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SCHULTER (LESEPROBE II)  


         

              Fritz Hirzel, Fossil. Roman. 234 Seiten. Zürich 1994.


Es konnte nicht kalt sein in einem Land, wo der Garten Eden lag

mit Schlangen, mit Vieh und Vögeln, mit Mann und Frau.

Und der Mann hing sich an die Frau. Sie waren beide nackt und

sie schämten sich nicht. Es war nicht sehr genau, was

Hengartner in Erinnerung hatte – aus seiner Schulzeit, aus der

Religionsstunde. Von Früchten, die an Bäumen hingen,

war die Rede gewesen, von Feigenblättern. Und von einem Strom,

der den Garten bewässerte, einem Strom, der zu Gold führte

und sich in Euphrat und Tigris teilte. Aber wo war das? Im Irak des

Saddam Hussein? Hengartner war ins Zimmer getreten,

hinter Astrid, die an ihrem Schreibtisch sass, einen ihrer Ordner

vor sich aufgeschlagen. Ein neues Fach? ein altes?

Hengartner umfasste Astrids Schulter. Er legte seine Hand

um ihren Nacken. Er fragte:

      „Machst du noch lang?“

      Langsam begann er Astrids Schulter zu streicheln, den

schönen, unbedeckten Hals, begann ihren Nacken zu massieren.

Astrid hatte das seidene türkisfarbene T-Shirt an, das ihre

Haut darunter so glatt, so geschmeidig machte.

      „Komm“, sagte Astrid leise, als wollte sie ihm etwas zeigen,

etwas aus ihrem Ordner. „Komm einmal.“

      „Das ist kein Leben“, sagte Hengartner.

      Er beugte sich zu Astrid hinab. Sie wandte ihren Kopf,

flüsterte ihm ins Ohr:

      „Hast du Lust?“

      Hengartner war erstaunt.

      „Hier?“, fragte er. „Zwischen den Ordnern, den Büchern?“

      Astrid lachte. Übermütig, hell. Aber ihr Blick war verschwiegen, geheimnisvoll. Sie hatte sich vom Schreibtisch abgewandt,

umfasste Hengartner am Oberkörper und zog ihn unaufhaltsam

mit sich zu Boden, in den Spannteppichflaum. „Ja. Hier.

Zwischen den Ordnern, den Büchern.“

      „Wo steckst du sie hin, all die Buchstaben, all die Sätze?“,

fragte Hengartner, verspielt, wie er seine Schwester gefragt

hatte, im Kinderzimmer, als er fünf oder sechs gewesen war, Myrta,

die drei Jahre älter war als er und  die alles verschlang,

was sie in die Hand bekommen konnte.

      „Ich hab alles im Kopf“, sagte Astrid.

      Genauso wie Hengartners Schwester gesagt hatte.

Er schob Astrids Seidenstoff zurück, streichelte ihren Bauchnabel,

küsste ihn. Genauso wie er im Kinderzimmer den Bauchnabel

seiner Schwester gestreichelt, geküsst hatte.

      „Im Kopf“, wiederholte Hengartner, ehe Astrid die Finger

ihrer Hand über seinen Brustkorb gleiten liess, einen Wirbel um

den andern, über die rippenglatten Stellen seiner Haut, mit

Gespür, mit Geschicklichkeit, als sei's eine Tonleiter, die sich von

selbst ergab, über die Tastatur hinunter bis zu seinem Bauch,

zu seinem Beckenknochen, bis Astrids Hand seine Scham erreichte, den behaarten Winkel seines Geschlechts, aus dem sein

Penis aufragte, den Astrid umspielte und in die Hand nahm, mit

ihren Fingern umfasste, so sorgfältig, so fein, so ohne Hast.

      „Er ist ja ganz gross.“ Die gespielte Verwunderung,

mit der Astrid das bemerkte. Sie sagte es eher zufrieden als irritiert,

als erkenne sie sich wieder, als fühlte sie sich bestätigt

in Hengartners aufragender Lust.


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