Rike Mohaupt   weiter  zurück



WER WEISS, WOFÜR ES GUT IST



               Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel X


MÜTZE ODER ELCH?“ FRAGT DER VERKÄUFER AUF

dem Weihnachtsmarkt am Alex und Steamboat nimmt den Elch.

„Eine Mütze hab ich schon”, sagt er zu Fabio Calvani,

der neben ihm steht. „Jetzt du.“ Er hat Büchsen geworfen. Er hat

getroffen. Rike Mohaupt steht einen Schritt hinter den

beiden Männern. Warum ist sie plötzlich so betrunken? Sie wärmt

sich die Hände an einer Tasse Glühwein. Fabio holt aus.

Der erste Ball geht daneben. Der zweite auch. Der dritte trifft. Alles

fällt zusammen. „Mütze oder Elch?“ fragt der Verkäufer

und Fabio nimmt die Mütze. Rike reicht Steamboat die Tasse

zum Halten. Sie zieht Fabio die Mütze über. Hübsch sieht

er aus. Im grellen Rummelplatzlicht. Schwarzes Haar. Leuchtende, dunkle Augen. Die Mütze, rotweiss. Steamboat lacht.

Er gibt Rike die Tasse zurück. Er ist der Elch. Sie ist nicht

betrunken. Wirklich nicht. Sie ist mit Elch und Santa

Claus unterwegs. Was will sie mehr? Nein, sie ist mit Fabio und

Steamboat unterwegs, den zwei Galeristen, aber sogleich

fallen ihr die zwei Herren aus Mülheim ein und die Ausstellung

Aufregende Plätze und die Stimmung ist weg. Es hat

aufgehört zu regnen. Sie nehmen Bus 100 Richtung Zoo. Unter

den Linden spiegelt der Asphalt die Weihnachtsbeleuchtung.

Vattenfall. Licht für Berlin. Schöne Bescherung. Den Auftrag der

Strassenbeleuchtung an Vattenfall, fünfzig Millionen Euro

in sieben Jahren, hat ein Gericht wegen Mauscheleien kassiert.

Im Oberdeck sagt Steamboat: „Wisst ihr, was mir passiert

ist, als ich mit Amtrak von Washington nach New York fahre im

November?” Er hält sie beide umarmt. „Hinter mir sitzt

eine zierliche, junge Frau, die ihren Platznachbarn so laut in ein

Gespräch verwickelt, dass ich das allermeiste mitbekomme.

Sie sieht aus wie zwanzig, ist in der Army und soll bald

für ein Jahr in den Irak verlegt werden. Sie trifft sich in New York

mit einigen ihrer Einheit um ein paar Tage in der Stadt

zu verbringen, bevor es nach Fort Dix geht und dann in den Irak.

Als der Zug sich Penn Station nähert, fragt ihr Platznachbar,

wo sie sich mit ihren Freunden trifft, und sie sagt, ihr Sergeant holt

sie am Bahnhof ab, weil es in New York nicht sicher ist für

sie allein herumzufahren.” Steamboat ist ein gemütlicher, fülliger,

strohblonder Mittvierziger mit gepflegtem Kurzbart. In dieser

Nacht schlafen sie alle drei in einem Bett, Rike, Fabio

und Steamboat. Sie stellt sich vor, anderntags schneit es, und

es ist still und leise, und es ist Sonntag, 6. Dezember.

Sie muss laufen, denkt sie. Sie muss ein zweites Mal laufen

lernen. Eine dünne, weisse Decke liegt auf der

Putlitzbrücke, die Fahrspur einzelner Autos ist im Profil ihrer

Reifen erkennbar, am Himmel immer neue, im Wind

wirbelnde Flocken, eine setzt sich ihr auf die Stirn, als sie den

vereinsamten S-Bahnhof Westhafen passiert, so hat sie

sich das vorgestellt. Aber es regnet. Ein trüber Himmel. Sechs

Grad Celsius. Es ist zwölf Uhr mittags. Die Bäume sind

ohne Blätter, es ist alles so durchsichtig geworden. Es hat Pfützen

auf der Fahrbahn, in denen Autos und Autolichter sich

spiegeln. Jeder zehnte Amerikaner ist arbeitslos, jeder zehnte.

Oder jeder fünfte? jeder dritte? Es kommt drauf an,

wohin Rike blickt.. Brooklyn? Manhattan? White middle class?

Afroamerikaner? Es heisst, GM sucht jetzt nach einem

CEO, der für Veränderung steht. Und die Schweinegrippe?

was ist aus der Impfung gegen die Schweinegrippe

geworden? Nach den Risikogruppen wird die Impfung gegen die Schweinegrippe jetzt auch dem Rest angeboten, dem

Rest der Bevölkerung, aber in Germany hat nur jeder Zwanzigste

sich bisher impfen lassen. Rike hat begonnen in der Galerie

die Hände zu waschen, obwohl kaum Besucher da sind. Sie lässt

die Putlitzbrücke hinter sich, kaum Verkehr an diesem

ersten Dezembersonntagmittag, die Berliner sind alle trotz Krise,

scheint es, am Tauentzien beim Shoppen, oder sind das

die Berlin-Touristen? sie läuft vorbei am Denkmal für die ermordeten

Juden, vorbei an der roten Backsteinfassade, an die sich

das Gebäude mit der weissen Fassade anschliesst,

an der Vattenfall angeschrieben steht. Ein Herr Brauns, der bei

Vattenfall ihr Ansprechpartner ist, hat letzte Woche zu ihr

gesagt: „Möglicherweise wird da etwas frei bei uns. Vielleicht

überlegen Sie sich das einmal. Wir sind immer interessiert

an guten Leuten.” Sie ist an die Puschkinallee nach Treptow

gefahren, sie hat Herrn Brauns  aufgesucht in seinem

Büro, wo er sich, Mittvierziger, grauer Anzug, rote Krawatte,

aus dem Drehstuhl erhebt, als die junge Mitarbeiterin,

die Rike am Empfang abgeholt hat, sie hereinführt. „Angenehm.

Brauns, Albert Brauns. Meine Freunde sagen Bert zu mir.”

Und zuletzt, die Mitarbeiterin ist längst wieder weg: „Ich zeige

Ihnen jetzt noch die anderen Verrückten.” Rike hat

anderntags angerufen und ihr Interesse bekundet, aber sie

hat von Herrn Brauns nichts mehr gehört. Sie passiert

die Einfahrt, wo’s zum Westhafen geht. Kreuzfahrtterminal

Westhafen 300 m steht hier neuerdings angeschrieben,

doch einen Luxusliner hat sie am Westhafen noch nicht gesehen. Luxusliner! Sie muss lachen. Stadtsafari! Steamboat war

eines Tages allein ausgerückt, sie hatten sich ernstlich Sorgen

zu machen begonnen, als er anderntags nicht zurück

war, aber dann,  halb vier Uhr nachmittags, hatte er betrunken

auf einem Absatz im Treppenhaus gesessen und den

Hauswart angelabbert. „Sagen Sie, war hier nicht mal ein Aufzug?”

Und Hans Buhlicke, dem das in den falschen Hals

geraten war, hatte ausgerufen. „Warmduscher, wa? Sie müssen

ihren Arsch schon alleene hochschleppen, junger Mann.”



                                   Denunziation einer Ratte. Später

Mittwochvormittag, 4. Februar 1942, Haberlandstrasse 7,

jetzt Nördlingerstrasse 3. August Mohaupt steht im Treppenhaus.

„Und?” sagt er trocken. „Wo geht‘s diesmal hin? Wieder

nach Bayrisch-Gmain?” Er steht mit Claire Waldoff an deren Wohnungstür. Sie nickt. Sie denkt, er ist ein Schnüffler.

Sie sagt: „Zehn Tage nur. Olly ist schon dort.” Er kratzt sich.

Olga von Roeder. Die Lange. Er blickt zu Boden. Claire

Waldoff sagt: „Dann kommt ja der Wintergarten auch schon

wieder.” Er lehnt sich vor. „Meine Frau –” Er sagt das

übertrieben stolz und fast vertraulich. “– meine Frau hat sie gehört.

Aus Paris. Im Wunschkonzert der Wehrmacht.” Claire

Waldoff lächelt gezwungen. Sie ist skeptisch, wenn sie den Mann

betrachtet, den Hauswart August Mohaupt. Sie hat ihm zu

Weihnachten ein grosses Trinkgeld gegeben. Hat sie das nicht?

Sie braucht ihm Paris nicht unter die Nase binden. Sie sagt:

„Hier sind die Schlüssel, also – Sie wissen ja, wo Sie mich finden,

wenn etwas sein sollte.” Sie trägt Sakko. Er nimmt die

Wohnungsschlüssel entgegen, die sie hervorgezogen hat. Im

Treppenhaus sind Schritte zu hören, eine Frau kommt

hochgelaufen. Er denkt, das Gesicht kennt er, aber woher nur?

woher? Es ist Hedwig Collin, aber er erinnert sich nicht.

Sie überreicht Claire Waldoff einen Umschlag. Sie sagt, vom Treppenlaufen ausser Atem: “Das ist alles, was ich

gefunden hab.”


Eine Woche später. Er steht bei Claire Waldoff in der

Wohnung. Er hat beim Zoll eine Kiste abgeholt, eine Kiste aus

Paris. Sechs Flaschen Veuve Cliquot. Champagner.

Richtigen Champagner. Er stellt die Kiste bei der Wohnungstür

in den Flur und will schon wieder gehen, aber dann

gewinnt der Schnüffler  in ihm doch die Oberhand, er weiss,

er macht keine Ausnahme, jeder ist im Grunde seines

Herzens ein Schnüffler. Der Kriminalroman ist im Reich ein

Polizeiroman und nicht von ungefähr so beliebt.

Er geht über den Flur, öffnet eine Tür, noch eine, schliesslich

steht er im Arbeitszimmer. Unerledigte Post liegt auf

dem Schreibtisch am Fenster, Brieföffner, Photos, Papiere,

Feldpostkarten, Briefe, Zeitungen. Und Cigaretten.

Muratti. Muratti Privat. Die Stamm-Cigarette. Er steckt eine

Packung ein. Er zieht die Gummihandschuhe an, die er

in der Werkstatt eingesteckt hat. Imgrunde hat er von Anfang

an nicht ausgeschlossen von der sich bietenden

Gelegenheit Gebrauch zu machen. Hier ist er, der Umschlag,

von Hedwig Collin gebracht, die er nicht erkannt hat,

aber er wird enttäuscht. Schreibt die Schauspielerin jetzt ihre

Memoiren? Alte Zeitungsausschnitte. Immer feste

druff! Theater am Nollendorfplatz. Ihm dämmert die Erinnerung

an einen Abend mit Else im Zweiten Rang, aber er hat

Senta Söneland und Richard Senius gesehen, nicht Claire Waldoff

und Karl Gessner. Er liest: Diese beiden geben mit ihrem

Sagen und Singen, mit der herausfordernden Gleichgültigkeit

ihrer immerfort rempelnden Worte und Gesten ein Stück

Berlinischer Heimatkunst, die meinen kritischen Verstand glatt

lahmlegt. Mit Tinte von Hand Datum und Breslauer Zeitung.

Neben dem Umschlag liegen Exemplare der Pariser Zeitung.

August Mohaupt hat es bis Paris nicht geschafft. Er stellt

sich die Stadt vor. Paris ist deutsch. Paris begeistert. Er greift

nach dem Blatt, das aufgeschlagen obenauf liegt. Pariser

Zeitung. Veranstaltungskalender. Samstag, 24. Januar 1942.

Das Hakenkreuz, in ein Mühlenrad gefasst. Die Anzeige

hat den Wortlaut: Die deutsche Arbeitsfront N. S. G. Kraft durch

Freude veranstaltet im Auftrage des Oberkommandos

der Wehrmacht in Paris vom 23. bis 29. Januar 1942, 19.30 Uhr,

im Empire-Theater Claire Waldoff, die „Berliner Type”

mit buntem Programm.


Buntes Programm, sagt August Mohaupt tonlos.

Es stimmt, auf Waldoff reimt sich Zoff, das weiss sie selbst

am besten. Er zupft einen Brief aus dem Stapel, eine

aufs Blatt geworfene Portraitskizze, letzte Worte: War’n toller

Abend. Claire, ick liebe dir! Fritz. San. Of. Rest unleserlich,

vielleicht 2. Kp? 4. Bat? Genau, denkt Mohaupt. Wo ist

die Schauspielerin hingegangen nach der Vorstellung? wo hat

sie gegessen in Paris? und mit wem? Er überfliegt in der

Pariser Zeitung die Anzeigen der Restaurants, Bars, Bierstuben,

mehrere Spalten. El Quirinale. Le Rond-Point. Brasserie

Lorraine. Saint-Moritz. L’Impérial. Chez Mossino. Er hat das

nicht, denkt er. Er hat das nicht gehabt. Le Paddock,

Bar Restaurant. Chiberta. Korniloff. Chez Marius. Dupont.

Gaststätte Victoria, boulevard de la Madeleine,

Kriegs-Winterhilfswerk, Eintopfessen. Koranyi, ungarische

Spezialitäten. Joe’s California Inn, chinesisches

Restaurant. Le Cabaret, Restaurant-Grill. Moskau, ältestes

russisches Restaurant in Paris. Chez Louis, Wiener

Küche, Bier vom Fass. Chez Zeyer, Tout pour plaire, avenue

du Maine. Le Vert galant, quai des orfèvres. A la ville

de Petrograd. Restaurant Barbotte, rue de Dunkerque, gegenüber

Gare du Nord. La source, Bierstube im Studentenviertel,

gepflegte Küche. La potinière, Edel Pariser Restaurant, rue du 4

Septembre. Au Palmier de Lorette, Bierstube, grosse Bar,

rue de Chateaudan. Die haben alles, denkt er. Und sie reden nicht

darüber. Chez Roudy, American-Bar, sein Keller, seine

Küche, seine Cocktails, 31 Rue Richer. Chez Roudy, denkt

August Mohaupt. Eine Bar? Mit Stange, wo er den Fuss

draufstellt? Er fährt mit dem Daumen über den Schnurrbart,

er kriegt weite Augen bei all den Verlockungen. Tabarin,

In unserem Spiegel. Theater Pigalle, Fledermaus. Paradise, Die 24

hübschen Mädel von Montmartre. Czardas, Kabarett,

Attraktionen, Die ganze Nacht geöffnet. Chateau Bagatelle, rue

de Clichy, Das prunkvollste Kabarett von Paris. Leo

Marzane. L’Ecrin, Ausgewähltes Künstlerprogramm, Diners

ab 20 Uhr, Kabarett ab 21 Uhr. Lido, 78 Champs-Elysées,

neue Vorstellung, La Revue de Paris. Geöffnet, denkt er. Die

Beine geöffnet. Er sieht sich im Pariser Nachtleben,

er betritt mit Kameraden das Lido, er ist sofort zuhause. Man

spricht deutsch. Im Foyer Kundschaft der Wehrmacht.

Er fährt mit der Zunge über die Unterlippe. Das ist ein Angebot,

denkt er. Wieso hat er das nicht? Monocle. Chez Rone.

Chateau Caucasien. Le Phosphore, Kabarett. Er war im Ersten

Weltkrieg. Er war Feldwebel. Er hat es bis Paris nicht

geschafft. Er nicht. Die Schauspielerin schon, denkt er. Und

nach der Vorstellung? wo hat sie gegessen? und mit

wem? Er kennt sie nicht, die Damen, er kennt sie nicht, die

angesagten Adressen, er sieht nur, was er sieht.

Chantilly, Neues Kabarettprogramm. Sheherazade. Monica.

Theater Daunon, Tout n’est pas noir. Er blättert. Dicht

vor New York. Das ist die Schlagzeile auf der Frontseite. Deutscher

U-Boot-Erfolg vor der amerikanischen Küste. Achtzehn

Schiffe versenkt. Drei Tage später: Dreissig Schiffe versenkt.

Er glaubt, er ist betrunken. Das wird werden. Berlin,

Paris, New York. Dem Führer gehört die Welt. Es klopft an der

Wohnungstür. Leise ruft eine hohe, männliche Stimme:

„Clairchen, ich bin’s, dein Bernhardchen.” Pause. „Jetzt mach

schon auf, Clairchen.” Lange Pause. „Clairchen, bist du

da?” Sehr lange Pause. „Clairchen, rufst du mich an?” Mohaupt schleicht mit der Pariser Zeitung in der Hand zur

Wohnungstür, hört aber bloss noch die Schritte des Besuchers

treppab. Als er eine Minute später die Wohnung verlässt,

findet er unter dem Türschlitz die Notiz: Bombenidee. Unbedingt besprechen. Liebesgruss. Bernhardchen. Gedrucke Karte.

Dr. Bernhard Gröttrup. Verlagsleiter Auffermann Verlag, Berlin-

Charlottenburg. Die Ratte, denkt Mohaupt. Die war hier

Mieter. Die hat hier das Satireblatt gemacht.


Bernhardchen. Mohaupt schliesst die Wohnungstür bei

Claire Waldoff. Er steht im Treppenhaus. Er steckt die gedruckte

Karte ein. Sie ist das Beweismittel. Dr. Bernhard Gröttrup.

Verlagsleiter Auffermann Verlag, Berlin-Wilmersdorf. Die Ratte.

Treibt sich hier im Haus rum. Infiltriert die zur Truppenbetreuung

abkommandierte Schauspielerin. Bombenidee. Unbedingt

besprechen. Liebesgruss. Bernhardchen. Gegen Ratten hat

Mohaupt immer was gehabt. Gegen Ratten muss ein

Hauswart einschreiten. Bedingungslos. Ratten untergraben.

Ratten stören den Führer beim Endsieg. Ratten haben

einen Namen. Sie heissen Bernhardchen. Ein Rattennest ist das gewesen. Die Ente herausgeben. Mit der Schauspielerin

per Du. Sich hier im Haus rumtreiben. Er verpfeift die Ratte.

Er zeigt sie an. Er bringt sie zur Strecke. „Gnadenlos.”

Mohaupt sagt das zu sich selbst, als er treppab gehend kurz

zurückblickt. „Gnadenlos.” Berlin, Paris, New York.

Das ist die Generallinie. Er kann sie am Siegeszug nicht

länger teilhaben lassen, die Schauspielerin. Auch sie

ist eine Ratte. Auch sie muss ausgerottet werden. Auch Willy

Collin, Dirigent im Theater am Nollendorfplatz, als er,

Mohaupt, August, Feldwebel, im Ersten Weltkrieg im Feld

gestanden hat. Hätte er sie bloss totgeschlagen,

die Ratte, als sie in der Wohnung aufgetaucht ist, an der

Habsburger Strasse! Willy Collin, Immer feste druff!

Er hätte das Geld eingestrichen, er allein. Von Fürich hat

recht. Er räuchert sie aus, die Ratte. Mit Stumpf und

Stiel. Er zeigt sie an. Einen Titel hat er schon. Denunziation

einer Ratte.



                                   Merry Christmas”, sagt Rike Mohaupt.

Sie beendet ein zweistündiges Telefongespräch mit Ireen

Mohaupt, ihrer Mom. Es ist still in Brooklyn, es hat fusshoch

Schnee, denkt Rike Mohaupt. Es ist still in Moabit, aber es hat keinen

Schnee. Sie läuft die Treppe zur Putlitzbrücke hoch, vorbei

an der Stelle, wo´s Ende August gebrannt hatte. Sie ist spät dran,

sie hat am Weihnachtstag mit Fabio Calvani bis Mittag im

Bett gelegen, es ist Nachmittag geworden. Der Schaden an der Putlitzbrücke, denkt Rike, ist behoben, die gesperrte Fahrspur

wieder freigegeben, die Unfallstelle frisch gestrichen. Ein Feuer hatte

die Brücke beschädigt, ein Feuer, so heftig, dass Stahlteile

der Brücke sich verformt hatten, der Unfall hatte sich direkt vor

ihrem Haus abgespielt, Rike war auf die Strasse gelaufen,

ein Lieferwagen, auf der unter der Putlitzbrücke verlaufenden

Quitzowstrasse unterwegs, hatte Feuer gefangen,

es hatte geknallt, der Fahrer hatte unter der Brücke angehalten,

da hatten bereits Flammen aus dem Wagen gelodert,

das Feuer war auf ein zweites Auto übergesprungen, herabtropfende

Kunststoffteile verschmorter Kabel unter der Brücke

hatten ein drittes beschädigt, eine Kettenreaktion, ein Gemenge

von Zufällen, wie am Schnürchen abgespult, denkt Rike,

wie am Schnürchen. Sie läuft mit Headphones, Headphones

for everyone whether you´re an avid runner, traveller,

DJ, or all 3, sie hört NPR auf FM Radio, sie hört die News zum Weihnachtstag, ein Bombenattentäter hat eine Maschine

der Delta Northwest Airlines mit dreihundert Personen in die Luft

zu jagen versucht, einen Airbus A330, aber es läuft an Bord

über Detroit nicht alles wie am Schnürchen, der Mann trägt eine

pudrige Substanz am Körper, aber der Zünder funktioniert

nicht, der Mann, vergangenes Frühjahr mit Einreiseverbot für

London belegt, wo er drei Jahre in der zwei Millionen

Pfund teuren Eigentumswohnung seines Vaters in Bloomsbury

gelebt hat, ein Nigerianer, dreiundzwanzig, Umar Faruk

Abdulmutallab, One way ticket, kein Gepäck, mit KLM erst

von Laos nach Amsterdam gereist, will den Sprengstoff

im Jemen in Empfang genommen und im Auftrag von Al Qaida

gehandelt haben.


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