Joseph Goupy, The Charming Brute, späte 1740er. Der Franzose Goupy, seit 1711 in London, ist Händels Bühnenbildner und Freund,
ehe er diese Karikatur veröffentlicht. Sie zeigt Händel mit Schweinsgesicht auf einem Weinfass an der Hausorgel, an der
Geflügel und Schinken hängen. Dazu der Teufel selbst, der
ihm den Spiegel hinhält: I am myself alone.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück
DER EISBRECHER
Inmitten aller Beteiligter im Lincoln’s Inn
Fields Theatre mit seinen 1400 Zuschauern: Händel,
der Eisbrecher! Die leuchtend weisse Perücke
im Schein des halben Dutzends grosser, von der
Decke hängender Kerzenlüster.
Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.
Donnerstag, 22. November 1739
Musik erfasst im Flügelschlag des Jubels die Besucher,
als Händel im Lincoln’s Inn Fields Theatre die neue
Saison eröffnet, Musik, die auf der Bühne und im Kopf des Zuhörers entsteht, Musik, die verführt und süchtig macht, als das
schlanke, federnde Orchester die Stimmung der Besucher hebt,
über die der Blick von John Jacob Heidegger gleitet,
der einst als Veranstalter von Masqueraden Kasse gemacht hatte.
Verkauft hat der Impresario für den Abend 378
Logenplätze inkl. Bühnenlogen, 302 Plätze Parkett, 458 Plätze
Erster Rang, 65 Slips und 200 Plätze Oberer Rang.
Das Haus ist vollbepackt, vier, fünf Personen in jeder
der engen Logen, der Rang mit wunderbar kalkulierter Sicht zur
Bühne, kein unbesetzter Platz auf den Slips, die den Rang
beidseitig zur Bühne hin verlängern, welche tief ins Zentrum des Hauses vorgerückt ist, was eine unerwartete Intimität schafft,
indem es das Parkett verkleinert.
Seit sechs Uhr läuft die Aufführung, es ist grimmiger
Winter, es herrscht Krieg entlang der Meerwege des Empires, es musiziert Händel, sein Name steht in London für Musik,
George Friderick Händel.
Briefen aus Jamaica entnehmen wir, dass Commodore
Brown, nachdem er vom Krieg mit Spanien Nachricht erhalten
hatte, unverzüglich mit dem unter seinem Kommando
stehenden Kriegsschiff zu ungenannten, grossen Vorhaben
abgesegelt ist.
Besondere Vorkehrungen getroffen
Es ist Donnerstag, 22. November 1739, Heidegger liest
das in The London Daily Post, es ist die Spitzenmeldung. Die
Anzeige zu Händels Abend hat Heidegger mit dem
Zusatz ergänzt:
Es werden besondere Vorkehrungen getroffen um das
Haus warm zu halten, und die Passagen von den Fields
bis zum Haus werden zu Eurer Annehmlichkeit überdeckt sein.
Das sind mehr Drucklettern als fürs Konzertprogramm
selbst: Eine Ode von Dryden mit zwei neuen Concerti
für Instrumente, denen das Alexanderfest vorangeht, ebenso
ein Concerto auf der Orgel.
Alle sind sie gekommen, tausendvierhundert Besucher.
Lincoln’s Inn Fields ist ein grosses Theater, es hat mit
The Beggar’s Opera Triumphe erlebt, aber das ist lange her.
Das Haus hat seine besten Tage hinter sich. Zwar ist
es das höchstbewertete Grundstück an der Portugal Street, aber
es steht immer mal wieder leer und ist beim Publikum als
muffig, feucht, kalt und unangenehm bekannt.
Also streicht Heidegger bei der Werbung für den Abend
heraus, welcher Mühe er sich unterzogen hat, den Zuschauerraum
gut geheizt und den parkseitigen Zugang zu dem
Theatergebäude mit seiner Ziegelsteinfassade flott gemacht
zu haben.
Knallvoll wie früher die Oper
Lincoln’s Inn Fields lädt zum Musikfest, Covent Garden
zur Tragödie Jane Shore, Drury Lane zur Komödie Love for Love.
Die wollen, kündigt The London Daily Post an, Prince und
Princess of Wales sich ansehen.
Heidegger weiss, dass das nicht stimmt. Prince und
Princess of Wales sind bei Händel, nicht im Drury Lane bei
Love for Love, wie The London Daily Post
angekündigt hat.
Unter den Zuhörern im Lincoln’s Inn Fields sitzt Sir
Wyndham Knatchbull, ihn begleitet John Cocks, der Onkel von Katherine, seit neun Jahren Sir Wyndhams Ehefrau.
Katherine sitzt im ersten Obergeschoss ihres Hauses
am Golden Square, sie sitzt am Schreibkabinett vor einem
Brief an James Harris, ihren Halbbruder in Salisbury.
Sie schreibt:
Sir W. ging heute Abend zu Händels Musik.
Ich versiegle meinen Brief nicht bis zu seiner Rückkehr in der
Hoffnung, euch über den Applaus zu berichten. Sir W.
hörte die Probe, es ist sehr kriegerisch & fröhlich.
Und dann, spät, fährt sie fort:
Gerade eben kommt Sir W. zurück von der Musik im
Lincoln’s Inn mit dichtgedrängtem Publikum der ganzen feinen
Welt. Mr. Cocks & Sir W. sagen, es war knallvoll wie
früher die Oper.
Auch die Fürstinnen & der Herzog (ihre Königlichen
Hoheiten von Wales) waren da. Es gab viel Applaus,
ein martialisches Lied als Zugabe, und der Sängerknabe
sang die Lydian Measures überaus gut.
Jeder eine Fackel in der Hand
Händel, der Schillernde, der Umbesetzer, in allen
Wechselfällen zuhause. Bei der Wiederaufnahme von
Alexander’s Feast besetzt er im Arioso Softly sweet,
in Lydian Measures den Sopran mit einer Knabenstimme.
Helles, schmachtendes, vom Cellisten Andrea Caporale
untermaltes Versinken, in zwei Verszeilen erfüllt.
„Softly sweet, in Lydian measures, Soon he sooth’d his soul
to pleasures.“ Zärtlich sanft, in weicher Geste,
beruhigt bald sich seine Seele im Vergnügen.
Alexander der Grosse, der Feldherr. Er gibt ein Siegesgelage.
Er versinkt am Busen der schönen Athenerin Thais.
Die redet sich in Hass hinein, in Rache. Der Bass nimmt das
auf, Revenge, revenge, Timotheus cries heisst seine Arie.
„Revenge, revenge, Timotheus cries, See the furies arise,
See the snakes that they rear, How they hiss in their hair,
And the sparkles that flash from their eyes! Behold a ghastly
band, Each a torch in his hand! Those are Grecian ghosts,
that in battle were slain, And unbury'd, remain Inglorious
on the plain.“
Rache, Rache fordert Timotheus. Furien sieht er sich erheben
mit Schlangen, die den Kopf umzingeln, zuckende Blitze
in den Augen, ein Geisterzug, jeder eine Fackel in der Hand,
tote, in der Schlacht gefallene Griechen, unbeerdigt,
vergessen auf dem Feld.
Mit Trompetenfanfaren zu den Waffen
Ein martialisches Lied, aber eine Zugabe? Eher wird es
die Arie The Trumpet’s loud clangour aus der Ode for St. Cecilia's
Day gewesen sein.
„The Trumpet’s loud clangour Excites us to arms With shrill
notes of anger, And mortal alarms. The double, double,
double beat Of the thund’ring drum Cries, hark! the foes come;
Charge, charge! ‘tis too late to retreat.“
Mit Trompetenfanfare zu den Waffen gerufen, in Wut und
Erregung und Trommelgelärm. Zu spät, es gibt kein Zurück.
Das passt zum Krieg, den George II. Spanien erklärt hat.
Das hellt die Ungewissheit auf, die The Daily Gazetteer mit der Meldung von heute im Leser zurücklässt, der einen Sieg
erwartet: Die Schwadron von Admiral Vernon ist am 24. September nicht in Jamaica angekommen. In Madeira abgesegelt
war sie am 29. August.
Ein gutes Zeichen
Heidegger hat, als sein Blick über die Besucher gleitet,
ein Lächeln der Genugtuung um die Mundwinkel. Der Zürcher ist
nie weit weg, wenn Händel ein Theater bespielt.
Zwar heisst es, Lord Chesterfield hätte seine Wette
verloren, einen noch hässlicheren Londoner aufzutreiben, aber gewettet hatte er mit Heidegger selbst.
Nach intensiver Suche treibt Lord Chesterfield in St. Giles
eine Frau auf, deren Hässlichkeit der von Heidegger
nicht nachsteht. Als Heidegger jedoch ihre Haube aufsetzt,
müssen alle zugeben, dass er die Wette gewonnen hat.
Heidegger, der dreiundsiebzig ist, hält sich im Hintergrund.
Er ist Ungemach gewohnt. Letzte Saison ist er es gewesen,
der eine Wette verloren hat.
Hat er nicht als Manager im King’s Theatre Haymarket
mit Drohgebärde angekündigt Subskriptionen zu
sammeln, zweihundert à zwanzig Guineas, und das in zwei
Wochen, sonst sage er die Saison ab?
Aufgerufen zur Subskription hat Heidegger am 24.
Mai 1738, die Frist läuft am 5. Juni ab, am Vorabend der letzten Vorstellung der laufenden Saison.
Sie hat den Spitznamen The pig
Zwölf Tage nach Ablauf der Frist, am 17. Juni, ist Anna
Maria Strada del Pò, Händels Primadonna, verheiratet mit dem Geschäftsmann Aurelio del Pò, aus London abgereist.
Die Strada ist keine Schönheit, aber die einzige gewesen,
die Händel die Treue gehalten hat, als seine Sänger 1734 zur Konkurrenz übergelaufen sind, und Händel mit einem
überwiegend jungen, exzellenten Ensemble bei John Rich im
Covent Garden Theatre neu angefangen hat.
Sie hat den Spitznamen The pig, eine sehr schöne
Sopranstimme und seit ihrer Ankunft in London Geschick und
Ausdauer bewiesen.
Nach ihren Rollen der Partenope und der Cleofide in
Poro hat Händel für die Strada noch die Angelica in Orlando,
die Ginevra in Ariodante und die Titelrolle der Alcina
geschrieben.
Am 26. Juli hat Heidegger die Saison abgesagt und
gezeichnete Subskriptionen zurückzuzahlen angefangen. Da ist
der heutige Abend Heidegger hoch willkommen, ein gutes
Zeichen wahhaftig.
Der Welt etwas Perfekteres bieten
Der 22. November ist St. Cecilia’s Day, im Lincoln’s Inn
Fields Theatre gibt Händel ein Fest der Musik, er will die Stadt mit Musik feiern, Celebrating the City with Musick, doch unter
Stadt versteht Händel vor allem, dass er Berufsmusiker um sich hat.
Hauptwerk des Abends ist die Ode for St. Cecilia's Day,
eigens dazu komponiert, ihr schickt Händel als Wiederaufnahme
das Alexanderfest voraus, Alexander's Feast, or,
The Power of Musick.
Das Alexanderfest ist seit der Uraufführung vor drei
Jahren ein wirklicher Erfolg. Gerade ist John Walsh dabei
eine Neuausgabe der Partitur vorzulegen, mit den
Rezitativen, Songs, Symphonien und Chören, erstmals mit
Your voice tune, einem zusätzlichen Chor.
Die Neuausgabe löst die Kurzfassung ab, The Favourite
Songs in Alexander’s Feast, die Ouvertüre und neun
Songs, gedruckt nach den Platten der kompletten, 1738
publizierten Partitur.
Im Vorwort zu seinem Libretto sagt Newburgh Hamilton:
Es ist unwahrscheinlich, der Welt in diesen Künsten
etwas Perfekteres bieten zu können als die vereinigten
Bemühungen und äussersten Anstrengungen
eines Dryden und eines Händel.
Fingerkuppen, fein wie Knospen einer Blume
Das Libretto beider Werke ist bei J. und R. Tonson,
Strand, zu haben, zwanzig Seiten, ein Shilling, wie gewohnt
in blauem Umschlag, unter dem Titel Alexander’s Feast,
or, The Power of Musick. An Ode. Written in Honour of St. Cecilia,
And a Song for St. Cecilia’s Day. Both written by Mr.
Dryden. And Set to Musick by Mr. Handel.
Das Alexanderfest beginnt mit dem Rezitativ ‘T was at
the Royal Feast, gefolgt von Arie und Chor Happy, happy,
drauf folgt das Rezitativ Timotheus, plac’d on high,
drauf das neue Concerto für Instrumente.
Inmitten aller Beteiligter im Lincoln’s Inn Fields Theatre:
Händel, der Eisbrecher! Die leuchtend weisse Perücke im
Schein des halben Dutzends grosser, von der Decke
hängender Kerzenlüster.
Er hat sie jetzt beide vertont, die zwei Gedichte,
die John Dryden vor einem Jahrhundert der Schutzpatronin
der Musik gewidmet hat, Alexanderfest und Ode, er
spielt Orgel und Cembalo, das die Engländer Harpsichord
nennen, und leitet, wenn er seine Pranken nicht
über die Tasten bewegt, zugleich Sänger, Chor und Orchester,
aber es sind nicht die Pranken, es sind die Fingerkuppen,
in denen der Klang liegt, mit ihnen spielt er, und sie sind fein
wie die Knospen einer Blume, er spielt, wie er atmet,
natürlich, fliessend, voll Wärme, und wenn er spielt, ist alles
an Händel schön, er ist ein bemerkenswerter Melodiker,
er hat Würde, Jugend und aussergewöhnliche Frische, aber was
die Zuhörer am meisten berührt, ist die menschliche
Wahrheit seiner Musik.
Ob sie die Trompete hören hoch oben
Alles spielt auf der Bühne, auf sie blickt aus dem oberen
Rang ein Liebespaar herab, einander zärtlich zugewandt, sie entzückend zurechtgemacht, im Licht der Kerze, die er
ihr hält, während sie im Textbuch der Ode das Tenorrezitativ
When nature underneath a heap Of jarring atoms lay liest.
Mag die Natur unter einem Haufen dissonanter Atome
liegen, hell, erlösend schwingt der Chor sich auf, himmlisch
setzt die Sopranarie ein. What passion cannot Musick
raise and quell.
An der Rampe steht und singt Elizabeth Duparc, genannt
La Francesina, verlockend, betörend, unopernhaft nah. Welche Leidenschaft ruft nicht Musik hervor und klärt sie!
Das Finale, der Chor. Welche Umarmung!
Eine Vision. The trumpet shall be heard on high. Doch ob
sie die Trompete hören hoch oben, und Tote leben,
die Lebenden sterben, und Musik den Himmel einstimmt,
unter den Zuhörern gibt es einige, die mit mehr
Aufmerksamkeit zuhören bei den Concerti grossi und beim Pausenfüller, bei dem Händel Orgel spielt und
improvisiert. Wundervoll.
Den Eröffnungsabend der Saison hat er mit Alexanderfest
aufgemacht. Erster Akt: Rezitativ, Arie, Chor, Rezitativ. Drauf das
erste neue Concerto für Instrumente. Drauf Rezitativ, Chor,
Arie, Rezitativ, Arie, Chor, Rezitativ, Arie, Rezitativ, Chor, Rezitativ, Arie, Chor, Arie, Chor. Erste Pause.
Vize-Admiral Vernon wirds richten
Im Foyer zwei ältere Gentlemen, die sich über das Gedränge
aufhalten. „Too crowded and too much noise”, sagt einer. Und sein Begleiter erwidert: „And so many legs.”
Hinter ihnen eine Lady, die zur andern sagt: „Vize-Admiral
Vernon? Ist er nicht drauf aus Walpole zu stürzen?”
Ein Beau, der eine Begleiterin mit hochgestecktem Haar an
seiner Seite hat: „Krieg? Dass ich nicht lache! Ein
Spaziergang, die ganze Expedition.”
Gegenüber an der Wand sagt ein junger Schnösel:
„In vier Wochen hauen wir sie weg, die Spanier. Oder in drei.”
Ein Mann mit schönen Augen, von zwei Frauen begleitet:
„Er ist auf seiner grand tour, auf dem Kontinent, in Paris, in Venedig.”
Eine Schönheit inmitten einer Menschentraube:
„Sagt er zu mir: Walpole, um seine Macht gebracht, besucht
eine Masquerade, verkleidet, er kommt als alte Frau!”
Eine andere, mit russischem Akzent: „Sie glaubt, sie ist die schönste Frau der Welt, sie glaubt, sie ist es. Dabei hat er seit drei
Wochen eine andere.”
Ein nervöser Mann, den zwei Frauen an die Wand drücken: „Commodore Brown? Ach, was! Vize-Admiral Vernon,
er wird’s richten!” Eine Lady: „Stellt euch den Skandal vor: Eine
Wilde! Aus den Kolonien!”
Zwei Dicke. Sie: „Ich, ich, ich, sagt sie zu ihm. Viel, viel, viel.”
Er: „Sowas von Gier, sowas von Geldsack, nicht auszudenken.”
Eine junge Blondine: „Er hat nichts mit ihr gehabt, nein, nein.
Er ist vom anderen Ufer.”
Stimmen zum Abend
Aber Heidegger hat ein Ohr, mit dem er die Stimmen
zum Abend und nur die interessieren ihn zielsicher aus dem
Gewirr herausfiltert.
Hinter seinem Rücken sagt Lady N.: „Wir haben einen
Cousin meines Mannes und seine Frau mitgebracht, die das Wochenende bei uns zu Gast sind. Sie sind schon mal
im Lincoln’s Inn Fields gewesen, aber sie halten die Intimität,
die Energie, die Emotion und den Enthusiasmus
für schwer erträglich. Da haben wir wieder mal gesehen, wie
privilegiert wir sind – und wie traurig und puristisch
eine Menge von Leuten sind! Wir werden sie bestimmt nicht wieder einladen. Wir haben sehr viele Freunde, die gerne mitkommen.”
Heidegger dreht ab, sieht einen jungen Mann.
„Und wenn ihr”, sagt der junge Mann, „von Zeit zu Zeit
herumblickt und jemanden mit einem leichten Lächeln seht...
Ihre Berührtheit trägt zu eurer Freude, eurem Vergnügen
bei. Jedenfalls ist das bei mir so. Ich geniesse das wirklich. Das ist lieblich. Es ist ein feines Gefühl.”
Er redet mit Ebelin, Händels Kopisten, doch den erkennt
Heidegger nicht, der ein paar Schritte schlendert und glaubt,
er macht das unauffällig.
Aber Ebelin, der sein Enkel sein könnte, hat Heidegger
längst im Blick. Der Vater hat die Moraltheologie in Zürich
eingeführt, der Sohn die Masqueraden in London!
Brüche wie diesen liebt Ebelin.
Er kann gar nicht anders als Heidegger hinterherblicken,
so unauffällig auffällig bewegt er sich, bleibt stehen
und stellt sich, indem er vorgibt in seinen Taschen zu nesteln,
neben eine Gruppe von Besuchern, in der eine rotblonde Enddreissigerin sagt:
„Es ist ein Ereignis, die Atmosphäre, der Zugang...
La Francesina ist eine wundervolle Darstellerin auf der Bühne.
Und da ist diese spezielle Art von Gefühlen zwischen
Publikum und Darstellerin, die das Ganze speziell macht
und aufregend.”
Christmas Cake, aus Eis gemacht
Und dann geht Heidegger in raschen Schritten vor das
Theater hinaus, wo ein Mann, der ein wirklich dünner Mann ist,
zu seiner Frau und einem anderen Paar sagt:
„Es ist echt spannend, sie etwas spielen zu hören,
was wir ausgewählt haben, denn ich hatte eine ziemliche
Auswahl. Also das ist schon ein Hammer, wisst ihr.”
Heidegger hebt den Blick zum Nachthimmel, als hätte
er etwas Luft schnappen wollen, dann dreht er sich auf dem
Absatz um und geht, indem er einige Bekannte winkend
grüsst, durch die Menge hindurch zurück ins Foyer.
Neben ihm sagt eine dicke Frau zu ihrem Begleiter:
„Grossartig für eine Feier, aber wenn ich’s zu oft hören müsste,
wär’s wie ein Christmas Cake, der nur aus Eis gemacht ist.”
Und hinten in der Ecke, wo ein elegantes, junges
Liebespaar vor dem grossen, verzierten Spiegel steht, sagt er
zu ihr: „Es ist schon sehr abwechslungsreich, es hat
ein paar überraschende Einfälle – die Leute wollen ja nicht
nur ihre populären Favoriten hören. Wir sind alle ein
offenherzigeres Publikum geworden.”
Und dann, die Besucher beginnen bereits sich wieder
auf ihre Plätze zu begeben, sieht Heidegger auf der Treppe diese erfolgreiche Autorin, deren Namen ihm entfallen ist, die
zu ihrem Verehrer (oder ist’s ihr Verleger?) sagt: „Jede Menge wunderbarer Musik, aber nicht dasselbe Entdeckergefühl,
das ihr bei einer Uraufführung habt.”
Und zuletzt, Heidegger geht an den Logen vorbei, sagt
Lord K. zu der kleinen, ihn umstehenden Gesellschaft: „Ein Gefühl
des miteinander geteilten Feierns, als wären wir auf einer
Reise gewesen, und jetzt sind wir überrascht, dass wir soweit gekommen sind – weil wir feststellen, dass wir
so wunderbare Erfahrungen miteinander geteilt haben.”
Verspätete Abrechnung
Es folgt das Concerto für Orgel und andere Instrumente,
bei dem Händel improvisiert, drauf Alexanderfest, Zweiter Akt: Rezitativ, Chor, Rezitativ, Arie, Rezitativ, Arie, wieder Arie,
Chor, Rezitativ, grosser Chor, At last divine Cecilia came, Arie,
Duett, und der Chor Let old Timotheus yield the prize.
Zweite Pause.
Endlich kann Heidegger die verspätete Abrechnung der
Kasse vom Bühneneingang entgegennehmen. Logen ausverkauft.
Das sieht gut aus, sehr gut. Heidegger lässt sich Zeit.
Die Pause nähert sich dem Ende, er weiss, was folgt, er ist
gespannt, wie das Programm auf der Bühne ankommt,
denn jetzt folgt, eine Uraufführung, das zweite neue Concerto
für Instrumente. Und dann, der Abend ist ordentlich
fortgeschritten, A Song for St. Cecilia’s Day. Die Uraufführung. Rezitativ, Chor, sechs Arien in Folge, Rezitativ,
grosser Chor. Finis.
Einen Song, nicht eine Ode, genau wie Dryden, nennt
Händel seine Neuheit, doch ob Song oder Ode, die komplette gedruckte Partitur, dreiundzwanzig Seiten, fügt beides
zusammen und verdoppelt es im Titel: The Songs in the Ode
wrote by Mr. Dryden for St. Cecilia’s Day. Set by Mr. Handel.
Printed and sold by J. Walsh.
Ein Bild schmückt den Titel. Zudem verzeichnet die
Erstausgabe der Partitur die Sänger.
Signora Francesina singt What Passion Cannot Musick
raise and quell, adagio, Violoncello solo, andante, piano. Sie
singt The soft complaining Flute, Traversflöte und Violine,
mezzopiano, andante. Sie singt But oh what Art can Teach,
larghetto e mezzopiano. Sie singt Orpheus could lead
the savage Race, alla Hornpipe, pianissimo.
Und Mr. Beard singt The Trumpet’s loud Clangor, Trompete,
Trommel, Oboe, erste Violine, Viola, Tutti. Er singt Sharp Violins proclaim their jealous Pangs and Desperation, allegro.
Sehen, wie er sich bedient
Wiegende Lautmalerei, üppige Farbigkeit. Die Partitur,
das ist der Originalhandschrift zu entnehmen, hat Händel
zwischen dem 15. und dem 24. September 1739
geschrieben. In neun Tagen. Das ist knapp selbst für diesen
raschen Komponierer fast unvorstellbar knapp.
Es sei denn, wir blicken Händel über die Schulter und
sehen, wie er sich bedient bei Gottlieb Muffat, und das nicht
zu knapp. Dessen Cembalosuiten sind gerade
erschienen, möglicherweise hat Muffat selbst Händel ein
Exemplar zugestellt, auch Händel hat an Muffat
schon Kopien zweier eigener Werke schicken lassen.
Aber es ist nicht so, dass Händel bei den Componimenti
musicali einfach bloss Anleihen macht, nein, er kopiert
und variiert, er verbreitert und verbessert, er bringt Fragmente verschiedener Stücke zusammen, er stellt sie in einen
Zusammenhang, in dem sie auch hätten komponiert sein können.
Händel versucht auch nicht seine Anleihen zu verbergen,
es liegt kein Stigma auf ihnen. Sein Librettist Charles Jennens
weiss um die Methoden, frohlockend schreibt er an
Edward Holdsworth, der ihn gerade mit Musik aus dem Ausland versorgt hat: Ein Dutzend der Stücke hat Händel
ausgeliehen und ich ertappe ihn bestimmt beim Diebstahl aus
ihnen, wie ich ihn früher bei Scarlatti & Vinci ertappt hab.
Halb Bibel, halb Sir Isaac Newton
Ein mit Musikbegleitung vorgetragenes Gedicht,
das ist die Ode bei Händel wie bei den alten Griechen. Von
beiden Oden ist Händels neue die kürzere, in ihr
stellt er die einzelnen Instrumente vor, jedes bekommt einen
Soloauftritt wie in Drydens Gedicht.
Es beginnt mit den Violinen, die sich heftig mit den Bässen
anlegen, bis beide aufeinander eingestimmt sind und
sich versöhnen wie Atome, die von selbst zur Ordnung finden,
was der Chor eigens betont. „From harmony, from
heaven’ly harmony This universal frame began.” Aus Harmonie,
aus himmlischer Harmonie ist das Universum erschaffen,
aus Musik mit anderen Worten.
Halb Bibel, halb Sir Isaac Newton ist das, halb Genesis,
halb moderne Physik, aber es ist ein wuchtiges Klangbild. Das musikalische Material kommt in diesem Fall von Muffat,
aber Händel hat es zwei verschiedenen Stücken entnommen.
Abstand hat ihn nie geschreckt
Als er A Song for St. Cecilia's Day vertont, ist er vierundfünfzig,
das Gedicht hat Dryden 1687 verfasst, ein Mittfünfziger
auch er damals. Da war Händel gerade mal zwei Jahre alt und
noch in der Geburtsstadt Halle.
Der Abstand, the gap. Er hat Händel nie geschreckt.
Der Zeitsprung ist für Händel früh erprobte Praxis, gehört wie seine Reisen zur Lebenslinie dazu. Musik ist Kommunikation, grenzüberschreitend, gerade auch mit und im Orchester.
Jede Stimme ein Instrument, jedes Instrument eine Stimme. Angefangen mit der Violine, der Sopranstimme der
Streichinstrumente. Zwei Violinen, ein Violoncello? Macht ein Concertino a tre. Alles ist möglich. Das kleinste Orchester,
das grösste. Das ist extrem gross.
The Norwich Gazette beschreibt so ein Orchester
1727: Gestern war die Probe zur Krönungshymne in der
Westminster Abbey, in Musik gesetzt durch den
berühmten Mr. Hendall.
Es waren 40 Vokalisten und etwa 160 Violinen, Trompeten,
Oboen, Kesselpauken und Bässe in proportionalem
Verhältnis nebst einer Orgel, die hinter dem Altar errichtet
worden war. Sowohl die Musik als auch die Ausführenden
fanden die Bewunderung des gesamten Publikums.
Die Partitur ist sein Tagebuch
Händel musiziert, denkt Ebelin, mit kleinstem wie grösstem
Orchester. Ebelin ist zurück auf dem Rang, wo er der
Aufführung am Rand stehend beiwohnt. Händel geht es darum,
die Zuhörer zu erreichen und zu bewegen.
Orgel, Cembalo, Geige, die spielt Händel selbst. Wenn es
sein muss, singt er auch, singt vor auf der Probe.
Briefe hält Händel gern in schnarrender Floskelhaftigkeit, in
gestochen regelmässiger Handschrift.
Was zählt, ist die Musik, die Partitur. Sie ist sein Tagebuch,
und was das Leben festhält, ist der Fluss der Noten, ergänzt
um die eine oder andere Randnotiz, die mehr ist als die Datierung,
die Anfang und Ende einer Werkniederschrift markiert.
Musik ist Leben, aber plötzlich zweifelt Ebelin. Es ist Krieg.
Und die Musik ist sein Tambourmajor. Leben ist Tausch,
Exchange heisst Handel, aber was für ein Tausch? Ebelin lacht
beim Gedanken.
Die Ouvertüre im Song for St. Cecilia’s Day überzeugt
Händel, er übernimmt sie gleich in die sechs Concerti grossi,
die er anschliessend zu Papier bringt.
Vor einem Monat hat Händel sie fertiggestellt, in einem Zug
komponiert zwischen dem 29. September und dem 30.
Oktober 1739, nicht auf Vorrat auch sie, er bringt die Concerti
grossi diesen Winter im Lincoln’s Inn Fields Theatre
heraus, er benutzt sie als Einlagen, Ouvertüren, Zwischenaktmusiken, es wird jedes Mal ein sehr langer Abend.
Tausendachthundert Kerzen in drei Minuten
Der Schleicher! Das ist das Wort, das Ebelin gesucht hat.
Das Wort, das Heidegger in seinem auffällig unauffälligen Gang
erfasst. In der Tropfsteinhöhle der Erinnerung sieht
Ebelin den Swiss Count funkeln.
Heidegger kommt vier Jahre vor Händel nach London,
er kommt in einer inzwischen vergessenen Angelegenheit als Unterhändler, er scheitert. Also tritt er, der Privatmann,
bei den Guards ein, bespielt das King’s Theatre Haymarket
für die fashionable world mit Masqueraden und
verwandelt Westminster Hall zur Krönung von George II.
1727 in ein Lichtspektakel.
Tausendachthundert Kerzen, in drei Minuten entzündet!
Heidegger verwendet einen brennbaren, von Kerze
zu Kerze springenden Anzünder, und als Bahnen von Flachs
entzündet werden, Flammen von Kerze zu Kerze springen,
und erlöschender Flachs in grossen Flocken auf die Köpfe der
darunter Stehenden fällt, wobei zum Glück niemand
verletzt wird, versetzt er die Queen und ihre Ladies in no small
terror, wie Thomas Gray berichtet.
Aber dann packt Ebelin der Tempo- und Affektwechsel
der Musik, hellwach, mit hinreissender Virtuosiät in Tempo und Verzierungen. Begeistert springen die Besucher am Ende
von den Sitzen. Lange bleibt Ebelin stehen. Erst, als der Applaus verhallt ist, die Menge sich zerstreut hat, kommt auch er
die Treppe vom Rang herunter, und im inzwischen geleerten
Foyer läuft ihm kein anderer als Heidegger selbst
in die Quere.
Er kommt aus der Herrentoilette, er ist in Eile, er ist an
Ebelin halb schon vorbei, vor allem, er kennt ihn wirklich nicht.
„Mr. Heidegger, gratuliere zum Saisonauftakt”, ruft
Ebelin im Umdrehen hinter ihm her. Und tatsächlich bleibt
Heidegger für einen Augenblick stehen, lächelt
geschmeichelt und sagt: „Eine wahre Geld- und Herzensfreude, ja.”