Passagiere des Glücks   weiter   zurück



ELFTER SEPTEMBER 2001


Unheimlich. Die Stille. Was jetzt noch bleibt,

nennen sie Ground Zero: Schuttberge, Leichen, ein bizarr aus dem Trümmerfeld aufragendes

Towerskelett. War’s das? Schluss mit lustig? Satire, Ironie, Frivolität am Ende?



               Fritz Hirzel, Passagiere des Glücks. Wem Lachen auf

               die Sprünge hilft. Essay. 140 Seiten. Berlin 2004


„Sie standen da oben“, sagt James Wang, 21, Fotostudent.

„Und sie sprangen. Eine Frau. Ihr Kleid war aufgeblasen.” Er macht

an jenem Morgen beim World Trade Center Schnappschüsse

von Leuten, die in einem nahegelegenen Park Tai Chi praktizieren,

sieht auf und erblickt die Leute hoch oben am North Tower.

      Sie sehen aus wie winzige Figurinen, und er weiss nicht,

ob sie drauf warten gerettet zu werden oder bloss hinausschauen.

Sie springen aus dem 85. Stockwerk, schwarzer Rauch

ist zu sehen, ein Passagierflugzeug hat den North Tower getroffen.

      James Wang ist einer der zwanzig Augenzeugen, die

N. R. Kleinfield zu den Terroranschlägen des 11. September 2001

in der New York Times zitiert. Buildings Burn and Fall

as Onlookers Search for Elusive Safety ist der Bericht anderntags überschrieben, Hochhäuser brennen und stürzen ein,

vergeblich suchen Zuschauer nach Sicherheit.

      Ist das der Moment, aus dem das Lachen verbannt wird?

„Der 11. September hat abrupt und dramatisch unsere Welt für

immer verändert.” So schreibt Moira Smith im Journal

of American Folklore, aber stimmt das auch? Hat sich unser

Umgang mit Lachen und Witz verändert?


Sie denkt, es ist eine Marketing-Kampagne  

Smith ist Bibliothekarin für Gender Studies der Indiana University,

mit ihrer „changed forever”-Feststellung beginnt sie

in der Sommer/Herbst-Ausgabe 2002 die Besprechung eines

Buches, das bereits 1999 veröffentlicht worden ist.

      Es heisst Twin Towers. The Life of New York City’s

World Trade Center, veröffentlicht hat es im Universitätsverlag

ein Professor für American Studies der Rutgers University,

A. K. Gillespie.

      Jetzt ist draus ein Bestseller geworden. Er zeigt

Sicherheitsbedienstete, Börsenhändler, Fensterputzer, Touristen, Barleute: „Ungefähr vier Uhr morgens beginnen die

Liefertrucks anzukommen mit Frisch-Food und Blumen und Eis

und all den andern Dingen, die für einen weiteren Tag

gebraucht werden. Der Zyklus wiederholt sich längst selbst.”

      Bis – wir kehren zum Bericht der Augenzeugen in der

New York Times zurück – Lisle Taylor, 26, Personalerin bei

Goldman Sachs, aus einer nahegelegenen U-Bahn-Station

kommt und hunderte von Papierschnipseln in der Luft sieht. Sie

denkt, es ist eine Marketing Kampagne. Dann schaut sie auf

und sieht den Büroturm in sich zusammenkrachen. „Eine Frau griff

nach meiner Hand”, sagt sie. „Sie sprach Gebete.”

      Horror, Ungläubigkeit, Panik kennzeichnen das Bild, Alarm, Hysterie, Schock. Überall Angst, Schreien, Weinen, Ausflippen, Schreckensstarre. Von Albtraum, Krieg, Atombombe reden die Augenzeugen in der New York Times, von Fata Morgana,

als die Trümmerwolke sich lichtet und die Zwillingstürme weg sind.

      Unheimlich. Die Stille. Was jetzt noch bleibt, nennen sie

Ground Zero: Schuttberge, Leichen, ein bizarr aus dem Trümmerfeld aufragendes Towerskelett. War’s das? Schluss mit lustig?

Satire, Ironie, Frivolität am Ende?


Ein schlechter Jerry Bruckheimer Film  

Im Gegenteil. Holy Fucking Shit. Attack On America

titelt das Satire-Magazin The Onion, das sich nach einer Pause

am 26. September wieder zu Wort meldet. Eine der

Geschichten heisst: American Life Turns Into Bad Jerry Bruckheimer Movie. Das amerikanische Leben sehe aus wie ein

schlechter, von Jerry Bruckheimer produzierter

Action/Katastrophenfilm, hätten schockierte Mitbürger berichtet.

      „Terroristische Entführungen, explodierende Hochhäuser,

tausende von sterbenden Leuten – das sind alles Dinge, die ich gewohnt bin zu sehen”, sagt Dan Monahan, 32, der die

Zerstörung der Zwillingstürme vom Fenster seines zweigeschossigen Apartments in Park Slope, Brooklin aus erlebt.

      „Ich hab alles – wir alle haben das – zuvor am TV und in

Filmen gesehen.” Albern und eskapistisch ist ihm das in Filmen wie Armageddon vorgekommen. „Doch das hier, das hat nicht

mal Szenen, wo Bruce Willis den Planeten rettet und einen witzigen Spruch klopft, wenn er den Bösewicht in die Luft jagt.”

      Das ist schon mal ein Fingerzeig. Lachen ist ein wirksames

Mittel mit Schrecken umzugehen. Ist das, wenn Medien und Realität verwechselt werden, Realsatire? Oder doch Satire? Meinen Fernsehzuschauer angesichts solcher Live-Bilder nicht im ersten Augenblick, es handle sich um Kino-Horror?

      Auf der nordöstlichen Plaza war King Kong in einem Remake

1976 zutode gekommen, die Zwillingstürme hatten das Empire State Building des Klassikers von 1933 ersetzt.


Sie nennen ihn Taliban  

Aus der Verunsicherung haben Teenager am schnellsten

ironische Funken geschlagen. Sie reagieren auf die Erfahrung

der Terroranschläge, indem sie Blüten des Wortkatalogs

als Umgangssprachwitz verwenden.

      Ihre Attitüden gleichen sich in den USA und in Europa

– bei aller Kontroverse, die der Irakkrieg ausgelöst hat. In einem

Bus, Sommer 2003 in Bern, sagt ein Mädchen zum

Begleiter, als ihr Handy nicht funktioniert: „Shit, schon wieder

dieser Bruder von Bin Laden – Akku Laden!”

      Ausdrücke eines „Sept. 11 Slangs” hatte Mitte März 2002

Emily Wax in der Washington Post vorgestellt: Bei Teenagern steht Ground Zero für totale Unordnung im Schlafzimmer, einen

Fiesling von Lehrer bezeichnen sie als „such a terrorist”, und für alles mit abgelaufenem Verfallsdatum gilt „that’s so Sept. 10”.

      „Es sind gerade einmal sechs Monate seit dem 11. September”,

kommentiert Emily Wax, „aber das ist Zeit genug, um das

Vokabular eines der erschreckendsten Tage des Landes zum Slang werden zu lassen für Teenager jeden Hintergrunds, zur

komischen Erleichterung in Schulkorridoren und Freizeittreffs.”

      Dann zitiert sie Najwa Awad, einen

palästinensisch-amerikanischen Studenten an der J. E. B.

Stuart High School in Fairfax County, die als eine

der ethnisch diversesten Schulen des Landes gilt. Najwa Awad

sagt, wenn einer sonderbar sei, könnten die Leute ihn

„Taliban” nennen oder fragen, ob er Anthrax habe.

      Und er sagt auch: „Der 11. September war ein solcher Stress,

da ist’s okay ein wenig herumzuwitzeln. Es ist lustig.”


Er sagt, er ist im Büro  

Hier ist er wieder, als gelebter Alltag. Der Zugriff auf die

Welt, der satirisch, der ironisch erfolgt: „It’s funny.”

Das ist schon einladend nah dran an dem Nenner, auf den es

die totgesagte Spassgesellschaft gebracht hat.

Die aber aufersteht, wie es aussieht, auf vielseitigen

Wunsch. Und mit ihr der Thrill um „fun”.

      Die Frivolität lässt nicht lange auf sich warten. Dass sie

präsent, aber nicht taktvoll sein muss, belegt der Witz, den Vince

Ende November 2001 in der Newsgroup rec.org.mensa

zum besten gibt:

      Geht ein Typ von zu Hause am 11. September etwa sechs

Uhr morgens zur Arbeit in sein Büro im World Trade Center

(103. Stockwerk). Als er nach Manhattan kommt, beschliesst er den Morgen stattdessen mit seiner Freundin in ihrem Apartment

im Village zu verbringen. Bei ihr angekommen, stellt er Telefon,

Radio und TV ab und verbringt mit ihr den ganzen

Morgen beim Sex im Bett.

      Ungefähr elf Uhr morgens, noch immer in ihrem Apartment,

stellt er sein Handy wieder an um die Meldungen zu erwidern. Eine Sekunde später läutet es. Seine Frau ist am Telefon und

schreit auf ihn ein: „Wo zum Teufel bist du? Ich hab dich seit mehr

als zwei Stunden zu erreichen versucht. Ich hab

mir so wahnsinnig Sorgen um dich gemacht. Bist du okay!!?”

      Ahnungslos antwortet er: „Wo zum Teufel denkst du,

dass ich bin? Ich bin meinem Büro!!!”

      Der Witz, ein typischer Männerwitz, lästert gegen die

Feierlichkeit der bekundeten Trauer, als sei sie dem Erzähler unerträglich. Er nimmt den Ort der Katastrophe als

Schauplatz der Pointe.


Heilige vorn, Sünder hinten  

Das erinnert an die sarkastische Formulierung, die der

Fluggesellschaft einer entführten Passagiermaschine als neue Punchline zugedacht wird: „American Airline fliegt Sie

direkt in Ihr Büro!”

      Aber der Witz verstimmt. Nicht einmal sosehr, weil er mit

dem Typen liebäugelt, von dem er handelt. Das tun die meisten

solcher Witze. Nein. Er ist einfach zu nah dran bei denen,

die für Scherze tabu sind. Das sind die Opfer.

      Trotzdem (und das zeigt das Desaster): Es gibt den Moment,

aus dem das Lachen verbannt wird – unpassend, gefühllos,

daneben! Aber richtig ist auch, dass der Witz zurückkehrt. In

Sekunden, Tagen, Monaten. Und dass er helfen kann, mit der Katastrophe umzugehen. Er ist ein Schritt in die Normalität zurück.

      Für Humor gibt es keine Berührungsängste. Nicht mal

für Ehemänner mit Büro im World Trade Center. Nicht mal für Fluggesellschaften. Aber auch Humor braucht manchmal

etwas Zeit.

      Ein verlässlicher Indikator ist die US-Fluggesellschaft

Southwest. Es hat ein wenig gedauert, bis ihre Flight Attendants

wieder beginnen die Passagiere an Bord zu amüsieren,

wie sie’s vor dem 11. September 2001 getan haben.

      „Okay, Leute, ihr habt freie Sitzwahl, genau wie in der Kirche

– Heilige vorn, Sünder hinten”, sagt Yvonne LeMaster

ins Mikrophon des Flight Attendants. Lachende Passagiere stehen entlang der Rampe hinter dem Cockpit und der winzigen

Bordküche Schlange.

      „Denkt dran, das ist kein Möbelladen, ihr habt diesen Sitz

nur für eine Stunde gemietet.” Dies sei, schreibt Ende Januar 2003

das Wall Street Journal, Yvonne LeMasters „shtick”

– ein jidisches Wort, heisst “Stück”, „Stückl” oder eben

Unterhaltungsnummer.

      Sie markiert beim Flug 639 von Baltimore/Washington

International Airport nach Cleveland „einen kleinen Meilenstein”.

Sowas verdient festgehalten zu werden: „Southwests

Flight Attendants, berühmt für ihre luftgeborenen Stand-up-Auftritte, reissen wieder Witze.”

      Die Verführung zum Lachen! Wo sie gelingt, ist das

Eis gebrochen. Die Stimmung lockert auf, Passagiere plaudern miteinander.

      Während der Cleveland Flug sich im Schrittempo zur

Startbahn bewegt, heisst Yvonne LeMaster, 38, die Passagiere willkommen im „Boeing Club” und stellt ihre Kollegen

als Flight Attendants vor als ihren „früheren Mann und seine

neue Freundin”.

      Bevor sie vor vier Jahren als Stewardess zu Southwest

kommt, ist sie mit Abenteuerreisen beschäftigt. Als der Cleveland

Flug noch immer gemächlich der Startbahn entgegenhottert,

sagt sie: „So halten wir die Flugpreise tief. Wir fahren den halben

Weg, fliegen den Rest.”

      Am Ende des Flugs ist Yvonne LeMaster zurück und

bereitet auf die Landung vor. Sie sagt, es sitze da vorn ein

besonderer Gast. Die Leute schauen auf. „Es ist sein

80. Geburtstag heute und das ist sein erster Flug. Lasst uns ihn

alle mit einem Beifallsssturm hochleben.”

      Das tun sie, kräftig. „Ihr wisst, noch netter wär’s, ihr steckt

auf dem Weg nach draussen euren Kopf ins Cockpit und wünscht unserem Piloten viel Glück zum Geburtstag.” Es gibt Heuler,

einige klatschen sogar.

      Das hatte der Terror verändert. Es folgte ein Stopp.

Ein Lachstopp. Humor war abgesagt an Bord. Es brauchte nicht

mal die Memos, die an die Mitarbeiter ergingen.

      „Es ist offensichtlich, dass der übliche Southwest Humor

in unserem Leben vorübergehend eine kleinere Rolle spielen sollte.”

So hatte sich am 18. September 2001 das Hauptquartier

in Dallas vernehmen lassen.

      Aber dort begannen im Frühling 2002 Briefe einzutreffen,

Briefe von Passagieren, die die Jokes vermissten. Eine Weile hat

es dann immer noch gedauert. Erst an Thanksgiving, das 2002

auf den 28. November fällt, hat Southwest seine Luftlachnummer wieder.


Es tönt wie Osama bin Laden  

Für eine bestimmte Lage, in der uns plötzlich nicht mehr

zum Spotten, zu leichtfertigen Reden zumute ist, kennen wir

die Redewendung: Das Lachen ist uns vergangen.

      Das ist es, was am 11. September geschah. Angesichts des

Desasters fand 2001 in den USA eine örtliche Betäubung statt,

durch die das Lachen ausgeschaltet war.

      Das wirft die Frage auf: Gibt’s etwas, das Lachen verhindert?

Eine Art von Notbremse? Etwas, das Lachen bannt?

Einen Lachstopp? Es gibt ein Lachverbot. Das wird verordnet,

das ist nicht dasselbe. Aber gibt’s auch etwas, das

von alleine lachimmun macht?

      Im Augenblick der Panik ist, nehmen wir die in der New York

Times zitierten Augenzeugen, nicht gelacht worden.

Auch nicht mal ein übergeschnapptes Lachen ist erwähnt.

Als aber dieser Augenblick einer Betäubung sich

ausdehnt und nicht mehr weichen will, haben sich irgendwann

Zweifel gemeldet.

      Und nach einiger Zeit sind Satire, Witzelei, Frivolität, Humor zurückgekehrt. Die sind in ihrer Art noch nicht wieder

ganz die alten, aber auch nicht ganz neu. Sie tragen einen

Nachhall der Terroranschläge mit sich fort. Es ist die

alte Routine, die die neue Normalität eingeholt hat, im Cartoon

von Frank Cotham Mitte März 2003 im New Yorker

zum Beispiel.

      Dad liegt mit Basecap im Polstersessel, Füsse

ausgestreckt, auf dem Sofa nebenan der Hund, aufrecht, überlebensgross, verduzt. Den eben abgenommenen

Telefonhörer hält Dad hoch und sagt, während Mom in der

Küche hinter ihm hantiert:

      „Es tönt wie Osama bin Laden, aber es könnte auch

deine Mutter sein.”


Passagiere des Glücks   weiter   zurück

 

11. September 2001