Passagiere des Glücks weiter zurück
DER BLINDE FLECK
Lachen schüttelt. Lachen erschüttert. Aber löst Lachen auf, was blind macht? Zertrümmert Lachen, was gefangen hält? Ist Lachen ein Schutz? Etwas wie ein Schutzengel, der die Tür zum Notausgang aufreisst?
Fritz Hirzel, Passagiere des Glücks. Wem Lachen auf
die Sprünge hilft. Essay. 140 Seiten. Berlin 2004
„Können Sie mir sagen, wo ich bin?”, fragt er auf der Strasse
in Manhattan einen Passanten. Der erklärt ihm: „Sie sind
Eighth Avenue, 23d Street.” Der Betrunkene winkt ab: „Nur die
Stadt, nur die Stadt!” Dem Mann swingt zur Happy hour
die ganze Welt. Was soll er sich mit dem Detail beschäftigen?
Das Detail ist sein blinder Fleck. „Mehr als alles andere
bewahrt das Lachen uns einen Sinn für Proportionen”, hat Virginia
Woolf in The Value of Laughter 1905 geschrieben. Die
Fähigkeit zum Lachen hat aber nur, wer sich nicht täuschen,
wer sich nicht einwickeln lässt.
„Um über eine Person zu lachen, musst du fähig sein,
um damit anzufangen, sie als das zu sehen, was sie ist.” Eine
Fähigkeit, die sie Kindern zuschreibt, Kindern und Frauen:
„A surer power of knowing men for what they are.” Sie lachen,
weil sie Männer als das erkennen, was sie sind.
Der blinde Fleck. Frauen erkennen ihn an Männern,
wenn sie lachen. Das ist die Fähigkeit, auf die Virginia Woolf sie
hinweist, der letzte, plötzliche, kleine Durchblick. Verleiht
er Frauen die Macht, die Lachen erst ermöglicht? Lachen schüttelt. Lachen erschüttert.
Aber löst Lachen auf, was blind macht? Zertrümmert Lachen,
was gefangen hält? Ist Lachen ein Schutz? Etwas wie
ein Schutzengel, der die Tür zum Notausgang aufreisst? Kommt
Lachen zur rechten Zeit, zur falschen? Gibt es ein Lachen,
das zu spät kommt?
Die Eitelkeiten des anderen Geschlechts
Das Thema des Lachens nimmt Virginia Woolf dann 1929
noch einmal auf, in A Room of One’s Own, ihrem Essay über die
Bedingungen weiblicher Kreativität. Ihre Feststellung
über die Männer lässt sie in das intime, verschwörerische
Gespräch mit einer fiktiven Autorin einfliessen, deren
erfundenen Roman sie gerade liest.
Der Roman heisst Life’s Adventure, die Autorin nennt
sie Mary Carmichael. Es ist dieses Abenteuer des Lebens, für
das sie ihrer Autorin nahelegt über den blinden Fleck
bei den Männern zu lachen.
„Und dann”, schreibt Virginia Woolf, „ging ich daran,
und zwar sehr vorsichtig, auf den äussersten Zehenspitzen
(so furchtsam bin ich, so in Angst vor dem Peitschenhieb,
der einmal fast meine eigene Schulter getroffen hatte), ihr leise
zu sagen, dass sie auch lernen sollte, ohne Bitterkeit
über die Eitelkeiten – sagen wir lieber über die Eigentümlichkeiten,
denn das ist ein weniger kränkendes Wort – des anderen
Geschlechts zu lachen.“
„Denn es gibt einen Fleck von der Grösse eines Shillings
am Hinterkopf, den man an sich selbst niemals sehen
kann. Es ist einer der guten Dienste, den das eine Geschlecht
dem anderen erweisen kann – diesen Fleck von
der Grösse eines Shillings am Hinterkopf zu beschreiben.”
Es schärft den Reiz dieser Aussage, wenn wir hinzufügen,
dass der Essay auf einem Vortrag basiert, den Virgina
Woolf vor weiblichem Publikum in Cambridge gehalten hat.
Die Studentinnen der Girton Literary Society hatten
sie eingeladen, an den Frauencolleges Newnham und Girton
zwei Vorträge über Frauen und Literatur zu halten.
Virgina Woolf war Ende Oktober 1928 in Begleitung von
Vita Sackville-West nach Cambridge gefahren.
Übernachtet hatten sie im Lion’s Hotel.
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