Jean-Étienne Liotard, The Chocolate Girl, circa 1743-45.


Jeder eine Fackel in der Hand   weiter   zurück



WINTER IN BERKSHIRE

 

War‘s das? fragt sich Anne Hopson.

Ist Mrs. Cibber am Ende? Und eine ewig dauernde Sekunde lang hat sie das Gefühl sich am

Küchentisch festhalten zu müssen. Alles scheint

ihr wegzusinken.



               Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.

               Freitag, 21. März 1740


„So gross wird Molly mal werden, so gross!” sagt

Susanna Cibber, lacht und hebt schwungvoll Molly hoch und

kitzelt sie, die Kleine kichert und jauchzt vor Vergnügen,

Susanna Cibber hält sie fest und tritt mit ihr im Arm in die Küche,

      Anne Hopson legt The London Daily Post aus der Hand

und sagt: „Madam, es sieht aus, als sei Mr. Cibber umgezogen.” Susanna Cibber blickt nicht verängstigt, aber irritiert, lacht

dann aber und wiegt Molly im Arm.

      Wenigstens hat sie, denkt Susanna Cibber, nicht mehr diesen stechenden Schmerz wie früher. „Tja, Miss Anne” sagt

sie. „So ist das leider nun mal mit mir. Ich zucke schon zusammen, wenn ich nur den Namen höre.”

      Anne Hopson sagt: „Hier ist es! Es ist ja vielleicht

nur ein Scherz.” Sie steht vom Küchentisch auf, greift mit

der linken Hand nach dem Blatt und sucht es nach

dem soeben Gelesenen ab. Sie ist eine Linkshänderin, denkt Susanna Cibber. Was sie stets von neuem erstaunt.

      Mit nicht besonders neugierigem Blick folgt sie dem Finger,

mit dem Anne Hopson auf eine Anzeige und darin auf die Angabe

zeigt, wo Besucher von Theo Cibbers Benefizabend vorgängig

ihre Karten abzuholen haben: And Tickets of Mr. Cibber,

at his Lodgings at Mr. Bolney’s, Peruke-Maker, in the Great Piazza, Covent-Garden.


Als sei auch das nicht so wichtig

Bei Mr. Bolney, dem Perückenmacher! The London

Daily Post ist nicht mehr ganz neu, wenn sie jeweils auf Slopers

Landsitz in West Woodhay, Berkshire, eintrifft. For the

Benefit of Mr. Cibber.

      Der Benefizabend ist an einem Montag, und der Montag

ist jener Abend in der Woche, an dem das Covent Garden Theatre jeweils den Renner Orpheus and Eurydice nicht gibt.

      An Theo Cibbers Benefizabend wird Othello gespielt,

The Moor of Venice, Shakespeares Tragödie. At the particular

Desire of several Ladies of Quality. Die Rolle des Othello

(auf Wunsch) durch Mr. Cibber. Ballettszenen zwischen den Akten.

      Susanna Cibber sagt: „Schaut mal hier! For the Benefit

of Mr. Valentine Snow.” Sie zeigt auf eine andere Anzeige, und Anne Hopson liest: Hickford’s Great Room. A Concert of Vocal and Instrumental Musick.

       Aber als sei auch das nicht so wichtig, hebt Susanna Cibber schwungvoll Molly hoch, die vor Vergnügen kichert

und jauchzt.


Zärtlich komplizenhafter Blick

Benefit? denkt Anne Hopson, als Susanna Cibber

das Wort ausspricht. Mr. Benefit hat Theo Cibber ihr gegenüber

den Liebhaber ihrer Herrin, Sloper, genannt.

      Anne Hopson sagt: „Ist Mr. Snow nicht Händels Trompeter?”

Susanna Cibber lächelt und sagt: „Er ist ein guter Mann.”

      Wie ihr eine gute Frau seid, denkt Anne Hopson, sagt es

aber nicht, sondern streift mit zärtlich komplizenhaftem

Blick Susanna Cibber, die zum Berühren nah an ihrer Seite steht,

nicht mal mittelgross, gut gebaut, aber nicht körperlich grazil

oder zierlich trotz ihrer Kleinheit, sondern attraktiv durch die Art,

wie sie im Leben steht, sich als Frau bewegt und auf

der Bühne redet oder in der Küche, wenn sie mit Molly spielt.

      Sie hat sich, denkt Anne Hopson, in sie verliebt.

Es ist verrückt, sie weiss es. Es geschieht ihr in dem Augenblick,

als sie Susanna Cibber in Männerkleidern auf der Strasse

unerkannt zu Sloper eilen sieht, cross-dressed.

      Susanna Cibber stellt Molly ab, zieht etwas hervor und

sagt: „Miss Anne, ich hab euch etwas mitgebracht. Ich weiss, ihr

habt auch eure Schlacht zu schlagen.”

      Sie überreicht ihr eine Silbermünze. „Das ist die Gedenkmünze

zur Einnahme von Porto Bello. Ein kleines Geschenk von

mir und Mr. Sloper.”

      Mr. Benefit! So hat Theo Cibber ihn genannt, den Liebhaber

ihrer Herrin. Das war an dem Tag gewesen, als sie das

erste Mal etwas abbekommen hat von dem Geld, das er Sloper

abgeknöpft hatte. Mr. Benefit, die Spendierhose!

      Es war die erste Anzahlung auf ihren Lohn, der seit Monaten

ausstand. Anne Hopson macht einen Knicks und nimmt

die Münze, die so blank, so neu, so unbenutzt ist, geht auf Susanna Cibber zu und küsst sie auf die Lippen.

      Und später? Wie hat Theo Cibber später den Liebhaber

ihrer Herrin genannt? Nobody. Somebody. Anybody. Our friend.

So hat er Sloper genannt. Anne Hopson hat es in den

Briefen gelesen, die Theo Cibber veröffentlicht hat, als er mit seiner Gerichtsklage an Slopers Geld heranzukommen hofft.


Conversation heisst auch Geschlechtsverkehr  

Das ist im Frühjahr 1738 gewesen. Die herbeigeeilte Susanna

Cibber, in Gedanken noch auf der Probe zu Comus, gibt sich ihrem Geliebten hin, Sloper ist jetzt ihr Xerxes, ihr Feldherr. Er kehrt

bei ihr ein, er ist Comus, sein Glied das Zepter.

      Aber, denkt Anne Hopson, ist sein Glied nicht einfach

nur ein kleiner, aufgerichteter Schwanz, der ruhig

gestellt werden muss? Conversation, denkt Anne Hopson,

heisst auch Geschlechtsverkehr, und es ist diese

andere, zweite Wortbedeutung, die sie liebt, fast noch mehr

liebt als die erste.

      Ist Liebe nicht manchmal eine Dienstleistung wie die

Wegstrecke, die sie im Sedan chair zurücklegt, wie

die Anwesenheit des Mädchens, die der Hausherr erwartet,

auch wenn er mit der Lohnzahlung im Rückstand ist?

      Februar 1738 wird den Cibbers das smarte, kleine Haus

in Wild Court weggenommen. Beginnt da der Absturz,

bei dem Theo Cibber nur noch in Tavernen und Bagnios

herumhängt? März, April ist er zur Verleumdung

seiner Ehefrau entschlossen. Er sagt: „Ich weiss alles.”

      Er erpresst das Liebespaar. Susanna Cibber, Sloper und

Anne Hopson sind überrascht und zuerst ratlos.

Sie ziehen in die Wohnung in Kensington, die sie im Haus

von Mr. und Mrs Carter gemietet haben, und nehmen

Theo Cibber mit. Aber lange ist er nicht Teil ihres Haushalts.

      Seine Gläubiger, denkt Anne Hopson, warten

lediglich noch die Benefizabende von Mr. und Mrs. Cibber ab,

denn da kommt Geld herein. Dann wollen sie zuschlagen.

Am 12. April 1738 gibt Susanna Cibber ihren Benefizabend, gespielt

wird Measure for Measure.


Der Zeuge. Der Spanner.

150 Pfund bringt der Abend ein. Die Gläubiger wollen

Theo Cibber dieses Mal ins Gefängnis stecken lassen, aber Theo Cibber wird rechtzeitig gewarnt.

      Er tritt am 17. April 1738 noch in Mills Benefizabend auf,

seinen Gläubigern entschlüpft er über das Dach des Drury Lane Theatre und schafft es zum Hafen, wo er ein Schiff nach

Frankreich besteigt.

      Tja, denkt Anne Hopson. Theo Cibber muss einsitzen,

aber Theo Cibber will nicht einsitzen. Theo Cibber weiss, wie

Macklin in der Nacht, als er Hallam verletzt hat, geflohen

ist, nämlich über das Dach des Drury Lane Theatre.

      Dabei weiss Macklin bei der Flucht noch gar nicht, dass

er Hallam ermordet hat. Und Theo Cibber hat keinen

Mann ermordet. Er hat nur eine Menge Männer um ihr Geld geprellt.

      Es folgen seine Briefe aus Calais im Mai 1738,

und Anfang Juni ist Theo Cibber in London zurück und zieht,

als Sloper sich gerade ausserhalb der Stadt aufhält,

bei Susanna Cibber sofort wieder ein.

      Sloper sieht sich in jenen Tagen nach einem Haus um,

in dem er mit Susanna Cibber den Sommer verbringen

kann. Als er nach London zurückkommt, wird Kriegsrat gehalten,

und Theo Cibber muss ausziehen.

      Und wieder beginnt Theo Cibber zu drohen. Er sagt: „Ich weiss

alles.” Spät am Abend zieht Theo Cibber aus. Doch als

Anne Hopson am anderen Morgen gerade die Haustür öffnen will,

steht Theo Cibber zum Frühstück schon wieder da.

      Die Theatersaison ist zuende. Eine Woche, nachdem

das Drury Lane Theatre schliesst, zieht Susanna Cibber mit Sloper nach Burnham. Und Theo Cibber? fragt sich Anne Hopson.

Sie hat gerade fertig gepackt.

      Theo Cibber will erneut mit von der Partie sein, er droht

Sloper mit einer gerichtlichen Klage wegen Verführung

und Abspenstigmachung der Ehefrau. Er hat Beweise, sagt Theo

Cibber. Er hat einen Zeugen, Mr. Hayes. Der Spanner,

sagt Theo Cibber. Er hat ganze Arbeit geleistet.


Entschlossen wie nie  

In der Hand hält Theo Cibber die minutiösen Aufzeichnungen,

die Mr. Hayes ihm geliefert hat. Ein bisschen übermässig beflissen vielleicht, sagt Theo Cibber und lacht sein kaltes Lachen.

Wenn das für ein demokratisches Gericht nicht Munition genug ist!

      Anne Hopson muss neu packen. Susanna Cibber

und Sloper kapitulieren. Sie nehmen Theo Cibber nun doch

nach Burnham mit, aber die Stimmung im Sommerhaus

ist frostig. Die drei sind füreinander nicht geschaffen, aber darum

geht es auch gar nicht.

      Im Sommer in Burnham geschieht es. Susanna Cibber wird

schwanger. Sie beginnt zu rechnen. Februar 1739 wird

sie das Kind zur Welt bringen. Sie hat ein Datum, es ist ein ungefähres Datum, aber sie richtet sich darauf ein.

      Sie hat das Kind von Sloper. Und plötzlich ist alles anders.

Sie will nicht, dass Theo Cibber noch einen einzigen Tag länger im Haus bleibt. Sie hat es sich genau überlegt. Sie befürchtet,

dass Theo Cibber das Kind einkalkuliert, sie befürchtet, dass er es einbezieht in sein Erpressungsmanöver.

      Theo Cibber, ihr Ehemann, muss gehen. Susanna Cibber

will keine Verwicklung, sie ist entschlossen wie nie. Ein

Monat ist seit ihrer Ankunft in Burnham vergangen, aber ihr reicht

es jetzt endgültig. Sie fordert Theo Cibber auf zu packen.

      Und Theo Cibber kommt zu Anne Hopson. Er muss ausziehen,

ein für allemal. Er geht, aber er will sich, sagt Theo Cibber,

von seiner Frau nicht trennen. Niemals. Er lässt sich, sagt Theo

Cibber, nicht wegschicken, nicht einfach so.

      Sie verdankt ihm alles. Und er, Theo Cibber, wird sie vernichten,

sagt er. Und er sagt es zu Anne Hopson, die im Zimmer,

wo er laut ausruft, für ihn packt, und Anne Hopson denkt im selben Augenblick: Er beschliesst das nicht erst, nachdem er hat

gehen müssen.

      Er inszeniert alles. Sich. Seine Ehe. Er inszeniert alles neu.

Noch ist, denkt er, nichts verloren. Er wartet auf das Urteil

der Welt. Er bewaffnet sich. Er schreibt Briefe an Susanna Cibber

oder an Sloper, Briefe, die er nicht abzuschicken gedenkt,

fiktive, zur Publikation bestimmte Briefe, rührende Selbstbemitleidungen. Sie sind Teil seiner gerichtlichen Klage.


Sie nennt ihren Ehemann einen Schurken  

Und Theo Cibber, der Darsteller des Pistol, schreitet zur Tat

wie ein Operettenbuffo. Es ist 8. September 1738,

und Theo Cibber kommt mit der Kutsche in Burnham angebraust,

er hat Pistolen dabei.

      Und er hat zwei Gehilfen, die mit ihm durch dick und

dünn gehen, Fife und Watson, er hat sie im Drury Lane Theatre

angeheuert. Er entführt seine Ehefrau.

      Unterwegs gibt es eine Übernachtung. Er lässt Susanna

Cibber, die ihn in der Herberge vor Zeugen einen Schurken nennt, einsperren und bewachen. Sloper ist hinterher geritten. Er

nimmt in der Herberge ein Zimmer.

      Am frühen Morgen ist er weg. Theo Cibber befürchtet,

Sloper rücke mit Hilfe an. Er lässt die Kutsche einen

Umweg nehmen. Als sie endlich in London eintreffen, hat Theo

Cibber es eilig ins Drury Lane Theatre zu kommen, er ist

an diesem Abend der Darsteller des Pistol.

      Wieder sind es die Tage Anfang September. Diesmal

ist Hamlet im Drury Lane Theatre keine Premiere, die Susanna

Cibber platzen lässt, sondern geht perfekt über die Bühne.

      Aber am 9. September steht The Relapse auf dem

Programm, sie soll Amanda geben, deren Ehemann Loveless

ihr untreu wird, am Abend kommt aber etwas dazwischen.

Selbst Benjamin Griffin sieht nicht mehr durch. Er hält im Tagebuch

fest: Mrs. Cibber taken this Night out at Wild Court.

      Theo Cibber hat seine Ehefrau eingesperrt. Ist das Freiheitsberaubung? Ist Susanna Cibber indisponiert? verhindert?

Über alles führt Benjamin Griffin Buch, aber diese einfache

Frage lässt er offen.

      17 mal hat Susanna Cibber Amanda gegeben

– und 40 mal Belinda, und 37 mal Indiana, und 36 mal Chriza,

und 35 mal Endocia, und 32 mal Ann, und 30 mal Burle,

und 26 mal Desdemona, und 25 mal Monimia, und 23 mal Laeticia

und 20 mal Isabella.

      All die grossartigen Frauenrollen, für die Griffin in all den

Jahren ihre Auftritte getreulich addiert hat!

      Aber, denkt Anne Hopson, hier draussen in West Woodhay,

Berkshire, sind all die grossartigen Frauenrollen für

Susanna Cibber so fern, als hätte es in London nie ein Theater gegeben, denkt Anne Hopson, steht in der Küche

und sieht, wie Susanna Cibber die kleine Molly hochhebt.


Was zwei Frauen miteinander teilen

War’s das? denkt Anne Hopson. Ist Susanna Cibber

am Ende? Und eine ewig dauernde Sekunde lang hat Anne

Hopson das Gefühl sich am Küchentisch, auf den sie

die Gedenkmünze gelegt hat, festhalten zu müssen, alles

scheint ihr wegzusinken.

      Aber ebenso rasch fasst sie sich wieder. Sie denkt,

sie muss die Frage einfacher stellen, bescheidener, nicht so

belastend für Susanna Cibber, und dann lautet die Frage:

Hat sie Amanda noch einmal gespielt?

      Andererseits, hat nicht gerade Susanna Cibber allen

Grund die Rolle noch und noch einmal zu spielen, jetzt erst recht?

Anne Hopson vermag es nicht zu sagen, und sie wird

Susanna Cibber auch nicht fragen, weder an diesem regnerischen Freitagmorgen, hier am Tisch in der Küche, auf Slopers

Landsitz, noch sonst irgendwann.

      Sie steckt die Gedenkmünze ein. Ihr genügt es, dass

Susanna Cibber ausharrt. Alles ist klar und hell, es ist nichts geschehen. Anne Hopson sagt: „Ist Mr. Snow nicht

Händels Trompeter?” Susanna Cibber sagt: „Er ist ein

guter Mann.”

      Wie ihr eine gute Frau seid, denkt Anne Hopson,

sagt es aber nicht, sondern streift mit zärtlich komplizenhaftem

Blick Susanna Cibber, die zum Berühren nah an ihrer

rechten Seite steht.

      Und Anne Hopson bemerkt, wie Susanna Cibber

den Kopf neigt und auch sie ansieht mit zärtlich komplizenhaftem

Blick. Anne Hopson sagt: „Wie ihr eine gute Frau seid.”

      Susanna Cibber sagt: „Bin ich das?” Und sie schenkt

Anne Hopson das tiefgründige Lächeln, das nur zwei

Frauen miteinander teilen können, und kitzelt dann Molly oder tut

auch nur so und hebt sie schwungvoll noch einmal hoch

und lacht und sagt: „So gross wird Molly mal werden, so gross!”


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Susanna Cibber 2