Thomas Hudson, John Beard, circa 1743. England erobert im
Krieg mit Spanien 1739 Porto Bello. In London toben sie, als Beard
im Drury Lane Theatre den Porto Bello Song singt. Die Musik
ist von Händel.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück
KRIEG
John Beard tritt hinzu. „Wie ist er angekommen,
der Porto Bello Song?” fragt Händel. Beard reibt das Auge, als hätte das irgendwie mit dem Auftritt
von gestern zu tun. Wie weggeworfen sagt er: „Sie
haben getobt.”
Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.
Mittwoch, 26. März 1740
„Nur die drei? Oder die Italian Arias completamente?“ fragt
Händel, schaut sie an und lacht. La Francesina blickt zu Boden, entwaffnet, verblüfft, widerlegt. Sie hat mit Widerstand
gerechnet, als sie zu Händel geht um in Esther drei Italian Arias unterzubringen, aber er hat nichts dagegen.
Dabei ist das hier his first all-english Season, dabei reicht
Esther zurück an die Wurzel, zu Lord Chandos und seinem Zirkel
in Cannons, wo die Idee der all-english Season ihren Anfang
nimmt und Esther 1718 herauskommt, das erste englische Oratorio.
Händel und Smith, sein Sekretär und Chefkopist, nennen
Esther bis 1732 The Oratorium, das Werk ist lange Zeit das einzige seiner Art. Die Gattung des Oratorio hat bei Händel italienische Vorläufer, Il Trionfo del Tempo e del Disinganno etwa, in Rom entstanden, das Oratorio ist das Produkt eines Ausweichmanövers,
als die katholische Kirche die Oper verbietet.
1732 bringt Händel Esther in zweiter Fassung heraus,
aber er gibt die gleiche Version nie zweimal, er ändert andauernd,
was Jennens auf den Platz ruft, der Librettist nennt Esther
a baudy opera, eine obszöne Oper.
Und jetzt, der letzte Zwick, kommt sie, La Francesina,
und hat nichts als ihr Ansinnen im Kopf in Esther drei Italian Arias unterzubringen, und alles, was Händel darauf erwidert,
soll sein: „Nur die drei? Oder die Italian Arias completamente?”
„Seulement les trois”, sagt La Francesina mit dem
überzeugten Lächeln der Glücklichen. Hat sie nicht leuchtende
Augen wie ein kleines Mädchen, das seine Puppe auf
die Reise mitnehmen darf?
Aber Händel behandelt sie wie eine Erwachsene, ohne
Unterton einer Verärgerung sagt er: „In Esther, wisst ihr, spielt
es keine Rolle, was ihr singt. Esther ist ein Flickenteppich,
schön und unfertig.“
„Dabei ist die Geschichte ganz einfach. Esther ist mit Assuerus,
dem König von Persien, verheiratet. Als die Juden im
Land umgebracht werden sollen, sagt Esther, sie ist auch eine,
und die Aktion wird gestoppt. Das will ich herüberbringen,
das Outing der Esther. Aber was ich auch mache, ich bringe es
nicht herüber.”
„Je le sais”, sagt La Francesina und blickt zu Boden.
Händel sagt: „Ist das alles, was ihr wollt?” Sie nickt. „Oui, Monsieur,
je vous remercie de tout mon coeur.”
Der Engel schwebt in Italienisch herab
So kommt es, dass La Francesina in Esther an diesem Abend
nicht nur die Titelrolle, sondern ausserdem drei Italian Arias
singt, Angelico splendor, allegro, Cor fedele, spera sempre, larghetto, und Tua bellezza, tua dolcezza, allegro.
Sie beginnt mit Angelico splendor, der leuchtende Engel
schwebt in Italienisch auf das Publikum herab.
„Angela splendor, Rischiari il nobil cor Fugga il martoro. Di voi sia scorta oguor, Vi spiri un santo ardor, d’Angioli un coro.”
Es ist die erste der drei Arias, die La Francesina mit Erfolg vergangenes Jahr in Israel in Egypt gesungen hat, als der Abend,
kein Zweifel, floppte. Mit den Italian Arias in Esther tut
Händel also nichts Neues. Er richtet sich stets nach den Solisten,
die er zur Verfügung hat.
Insgesamt sind es mit Bianco giglio und Spira un aura
fünf Arias, die er 1738 in einem Konzert unter dem Titel An Oratorio
so gibt, wie der Soprankastrat Conti sie gesungen hat,
für den sie in Esther hineingekommen sind, completamente.
Ein Concerto, nie aufgeführt ausser einmal
Es ist Mittwoch, 26. März 1740, in The London Daily Post zeigt
Heidegger an: Lincoln’s Inn Fields. Im Theatre-Royal
in Lincoln’s Inn Fields wird an diesem Tag ein Oratorio aufgeführt,
genannt Esther.
Mit einem Concerto auf der Orgel. Und einem neuen
Concerto für mehrere Instrumente, nie aufgeführt ausser einmal.
(Gemeint ist das Concerto grosso, das Händel fünf Tage
zuvor, am 21. März 1740, mit Saul herausbringt.)
Logen eine halbe Guinea. Parkett 5 Shilling. Erster Rang
3 Shilling. Oberer Rang 2 Shilling. Logen-Tickets werden
an diesem Tag am Bühneneingang zu je einer halben Guinea
verkauft. Beginn eine halbe Stunde nach sechs Uhr.
Er umfasst ihre nackte Schulter
Nein, Zeitung liest sie keine, sagt La Francesina. Also kann
sie sich schlecht darüber aufhalten, dass die Anzeige die Zugabe
der Italian Arias nicht erwähnt. Strahlend betritt sie am
Abend den Green Room des Lincoln’s Inn Fields Theatre, sieht
die Musiker versammelt, sieht Händel, der auf sie zukommt,
ihre nackte Schulter umfasst und verschmitzt, als dinierten sie in
einem Speiselokal, zu ihr sagt: „Pas de supplément?
Nur die drei Italian Arias? Veramente?”
Es ist die Zugabe der Italian Arias seiner Primadonna,
mit der Händel die Konzertbesucher des Abends verblüfft. La Francesina singt dreisprachig. In Frankreich aufgewachsen
hat sie eine Gesangsausbildung in Italien hinter sich und tritt seit
1736 in London auf, wo Händel sie bei der Konkurrenz
losgeeist hat.
La Francesina wird dieses Jahr zweiundvierzig oder sie ist
es schon, so genau weiss das keiner, es sei denn Furnese,
dem sie über alles geht. Burney sagt: Was Händel anscheinend grosses Vergnügen bereitet sie herauszubringen, ist die
Natürlichkeit ihres Trillers und die Agilität ihrer Stimme.
Furnese hat ihn mit Geld unterfüttert
Händel wäre verrückt, stellte er sich gegen die Italian Arias,
denkt La Francesina. Aber verrückt sind heute viele! Ihr
entgeht nicht, wie unaufgeregt er die Wiederaufnahme von Esther angeht. Hat es damit zu tun, dass er Esther in dieser Saison
nur einmal gibt, genau wie Saul vor fünf Tagen?
La Francesina weiss es nicht. Und nach einer Antwort
auf die Frage, warum sie das Supplément bei Händel
problemlos durchgebracht hat, sucht sie vergebens. Es ist, La
Francesina ahnt es, nicht die Natürlichkeit ihres Trillers
oder die Agilität ihrer Stimme. Es ist auch nicht der Erfolg der
Italian Arias in Israel in Egypt vergangenes Jahr.
Es ist ein ganz profaner Grund. Wahrscheinlich hat
Furnese, ihr innigster Verehrer, Händel mal wieder mit Geld
unterfüttert. Sie vergisst sowas leicht, denkt La Francesina,
die Pralinen in der Hand, die Furnese vor einer halben Stunde
in die Garderobe gebracht hat.
„Darf ich euch etwas fragen?” Sie lächelt und schaut Furnese
an. „Ich bitte darum.” „Was habt ihr Händel bezahlt, damit ihr
die Italian Arias zu hören bekommt?” Furnese sagt: „Nichts. Ich schwöre es. Absolut nichts.” Und La Francesina führt
eine Praline zum Mund. Sie sagt: „Das glaube ich euch nicht.”
Sie haben getobt
Jetzt steht La Francesina im Green Room. Sie atmet
nochmal durch, und neben ihr steht Händel. So zuvorkommend
hat sie ihn noch nie erlebt. Aber hat das mit ihr zu tun?
Beard tritt hinzu. Händel fragt: „Wie ist er angekommen,
der Porto Bello Song?” La Francesina sieht Beard an, sie weiss,
dass die Musik zum Porto Bello Song von Händel ist.
Beard reibt das linke Auge, als hätte das irgendwie mit dem
gestrigen Auftritt zu tun, und sagt wie weggeworfen:
„Sie haben getobt.”
As near Porto Bello lying beginnt der Song, Edmund Glover
hat ihn getextet, eine Ballade, die eigentlich Admiral Hosier’s Ghost heisst, sie handelt davon, wie Admiral Vernon das wehrlose
Porto Bello erobert, with six ships only, die Melodie ist seit 1730 bekannt, Come and listen to my ditty beginnt der Text, der
Song heisst The Sailor’s Complaint, man hat mit ihm bereits Admiral George Saunders gehuldigt, unter dem Titel Saunder’s Ghost seinerzeit.
Auch wenn La Francesina keine Zeitung liest, weiss sie sofort:
Den Porto Bello Song hat Beard im Drury Lane Theatre gesungen,
als Entr’act zu The Conscious Lovers, Giffard ist Indiana,
Quin ist Bevil Jr. und Kitty Clive ist Phillis, aber mit dem Porto Bello Song hat Beard den Gesangs- und Tanzeinlagen das Glanzlicht aufgesetzt, wenn nicht dem Abend insgesamt.
Captain eines englischen Kriegsschiffs
Händel sagt: „Mein Diener hat es mir in The London Daily Post
gezeigt, ich hätte es sonst gar nicht mitbekommen.”
Er räuspert sich. Zum Frühstück hatte Du Burk das Blatt mit der Anzeige zu The Conscious Lovers heraufgebracht,
die Anzeige mit dem Zusatz:
With Entertainments of Singing and Dancing. Act II Nel Pugnar, gesungen von Mr. Beard. Act V Ein Song von Mr. Beard
(in der Rolle des Captains eines englischen Kriegsschiffes) über
die Eroberung von Porto Bello.
Der Captain eines englischen Kriegsschiffes!
liebäugelt La Francesina, die ein Soprano ist, kein Mezzo,
sie, die den Zugang zu einer Rolle stets über die
Musik sucht und findet, nie über den Charakter, ausgerechnet
sie, La Francesina.
Der Captain eines englischen Kriegsschiffes!
Aus dem Drury Lane Theatre weiss La Francesina so gut wie
alles. Denn was La Francesina aus dem Drury Lane
Theatre weiss, das hat sie von Kitty Clive, die ein paar Häuser
von ihr entfernt wohnt.
Nach The Conscious Lovers hatte Kitty Clive noch einen
zweiten Auftritt gehabt, im Afterplay The Devil to Pay,
or, The Wives Metamorphos’d. In der einaktigen Ballad-Farce
hatte sie Nell gegeben, die demütige, gehorsame
Ehefrau von Jobson, die durch Hiebe gelernt hat, wer Herr
im Haus ist, aber nach dem Hokuspokus einer
Zauberei eine komplett andere Ehe in der Praxis kennenlernt,
eine Rolle, die Mrs. Roberts an ihrem Benefizabend
heute selbst geben wird, wobei Beard nach seinem Auftritt
in Esther im Lincoln’s Inn Fields Theatre zu
vorgerückter Stunde bei der Gelegenheit auch noch im Drury
Lane Theatre auftritt, wo er in The Devil to Pay Sir
John Loverule gibt, den er mit dem Song The Early Horn einführt.
The Devil to Pay, Der Teufelspakt. Ein reizendes Motto
für jede Art Afterplay, denkt La Francesina. Sie sagt: „Heute ist das Supplément italienisch.” Händel sagt: „Einen kenn ich,
der tobt auch da.” La Francesina sagt: „Er hat Pralinen gebracht.” Händel winkt ab. „Nachher, nachher.”
Über Admiral Vernon geht das Licht nie aus
Aber auch ohne Porto Bello Song, denkt er, nehmen
die Siegesfeiern kein Ende. Inzwischen macht Captain Rentone
mit dem Schiff Triumph seit Tagen eine ausgiebige
Ehrenrunde durch England, und es vergeht kein Tag, an dem das Thema nicht abgedeckt ist in The London Daily Post,
die schreibt:
Das Schiff Triumph, das spanische Schiff, das die Nachricht
der Eroberung Porto Bellos überbrachte, ist in Woolwich
angekommen. Vergangenen Sonntag dinierten ausgewählte Persönlichkeiten an Bord, wo Captain Rentone,
der Befehlshaber, sie auf elegante Art unterhielt.
Vor allem, was Admiral Vernon angeht, geht das Licht nie aus.
Es ist, als sorgte eine umtriebige Press agency work dafür,
dass der Nachschub an Neuigkeiten jederzeit sicher gestellt ist.
Gestern erhielt die Admiralität ein Paket von Admiral
Vernon mit der Nachricht, er sei am 3. Februar 1740 in Kingston
auf der Insel von Jamaica gelandet und habe eine gute
Überfahrt von Porto Bello gehabt, die Flotte sei in sehr gutem
Zustand und die Männer erfreuten sich alle
perfekter Gesundheit.
Das bringt The London Daily Post zu Admiral Vernon,
und manchmal bekommt sogar Admiral Haddock einen Zipfel der Aufmerksamkeit ab.
In der Stadt kursiert ein Bericht, Admiral Haddock hätte
zwei spanische Schiffe voller Soldaten, Kleider, Waffen
und Artillerie, die nach der Insel von Mallorca unterwegs waren,
erobert und mehrere grosse, offene Boote mit Destination
zu der besagten Insel zerstört.
Die Krieger sind noch da
„Breathe”, probiert La Francesina. „Breathe.” Sie streckt sich,
stösst die Luft aus, und neben ihr dehnt sich Beard, lockert
die Hände, sie flattert mit den Armen. Händel sagt: „Sie meinen,
der Krieg ist vorbei. Aber die Krieger sind noch da.”
Was La Francesina probiert, ist das Arioso, mit dem sie
als Esther beginnt. „Breathe soft, ye gales! Ye rills, in silence roll!
And heav’nly peace reside in Esther’s soul!” Atmet sanft,
ihr Stürme! Ihr Bäche, still zieht dahin! Und himmlischer Frieden
erfüllt Esthers Seele.
Drauf folgt Watchful angels, let me share, die erste Arie,
und gleich drauf das Hallelujah, was für ein Aufgaloppp! und
alles Librettotext von Humphreys, kein Meisterstück!
La Francesina ist aufgeregt. Sie kennt sich so nicht. Sie hat sonst
nicht solches Lampenfieber.
Alles okay? schaut Beard sie an, leicht verwundert, lässt
den Kopf fallen, geht in die Hocke und schaukelt aus dem Becken. Beard sagt: „Sie sind alle besoffen vom Sieg. Ich kann auch
ohne. Ich kapriziere mich nicht auf Porto Bello.”
La Francesina sieht ihn von der Seite her skeptisch an,
ein amüsierter Augenaufschlag. Sie lacht. „Ich hätte gern mal den Captain eines englischen Kriegsschiffes gegeben.” Von der
Bühne her ist das Publikum zu hören, das sich im Lincoln’s Inn
Fields Theatre versammelt hat.
La Francesina weiss, sie gibt nicht den Captain eines
englischen Kriegsschiffes, sie gibt Esther, die Königin von Persien.
Gleich geht sie hinaus auf die Bühne mit Händel, mit Beard,
mit dem Chor, mit den Musikern und mit den anderen Solisten,
es beginnt Esther und es ist ihr Abend, das weiss
La Francesina.
Ein gefährliches Unterfangen
Die Geschichte läuft darauf hinaus, dass Esther durch
Mordecai am Hof von Assuerus eingeführt wird. Der König von
Persien ist auf Brautschau. Und Assuerus macht tatsächlich
Esther zu seiner Frau und Königin.
Inzwischen rettet Mordecai den König vor einem
Mordkomplott. Aber eben dieser König macht darauf Haman
zu seinem Statthalter, aber Haman nötigt jeden, ihm
seine Referenz zu erweisen, indem er sich vor ihm verbeugt.
Mordecai verweigert das. Und Haman rächt sich. Er
unterbreitet dem König das Dekret, dass alle Staatsfeinde sterben müssen. Für Haman die Gelegenheit zur Judenverfolgung.
Und Mordecai und Esther sind Juden. Sie haben sich bei Hofe
aber nie zu erkennen gegeben.
Mordecai ermutigt nun Esther beim König zu ihren
Gunsten zu intervenieren. Ein gefährliches Unterfangen. Es ist
verboten die Gemächer des Königs zu betreten, ohne
zuvor persönlich eingeladen worden zu sein. Assuerus hat
wegen ihres Ungehorsams Vashti, seine erste Frau,
enthaupten lassen.
Als Esther auf Assuerus trifft, zischt er sie an, aber
es gelingt ihr den König zu erweichen. Assuerus schmilzt vor
Esther in der Arie O Beauteous Queen. Dabei setzt
Händel die Orgel ein, er selbst begleitet Beard. „O beauteous
queen, unclose those eyes! My fairest shall not bleed.”
Sie kommt aus dem Staunen nicht raus
Es ist gerade mal acht Jahre her, da hat Senesino den Part
des Königs von Persien gesungen. Und Esther schafft es,
sie bringt den König dazu, mit Haman zu ihrem Bankett
zu kommen. Sie weiss, Haman hat bereits einen Galgen für
Mordecai errichten lassen.
Beim Bankett deckt sie Hamans Heimtücke gegen Mordecai
und ihr Volk auf. Haman sucht sie herumzubiegen.
Reinhold, der Bass, tut das in der Arie Turn not, O Queen, Händel
lässt die Arie senza Cembalo, Teorba, Harpa, Bassoni
singen, Haman nützt alles nichts, er wird am eigenen Galgen aufgeknöpft, und die Israeliten feiern, Assuerus erlaubt
ihnen heimzukehren und den Tempel in Jerusalem
wieder zu errichten.
Das ist es, worauf Esther hinausläuft, der Text ist aus der
Bibel, eine alttestamentarische Geschichte. Und gerade
weil La Francesina die Geschichte zu kennen glaubt, kommt sie
aus dem Staunen nicht heraus, als Furnese nach der
Aufführung in ihre Garderobe kommt und in Esther auf einmal
die Sieger von Porto Bello erkennen will.
Furnese sagt in leiser Vehemenz: „Ihr, La Francesina, ihr
seid Esther, und Esther ist Britannia. Soviel ist sicher. Und Beard
ist Assuerus, und Assuerus ist George II. Und Reinhold
ist Haman, und Haman ist Walpole.”
La Francesina blickt verständnislos. „Und wisst ihr schon
das Neueste?” sagt Furnese. „Walpole lässt sich malen. Im Studio
von Jean-Baptiste van Loo, ein Bild für Lord Bessborough.”
Furnese reibt das Kinn, blickt La Francesina an und lacht.
In seinem inneren Auge sieht er Walpole, den Premierminister,
seinen Intimfeind, in Öl auf Leinwand.
In Öl auf Leinwand
Dicke, fette Sau, dunkle, grünlich braune, ins Leere gehende,
gläserne Augen, aufgesetztes, dünnes Lächeln, buschige
Augenbrauen (es sind, denkt Furnese, diese Augenbrauen, die
Macht, Machtinstinkt und Machtgier verraten, das Festhalten
an der Macht, das Walpole korrumpiert hat), hellgraue,
schulterlange Perücke, Robe des Schatzkanzlers, Schärpe und
Stern des Order of the Garter, des höchsten, englischen
Ritterordens, gegründet 1344 von Edward III.
Das Strumpfband, the Garter, gehört der Countess of
Salisbury, die mit King Edward III. tanzt, als es ihr abfällt, der
König es aufhebt, es sich selbst ums Bein bindet
und zu den Umstehenden sagt: „Honi soit qui mal y pense.”
Alles Teil der unermüdlich in der Öffentlichkeit gezeigten Selbstinszenierung von Sir Robert Walpole, geboren 1667, an die Macht gekommen im Kielwasser der South Sea Bubble
Krise, seit 1721 Premierminister.
Furnese kratzt sich, nimmt die Hand vom Kinn und lacht
La Francesina an. Laut sagt er: „Ich sehe Walpole in Öl
auf Leinwand, das Bild des Staatsmanns, der mehr Macht auf sich
zieht als je ein Premierminister vor ihm, Walpole, der sich
seit zwei Jahrzehnten an der Macht hält, Walpole,
der Grossbritannien in lang andauernder Friedenszeit durch
wirtschaftliche Reformen zu Wohlstand verhilft und
seine Unpopularität mit Bestechung und Begünstigung wettmacht.”
Ihn fressen wie ein Raubtier
Furnese dreht sich auf dem Absatz. Er ist, denkt La Francesina,
mal wieder bei seinem Lieblingsthema. Es klopft an der
Tür. Cecilia Arne, die Sängerin und Ehefrau des Komponisten,
streckt den Kopf herein und verabschiedet sich in Eile.
Seltsam, denkt Furnese. Eben noch hat Cecilia Arne
auf der Bühne gestanden, hat The Israelite Woman gesungen
und eine der schönsten Stellen zu Beginn gehabt,
was für eine Arie! „Praise the Lord with cheerful noise, ‘Wake
my glory, ‘wake my lyre!”
Händel nimmt das wörtlich, er lässt Harfe spielen,
nicht Kontrabass. Davor, bei der Arie Tune your harps des Ersten Israeliten, hat Händel den Einsatz sowohl des Cembalos
als auch der Orgel vorgesehen. Senza Cembalo steht in der Direktionspartitur, nicht aber im Autograph.
Stellen, an denen Händel unübliche Instrumente oder
Kombinationen vorsieht, versieht er mit genauen Angaben.
Dann ist Cecilia Arne weg, und La Francesina sagt:
„Und ich bin also Esther. Und Esther ist Britannia. Und Cecilia
Arne ist The Israelite Woman. Und The Israelite
Woman ist wer?”
Aber Furnese zuckt nur die Schultern. „Weiss ich nicht”,
sagt er desinteressiert. Eben noch hat Furnese beim
Schlussapplaus die Rolle des Retters gespielt, weit aus der
Loge gelehnt La Francesina Blumen zugeworfen und
begeistert gerufen: „Blumen für Britannia!”
Jetzt steht er hier, in ihrer Garderobe, unvermeidlich.
Furnese, der Umstürzler! Er würde Walpole am liebsten fressen
wie ein Raubtier, denkt La Francesina. Sie wischt die
Schminke aus dem Gesicht. Er würde am liebsten selbst Premierminister sein, nicht Mitglied des Parlaments!
Mit dem Dreckskerl ist sie durch
Dummerweise fällt La Francesina das Ölgemälde seiner Kunstsammlung ein, das Furnese ihr in Gunnersbury gezeigt hat,
ein nacktes Liebespaar in freier Natur. Den Triumph der
Liebe über den Krieg stellt das Ölgemälde dar, Cupidos umlagern
Mars und Venus.
Zwar verehrt Furnese sie, aber La Francesina fragt sich:
Meint er wirklich die Art, wie sie Flatt’ring tongue gesungen hat,
ihre letzte Arie des Abends?
Esther ist mit Haman, diesem Dreckskerl, endlich durch,
und La Francesina hat Gelegenheit beseelt sich zu verströmen,
hell, klar, ein reifer, farbenprächtiger Sopran.
„Flatt’ring tongue, no more I hear thee! Vain are all thy
cruel wiles! Bloody wretch, no more I fear thee, Vain thy frowns
and vain thy smiles. Tyrant, when of power possess’d,
Now thou tremblest, when distress’d. Flatt’ring tongue...” Da Capo.
Ihr Schmeichler, ich höre euch nicht mehr! Fruchtlos
all eure grausamen Schliche, blutrünstiger Schuft. Ich fürchte
euch nicht mehr. Nutzlos euer finsterer Blick, nutzlos euer
Lächeln. Ein Tyrann, solange ihr die Macht habt, jetzt,
in Bedrängnis gebracht, zittert ihr. Das ist, was La Francesina
singt als Esther, und Haman flennt, und Esther stösst ihn weg.
In Esther sieht Furnese Britannia, die Hüterin der
Freiheiten der britischen Verfassung? Aber, denkt
La Francesina, sie hat, als sie Flatt’ring tongue singt, nicht ein
einziges Mal mit der Wimper gezuckt, sie hat nicht eine
Sekunde an Walpole gedacht.
1732, als Händel mit der zweiten Fassung von Esther
herauskommt, ist Walpole The Daily Courant keine
Erwähnung wert, nur King, Queen, Prince of Wales & Schwestern.
Das Blatt schreibt: Letzte Nacht gingen ihre Majestäten,
seine königliche Hoheit, der Prince of Wales und die drei ältesten
Princesses in die Oper am Haymarket und sahen eine
Aufführung, genannt Esther, ein Oratorio.
Billig ist das nicht
Mit der Neufassung schlägt Händel die Konkurrenz
einer unautorisierten Aufführung aus dem Feld, er bietet einen
Mehrwert an, mehr Sänger, zwei Sprachen, die Hälfte
der Nummern neu.
Die Formel bewährt sich, er wiederholt sie mit
Acis and Galatea. Nur, billig ist das nicht. Das Oratorio im
Muster, das Esther neu vorgibt, erfordert grössere
Kräfte als eine italienische Oper.
Zu den Solisten kommt ein Chor hinzu, ein massiveres,
variableres Orchester, und das fällt finanziell ins Gewicht. Selbst
wenn die Kosten für Kostüme und Dekorationen wegfallen,
bleiben die Gagen für die italienischen Starsänger.
Die Company ist teuer. Zwei Kastraten, die nicht gewohnt
sind in Englisch zu singen, gehören ihr an, als Händel
1737 die fünf Italian Arias in Esther einführt, andere Arias
werden übersetzt. Eine komplexe Ausgangslage, aber
es funktioniert.
The London Magazine schreibt im Mai 1732: Mit riesigem
Applaus wird im Theatre Royal am Haymarket ein Oratorio oder biblisches Drama neu aufgeführt, die Musik hat der
grossartige Mr. Handel komponiert.
Oppositionelles Gedankengut
Händel, der Zauberer. Er schaukelt alles. Händel, der Manager.
Er hat einen scharfen Blick für die Vermarktung. Das
schlägt bis in die Anekdote durch, in welcher der Sänger Alexander Gordon aus Protest gegen Händels Cembalo-Begleitung
auf das Cembalo hinaufzuspringen androht.
Und Händel antwortet: „Lasst mich wissen, wann ihr das tut,
und ich schalte eine Anzeige. Denn es kommen sicher mehr Leute
um euch springen als um euch singen zu hören.”
Was Händel geprobt hat? Ist es Flavio? ist es Radamisto
gewesen? Gleichgültig. Händel glänzt stets in der
Kunst der Vermarktung. La Francesina studiert ihr Gesicht
im Schminkspiegel, lacht und fährt mit dem Zeigefinger
über eine Stelle ihrer Wimper.
Furnese sagt: „Walpole kennt Esther nicht.” Es ist Dr.
Edmund Gibson, der Bishop of London, der die Oper mit Bann
belegt hat, und Gibson ist viele Jahre lang Walpoles
vertraulicher Berater und Alliierter.
Womöglich geht Händels Entschluss, die Action auf
der Bühne wegzulassen, auf das Fiat zurück, das der Bishop
of London vor der ersten Vorstellung von Esther 1732
erteilt. Was war geschehen?
Aus der St. George’s Church, Hanover Square, hatte
Gibson im Vorjahr einen beunruhigenden Bericht über
eine Predigt erhalten, die oppositionelles Gedankengut verbreitet
und sich auf einen Text aus dem Buch Esther bezogen
haben soll.
So findet Esther womöglich noch vor Händels Aufführung
Gibsons Aufmerksamkeit als potenziell aufrührerisches
Stück. Gibson schreibt: An entertainment of musick throws a man
off his guard, makes way for an ill impression and is most
commodiously planted to do mischief.
Der Bishop of London ist der Meinung, das Musikvergnügen
lasse einen Mann seine Wachsamkeit vergessen, führe
zu kranken Eindrücken und sei meist dazu angetan Schaden
anzurichten.
Am Rand des Rücktritts
Nur, warum widersetzt Händel sich nicht? Tut er es nicht,
weil er für sein Oratorio andere Gründe hat, aesthetische? Dabei
steht Händel nicht schlecht da. Die Royal Family nimmt
Esther keineswegs mit Gleichmut auf, sie unterstützt das Werk offen, und ohnehin bringt Queen Carolines Opposition Gibson
an den Rand des Rücktritts als Bishop of London,
Wie auch immer, in Esther sind Kirche und Staat vereint,
das muss Gibson gefallen. Durch die zwei Coronation Anthems
von 1727, die Händel hineinpackt, Zadok the Priest mit
geändertem Text, erhält Esther das Gütesiegel der Hannoveranisierung.
Suggerieren die Anthems nicht, Assuerus repräsentiere
George II. und Esther Queen Caroline, damit auf sie ein günstiges
Licht fällt? Aber die Deutung verhält nicht, sobald es um die Verschiedenheit in Nationalität und Religion geht, denn George II.
und Caroline haben denselben Glauben.
Dazu ist Hamans Bösartigkeit und Bestrafung so
alttestamentarisch, dass nicht mal Furnese damit Walpole
anschwärzt. Bei den protestantischen Royals
besteht keine Notwendigkeit für Esthers Ersuchen beim König.
Und wenn Furnese ins Auge fasst, dass die Juden
in Esther eine nonkonformistische Minderheit sind, die Engländer
sind es nicht. Gegen sie wird kein Dekret erlassen.
Nochmal sagt Furnese: „Nein, Walpole kennt Esther nicht.”
In der Art einer Krönungsmesse
La Francesina dreht sich am Schminktisch um. „Walpole?”
sagt sie. „Was macht euch so sicher?” Furnese sieht sie an, La Francesina sieht ihn an, sie sehen beide sich an. Händels Aufführungen im King’s Theatre Haymarket sind populär gewesen.
Teil ihres Erfolgs ist der Umstand, dass das englische
Musikdrama aktuell auf Interesse stösst.
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite, bei der
Arne Family, hat die spätere Susanna Cibber im Little Theatre Haymarket enormen Zulauf. Händel reagiert auf den
Trend mit Esther und Acis and Galatea, beide Wiederaufnahmen stehen 1732 am Ende der aussergewöhnlichen, dreijährigen
Aktivität um die englische Masque, ein praktisch neues Feld, das
in England tätige Komponisten deutscher Abstammung
sich eröffnet haben.
Die Masque ist eine Oper, nur nicht in der Länge. Aber mit
dem Oratorio verhält es sich anders. Als Heidegger die
Anzeige für Esther aufgibt, fügt er dem Text für The Daily Journal
vorsichtshalber ein PS hinzu:
Auf Verlangen Ihrer Majestät. Im King’s Theatre
in Haymarket wird die biblische Geschichte von Esther aufgeführt,
einem Oratorio in Englisch, von Mr. Händel komponiert
und jetzt überarbeitet, mit mehreren Ergänzungen, aufgeführt
durch eine grosse Anzahl Stimmen und Instrumente.
PS. Es gibt keine Action auf der Bühne, das Haus wird aber
für das Publikum chic hergerichtet. Die Musick wird in der
Art eines Coronation Anthem gegeben. Tickets sind im Office des
Opera House zu den üblichen Preisen erhältlich.
Er kennt Esther nicht
„Nein, Walpole kennt Esther nicht”, sagt Furnese und
schüttelt den Kopf. „Da bin ich mir sicher.” Es ist (nicht anders
als bei Acis and Galatea) bei Esther eine unautorisierte
Aufführung, die Händel zur Wiederaufnahme zwingt, und die Wiederaufnahme wird ein Geschäft.
Viertausend Pfund soll Händel mit der Produktion verdient
und nach der dritten Nacht für siebenhundert Pfund
South Sea Aktien gekauft haben, und das obwohl die Aufführung
ohne Dekoration sofort auf Kritik stösst.
In See and Seem Blind beschreibt der Pamphletist, dem
eine gute Oper lieber ist als zwanzig Oratorios, die neue Gattung:
Das ist ein neues Ding um die Welt verrückt zu machen.
Ich ging zu dem Oratorio, wo ich in der Tat die feinste Versammlung von Leuten antraf, die ich in meinem Leben je zu Gesicht
bekam, aber das biblische Drama erwies sich zu meiner grossen Überraschung als blosses Konzert ohne Bühnenbild,
Kostüm, Action, die für ein Drama so wichtig sind.
Er (gemeint ist Händel) war in einer Kanzel platziert (ich
vermute, sie nennen das ihr Oratorio), neben ihm sassen Senesino,
Strada, Bertolli und Turner-Robinson in ihren eigenen Kleidern,
vor ihm standen verschiedene, wohlklingende Sänger
dieses armen Israel, und Strada gab uns ein Hallelujah in
halbstündiger Länge.
Senesino und Bertolli hatten mit der englischen Aussprache
solche Mühe, dass ihr hättet schwören mögen, es sei
Welsch gewesen. Ich hätte es mir auf Italienisch gewünscht, sie
hätten mit mehr Leichtigkeit gesungen, umso mehr als
es, was das Englische angeht, auch Hebräisch hätte sein können.
„Da bin ich mir absolut sicher”, sagt Furnese. Und La
Francesina sagt: „Und was macht euch so sicher?” In ihren eigenen Kleidern, in their habits, in Strassenanzügen, in Roben, so
haben die Solisten 1732 gesungen, ohne Kostüme, die für ihre
Rollen geschneidert oder aus dem Fundus geholt wurden,
ohne Action auf der Bühne.
Aber, denkt La Francesina, was heisst in ihren eigenen
Kleidern, wenn ein Coronation Anthem gegeben
wird, eine Krönungsmesse? wenn Senesino auftritt, der mit
Farinelli bühnenwirksam in einem Fernduell steht?
Wo ist er? bei der Maitresse?
„Ich nehme an, ihr kennt Horace Walpole, seinen Sohn?”
sagt Furnese. La Francesina lächelt darüber und verbirgt es nicht.
„Nur von Kitty Clive”, sagt sie. „Kitty hat mir erzählt,
Horace Walpole müsste jetzt in Rom angekommen sein,
auf seiner Grand tour.”
Furnese schaut etwas säuerlich und sagt: „Dann kennt
ihr auch die Geschichte, die Horace Walpole von seiner Mutter
erzählt. Lady Walpole führt ein Haus mit noblen Bildern
und Gärten, Walpoles Haus befindet sich beim Royal Hospital
in Kensington.“
„Eines Tages lädt Lady Walpole zu einer Party gleichzeitig
Cuzzoni und Faustina ein, die zwei Sopranos im ewigen
Clinch. In ihrem Dilemma bittet sie Faustina unter dem Vorwand,
ihr das schöne Chinaporzellan zeigen zu wollen, in einen
entfernteren Teil des Hauses.“
„In ihrer Abwesenheit bekommt die Gesellschaft eine Arie
von Cuzzoni zu hören, die glaubt, ihre Rivalin hätte das
Feld geräumt. Ebenso verfährt Lady Walpole mit Cuzzoni, und
so kommt die Gesellschaft in den Genuss einer Arie
von Faustina.“
„Ich hab die Geschichte mehrmals gehört, aber Horace
Walpole beginnt sie jedes Mal mit dem Satz: Es war
an einem der Sonntage, wenn Sir Robert Walpole abwesend
war. Und ich hab mich immer gefragt: Wo ist Walpole
an jenem Sonntag? bei seiner Maitresse?”
Er hat sie aber geheiratet
La Francesina sagt: „Er hat sie aber doch geheiratet.”
Mit ausholender Geste sagt Furnese: „Ihr kennt The Beggar’s
Opera, und ihr kennt Captain Macheath und das
Liebesdreieck, das der Highwayman mit Polly Peachum
und Lucy Lockit unterhält.“
„Und von Mrs. Clive wisst ihr mit Sicherheit auch, dass mit
dem Liebesdreieck Händel mit Cuzzoni und Faustina gemeint ist.
Oder Walpole mit Ehefrau und Maitresse.”
Walpoles Maitresse? The Beggar’s Opera? überlegt
La Francesina und sagt: „Er hat sie aber doch geheiratet.” „Maria
Skerritt, seine Maitresse?” erwidert Furnese. „Er heiratet
sie ein Jahr, nachdem seine Frau gestorben ist. Das ist vorletztes
Jahr gewesen. Es gibt eine uneheliche Tochter, Maria.
Sie stirbt drei Monate, nachdem sie heiraten.”
Nach einer Pause sagt Furnese: „Walpole hat sich selbst
bereichert, als die Aktien in der South Sea Bubble verrückt spielen.” Furnese hat das nicht im mindesten verwundert. Die Südseeseifenblase platzt, andere verlieren alles. Und Walpole?
Sein Banker rät ihm zu verkaufen, was Walpole mit tausendprozentigem Gewinn denn auch tut. Furnese sagt: „Walpole
hat die Tabak- und Weinsteuer eingeführt. Und als er auch
noch die Steuer auf Gin erhöht, kommt es in London zu Krawallen.”
Das mit dem Gin, das erwähnt Furnese stets besonders gern.
Es ist 1736 gewesen. Und jeder weiss sogleich, wovon
Furnese spricht. Gin Lane nennt William Hogarth sein Bild der Endverbraucher in einem Druck, es ist Hogarths
Saufszene mit einer Mutter, die so verladen ist, dass ihr
das Kind auf die Strasse fällt.
Und erst das Theater! denkt Furnese. Walpole macht aus
dem Theater einen regulierten Markt, Swift, Pope und Fielding opponieren erfolglos. Es ist der grösste Eingriff ins Theater
zu Händels Lebzeiten, aber er berührt Händel nicht.
Der Eingriff hat zur Folge, dass alle Theater in London
schliessen, zwei patentierte Häuser und die Oper ausgenommen.
Der Eingriff hat zur Folge, dass alle Stücke und Opern
der Zensur unterstellt werden, aber Händels Libretti gehen alle durch.
Händel, in solche Nähe gerückt, ist sauer
Furnese sagt: „Als nächstes lizenziert Walpole die Theater.
Den Licensing Act bringt er im Parlament 1737 durch. Im selben
Jahr stirbt Lady Walpole, eine geborene Catherine Shorter.
Fünf Kinder gehen aus dieser Ehe hervor, Horace Walpole ist
das zweitjüngste.“
„Walpole hat seine Frau 1700 geheiratet, und mit Maria
Skerritt, seiner Maitresse, zeigt Walpole sich seit 1724
in Gesellschaft in Richmond, Houghton Hall und London.”
Furnese lächelt triumphierend. Er steht mit hängenden
Schultern da. Er sieht La Francesina an. „Na und?”
sagt sie. „Jeder Idiot erkennt sich heute in The Beggar’s Opera
wieder. Von Theo Cibber wird gesagt, er sehe sich und
Sloper seit Jahren als Polly und Lucy. Nur weigere seine Ehefrau
sich als Captain Macheath aufzutreten.”
„Liiert mit dem Sohn von Sloper, Walpoles Freund”
sagt Furnese. Er weiss, einmal, in die Nähe von Walpole gerückt,
reagiert Händel sauer. Er hat die Karikatur, die ihn mit
Cuzzoni und Faustina dem Spott preisgibt, noch mit stoischer
Miene ertragen.
Aber 1733, als er bei erhöhten Eintrittspreisen Deborah
herausbringt, bringt Walpole gerade die Mehrwertsteuer
durch, worauf The Craftsman, das Blatt der Walpole-Gegner,
Händel auf einmal mit Walpole vorführt.
Walpole sagt zu Händel: „Warum tun wir uns nicht
zusammen und kassieren die ganze Nation ab?” Händel: „Si, caro,
si. Was taugen Schafe, wenn der Schäfer sie nicht schert,
ich am Haymarket, ihr in Westminster.”
Walpole: „Hört ihn an.” Ihre Sekundanten werden
herbeigeordert, einer bekannt für seine Moral,
der andere für sein Gesicht. Halb haben sie Erfolg, halb scheitern sie.
Die Steuer bringen sie durch, die arme Deborah geht unter.
Was hat das mit Esther zu tun?
La Francesina sagt: “Aber was hat das alles mit Esther
zu tun?” Fast zwanzig Mal hat Händel Esther seit 1732 gegeben,
jedes Mal anders, auch die Art der Präsentation verändert
sich, die Anzeige in The London Daily Post erwähnt bei einer Wiederaufnahme von Esther 1735 two new concerto’s
on the organ.
Und Mary Pendarves schreibt an ihre Mutter:
Händel spielt erstmals in den Pausen zwei Kompositionen,
und nichts übertrifft sein Spiel auf der Orgel, wo er
Teil zweier Concertos ist, die zum Feinsten gehören, was ich
meiner Lebtag gehört hab.
„Was das mit Esther zu tun hat? Nichts”, sagt Furnese.
Er weiss, überlaufen ist Esther auch 1735 nicht. Das Wochenblatt
The Old Whig schüttet über Händel sein Mitleid aus,
ein Anonymous fühlt sich bemüssigt zu mitzuteilen:
Kürzlich nahm er (gemeint ist Händel) sein Oratorio Esther
wieder auf, in das er zwei Concertos auf der Orgel einfügt, die unnachahmlich sind. Aber die Ablehnung ihm gegenüber
ist so gross, dass ihm auch das kein dichtgedrängtes Publikum einbringt, obwohl es andere öffentliche Entertainments
nicht gab an diesen Abenden.
„Ihr fragt”, sagt Mr. Furnese, „was das mit Esther zu tun hat?
Nichts. Das hat nichts mit Esther zu tun. Und deshalb sage ich:
Walpole kennt Esther nicht.”
La Francesina schüttelt verwundert den Kopf. Sie sagt:
„Walpole braucht kein Ohr für Musik zu haben. Es reicht doch völlig, wenn er die Royals gelegentlich mal ins Theater begleitet.”
Aber Furnese winkt entschlossen ab. “Walpole? Er hat es mit
George II. verdorben. Er bleibt nicht mehr lange an der
Macht. Dafür werde ich sorgen.”
Furnese reibt sich begeistert die Hände. „Dann wird Walpole
Zeit haben, sich Esther und den Auftritt von euch anzuhören.
Ich verspreche euch, Walpole und seiner Maitresse die Karten
dazu persönlich schicken zu lassen.”
Walpole? Er ist ein Politiker!
„Und wenn er Esther zufälligerweise längst gehört hat?”
fragt La Francesina. Sie weiss gar nicht, warum sie Furnese widersprechen muss, aber sie muss ihm widersprechen.
Weil sie La Francesina ist, nicht Britannia? Weil für sie Esther
zu komplex ist?
Allein das Libretto zu Esther hat mehrere Väter. Der englische
Text ist durch einige Hände gegangen, auch durch die
Hände von Pope. Ihm schreibt Viscount Percival den Text zu,
am 23. Februar 1732 in einem Eintrag in seinem Tagebuch.
Dasselbe tut im April auch die Zeitungsanzeige für die
unautorisierte Aufführung, die im Great Room in Villiers Street
Yorck Buildings gegeben wird. Furnese sagt: „Walpole?
Walpole hat Esther gehört? Unmöglich.”
La Francesina sagt: „Walpole? Er ist ein Politiker! Am liebsten
sieht ein Politiker, wenn er in die Oper kommt, sich selbst.
Dass er auf der Bühne zum Greuel gemacht wird, stört ihn nicht
im mindesten. Das sage ich euch als Performerin.”
Furnese blickt entrückt. Er ist ein Politiker, er ist Mitglied
des Parlaments, aber an sich hat er zuletzt gedacht. Er denkt an Walpole. Pope ruft Walpole nach: Never made a friend
in private life, and was, besides, a tyrant to his wife.
Pope bestreitet die Autorenschaft an Esther nie,
aber später werden Gay, der Autor der Beggar’s Opera, und
Arbuthnot als Autoren genannt, das Libretto wird einer
wechselnden Kombination von Pope, Gay und Arbuthnot
zugeschrieben.
Wer immer es geschrieben hat, die erste Fassung greift
zurück auf Brevetons Esther, or, Faith Triumphant von 1715, und Breveton greift auf Racines Esther von 1689 zurück.
Und was die zweite Fassung angeht, Händels Esther von 1732,
den Text klaubt Humphreys zusammen, ein Walpole-Gegner,
der später Sacred Books of the Old and New Testament veröffentlicht, an sich ein braves Werk, das sich an zwei, drei Stellen
aber wie eine Regieanweisung zu Esther liest.
Dann will ich keiner sein
„Er ist ein Politiker. Walpole! Das sagt ihr mir?” sagt Furnese.
Und La Francesina: „Warum nicht?” Furnese: „Wenn Walpole ein Politiker ist, dann will ich keiner sein.” Esther, denkt La
Francesina, ist Patchwork. Die Musik. Das Libretto. Patchwork.
Aber Händel stellt die Musik aus seinem eigenen Tank
zusammen. Er folgt der von ihm häufig gehandhabten Praxis und bedient sich aus dem Reservoir seiner Motive.
Ungewöhnlich nur, er ändert Esther für jede neue Aufführung.
Zwei gleiche Wiederaufführungen gibt es bei Händel
nicht. Auch das Geschäft des Zitierens und Entleihens handhabt
er bei Esther von Anfang an extrem.
Die Musik des halben Oratorios entlehnt er mehr oder
minder aus anderen Werken, neun Nummern – zwei Chöre, ein
Duett, sechs Soli – allein aus Brockes Passion. Oder
ist es umgekehrt? Bedient Händel sich für Brockes Passsion,
da beide Werke zeitgleich entstehen, aus Esther?
Ihm ist ganz heiss geworden
„Ihr schmollt doch nicht etwa?”, sagt La Francesina. Sie kniet
vor Furnese hin, lächelt und schaut zu ihm auf. „Kommt
her, ich muss euch küssen.” Sie weiss, Furnese liebt das, er liebt
es, wenn La Francesina im Korsett dakniet, wie sie das
augenblicklich tut.
Er liebt das Herausschälen, er hat das stets geliebt, das Verführtwerden, als kleiner Junge schon hatte er sich im Green
Room verführen lassen durch die Seidenstrümpfe
und die weissen Busen der jungen Schauspielerinnen.
Und das war lange, bevor er sich der Musik zugewandt hatte,
aber nie hätte er sich träumen lassen, in den Armen
eines Sopranos zu landen. Und als er seine Hand auf ihre weisse
Brust legt, zieht La Francesina ihn zu sich auf den Teppich
herab und ihre Münder treffen sich und sie versinken ineinander.
Esther besteht aus Rezitativen, Accompagnati, Ariosi
und Da-Capo-Arias im Stil der Oper, das heisst im italienischen Stil, dazu kommen Chöre, neun, wenn La Francesina die
Wiederholungen mitzählt, die Chöre sind das Volk, das weiss
La Francesina, aber jetzt, wo Furnese ganz heiss
geworden ist, denkt sie, besser lassen wir das Volk mal draussen.
Er schiebt sich in sie hinein
„Sollen wir?”, fragt Furnese. Er flüstert, er atmet rasch.
„Warum nicht?”, sagt La Francesina. „Hier?” fragt Furnese.
La Francesina sagt: „Küssen heisst in Frankreich auch
miteinander schlafen, das ist in Frankreich ein Gottesdienst.”
Dabei öffnet La Francesina seine Hose und wischt mit
entschlossener Handbewegung alles weg, was Volk und Chor
angeht. Sie schläft schon lange mit Furnese, ihrem
Politiker. Es ist die Krönung. Hat Händel das nicht mal gesagt?
Der letzte der Chöre ist The Lord our enemy has stain,
Händel gestaltet ihn in ausgedehnter Komposition im Stil eines englischen Anthem mit Chorrefrains, sie umrahmen
die Passagen der Solisten.
In den übrigen sechs Chören bedient er sich breiter
musikalischer Vielfalt, sie reicht vom italienischen Siciliano
Ye Sons of Israel bis hin zur kunstvollen Fuge in Virtue,
mourn, and innocence. Est-ce que c’est la tradition allemande?
fragt La Francesina sich stets und findet nie eine Antwort.
Die Entlehnungspraxis ist wie bei Händel üblich vielgestaltig.
Zuletzt, denkt Furnese, gibt es Tränen, Freudentränen.
Sie sacken verschlungen zu Boden. Der arme Irrende sucht
nach dem Mittelpunkt der Welt, La Francesina fasst mit
der Hand nach dem Glied, schiebt es zwischen ihre Beine und
hat dieses kleine, kurze Gefühl der Komplettheit, das der
Koitus ihr bereitet.
Jetzt ist er drin, denkt La Francesina. Furnese hält einen
Augenblick inne. „Eure Tränen”, hechelt er. „Eure Tränen
fallen vom Himmel.” Dann schiebt er sich heftig und kurz in La
Francesina hinein und überstürzt sich auch schon.
Erstaunt liegt sie unter Furnese, in ihrem Kopf dreht der Gedankenapparat weiter.
Tränen, die vom Himmel fallen. Die Pizzicato-Begleitfigur
und der Beginn der Melodie von Tune your harps ähneln
sehr der Ritornellfigur und der Basslinie der Arie Tränen, die vom Himmel fallen. Aber von wo ist die nur gleich wieder mal?
Ach ja, da hat sie es, wippt La Francesina. „Oh”,
zuckt Furnese nochmal auf, dann fällt er zusammen, und
mütterlich streift La Francesina dem Verehrer über
den Kopf. Genau, das ist es. Die Arie ist aus Keisers Der gestürzte
und wieder erhöhte Nebukadnezzar.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück