern zurück oder halten die Hand

vor den Mund.”


Intention kaum rekonstruierbar

Wie erkennt man den Wahrheitsgehalt einer Aussage? An

den gepflegten Zähnen, die das Lachen des Bewerbers

offenbart? Wie erkennt man den richtigen Kandidaten für eine

Position? An der Überzeugungskraft seiner Einschätzung,

eine Nuss zu sein? An seinem Eselskopf?

      „Gerade Bewerbungsgespräche”, warnt die Linguistin Helga

Kotthoff im Vorwort zum Buch Kultur(en) im Gespräch,

„sind eine heikle und asymmetrische Angelegenheit mit einer

versteckten Agenda, die darin besteht, dass die Intention

hinter vielen Fragen der Interviewer kaum rekonstruierbar ist.”

      Nicht von ungefähr ranken sich zahllose Witze um das

Bewerbungs-, Einstellungs- oder Vorstellungsgespräch – sei’s am Stammtisch, bei Zoten, bei Blondinenwitzen, sei’s im Internet,

kaum dass wir das Stichwort bei einer Suchmaschine eingeben.


Muss ich die Haare umfärben?  

„Ich habe rosa gefärbte Haare und mag das gerne.

Demnächst habe ich aber ein Vorstellungsgespräch bei einer

PR-Agentur. Muss ich mir die Haare umfärben?”, fragt

2003 in einem Chat Ina.

      Die Antwort der Expertin: „Für ein Vorstellungsgespräch

bei einer PR-Agentur nicht optimal. Bei einer flippigen Branche

wäre das etwas anderes, aber eine PR-Agentur ist doch

etwas ‚Seriöses’. Ich rate zum Umfärben.”

      Ina insistiert: „Für mich ist die PR-Branche aber ein Grenzfall.”

Die Expertin repliziert: „Die PR-Branche steht zwar für

Kreativität, aber mit rosa Haaren riskiert man doch einiges.”

Derweil sieht Ina schon die nächste Hürde: „Aber ich

muss nicht unbedingt im Kostüm kommen, oder? Das besitze

ich nämlich nicht.”

      Drauf die Expertin: „Natürlich nicht unbedingt im

klassischen Kostüm, aber ein seriöses Outfit beim ‚ersten Mal’ ist unbedingt zu empfehlen.” Ina lenkt ein: „Ich habe einen

Hosenanzug in grau. Geht das?” Die Expertin: *Ein grauer

Hosenanzug ist sicher in Ordnung.”

      Jetzt Ina wieder: „Dürfen die Schuhe auch etwas höher

sein?” Die Expertin: „Keine Plateaus, nicht unbedingt ‚Highheels’. Klassisch, aber schick.”


Kekse essen üben

Nachdem Haarfarbe und Dresscode geklärt sind, geht Ina

über zu Fragen des Verzehrs: „Wenn man beim

Bewerbungsgespräch etwas zu trinken oder essen angeboten bekommt, soll man das annehmen oder ablehnen?”

      Die Expertin: „Selbstverständlich annehmen. Ablehnen

bedeutet ‚verklemmt’ sein.” Hier wird Ina konkret: “Ich hatte einmal

das Problem, dass ich einen Keks verschluckt habe, weil ich

so aufgeregt war. Deshalb wollte ich es in Zukunft vermeiden, bei einem Vorstellungsgespräch etwas zu essen.”

      Die Expertin rät: “Keks essen üben. Das geht ganz

einfach.” An dieser Stelle mischt Hussein sich ein: „Ganz schlimm

sind auch Vorstellungsgespräche, bei denen man sich

zum Mittagessen trifft. Das habe ich immer gehasst. Was soll

damit erreicht werden? Satt geworden bin ich nie.”

      Die Expertin bleibt sich treu: „Damit wird getestet,

ob sich der Bewerber auch bei Tisch gut verhält. Üben,

üben, üben!” Jetzt wendet Ina sich an Hussein:

„Das ist ein Test, ist doch klar. Aber das macht man doch

nur bei Führungskräften, oder?”

      Drauf die Expertin: „Testessen gibt es nicht nur

bei Führungskräften, auch normale Mitarbeiter werden

manchmal geprüft.”

       Entsetzt meint Ina: „Dann kann das ja auch auf mich

zukommen. Oh Schreck!” Die Expertin versteht nicht: „Wieso?

Essen ist doch etwas Feines.” Ina erklärt: „Aber ich

verschlucke mich doch oft. Ich muss wohl insgesamt Essen üben.”

      Die Expertin: „Das wird doch nicht so schwierig sein. In

einfachen Lokalen beginnen und sich dann steigern. Dann kann

einfach nichts mehr passieren. Wenn Sie geübt sind,

werden Sie sich auch nicht verschlucken.”

      Expertin ist Brigitte Nagiller, die Autorin des Buches

Knigge, Kleider und Karriere.


Mein Make-Up sparen können

Schlucken ohne zu verdauen: Vielleicht ist es das,

worauf die Karriere-Ratgeber die Kandidaten trimmen wollen.

„Hab beim Bewerbungsgespräch schon mal ein Glas

Wasser quer über den Tisch verteilt”, sagt Tanja zum Thema „Fettnäpfchen beim Vorstellungsgespräch” im User-Forum,

das der Personalberater access.de anbietet.

      Und Mel berichtet: “Mein Handy ging mitten im Gespräch

los, weil ich vergessen hatte, es auf lautlos zu stellen.

Mein Make-Up hätte ich mir in der Sekunde sparen können. Ich

wurde knallrot, weil es mir echt und ganz aufrichtig super

peinlich war. Das hat mein Gegenüber auch gesehen und es hatte letztlich kein Nachspiel – ich bekam ein Angebot von der Firma.”

      Situationsgrotesken, die sich im Bewerbungsgespräch

abspielen, haben auf unentrinnbare Art eine Gemeinsamkeit.

Das ist ihr Pate, der Krokodilschluss.


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